EINE FRAU IN BERLIN

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30.9.2003

Anonyma: "Eine Frau in Berlin. Tagebuchaufzeichnungen vom 20. April bis 22. Juni 1945", Eichborn, Frankfurt am Main 2003

taz Nr. 7170 vom 30.9.2003, Seite 14, 144 Zeilen (Kommentar)

RENÉE ZUCKER

Erfahrung einer Generation

"Eine Frau in Berlin" erschüttert die Leser, weil sie an kollektiv Verdrängtes lakonisch erinnert. Nur das zählt

Ja, ich gestehe, ich gehöre auch zu jenen "gutwilligen Leichtgläubigen", die "Eine Frau in Berlin" für das Buch des Jahres hielten (taz, 13. 5. 2003). Die atemlos Seite für Seite umschlugen und nicht wussten, was ungeheuerlicher war: das beschriebene Grauen selbst oder der scheinbar unbeteiligte Ton, mit dem Anonyma über wiederholte Vergewaltigungen berichtete. Seitdem Jens Bisky in der Süddeutschen Zeitung vergangenen Mittwoch verlegerische und herausgeberische Unsauberkeiten, ja vermutlich gar Lügen über die Entstehung des Textes "Eine Frau in Berlin" bemängelt hat, beschäftigt sich das Feuilleton wie weiland bei Haffner mit der Frage von Authentizität und Fälschung.

Man kann die Fragen, die Bisky aufwirft, wichtig finden - was an diesem Text ist tatsächlich echt und von wem, und wie viel wurde nachträglich und vorsätzlich von Kurt Marek bearbeitet; wann hat die "anonyme" Autorin auf wessen Anregung hin und mit wessen Hilfe die Fassung für die Übersetzung ins Amerikanische erstellt, und ist sie identisch mit der 1959 abgedruckten deutschen? Was passierte mit früheren Fassungen? Und als was soll man dieses Buch lesen, welche Ansprüche hat es? Sachbuch, Zeitgeschichte oder Pamphlet? Als zeitgeschichtliches Dokument ist es für Bisky wertlos, es sei lediglich ein Dokument für die Umtriebigkeit seines Verlages. Nun, es soll einem Autor nichts Schlimmeres widerfahren sein, als von einem umtriebigen Verlag betreut zu werden. Und was die Genre-Zuordnung angeht, verliert sie sich nicht sowieso in den Weiten der subjektiven Lesart, wenn sie sich erst einmal in den Händen von "gutwilligen Leichtgläubigen", also Lesern befindet?

Kann es uns nicht egal sein, welche Fassung wir in den Händen halten, wenn uns der Text beeindruckt. Nein, wir sind ja auch an Wahrheit interessiert und an nichts weniger als an Authentizität. Was fandst du denn überhaupt so toll an diesem Text?, fragte mich eine Freundin, die meine Begeisterung von Anbeginn an nicht teilte - und da musste ich noch mal ganz scharf nachdenken. Ich erinnere mich an die Faszination, die ich angesichts des Tons entwickelte, eine Faszination, die mir selbst fast unheimlich schien,wenn ich daran dachte, worum es da eigentlich ging. Ja, aber gerade der Ton sei doch abstoßend gefühlskalt gewesen, wendet die Freundin ein, und es werde nicht klar, ob durch die Umstände betäubt oder in dem Sinne wie ehemalige Nazissen nur Mitgefühl mit dem geschundenen Deutschland entwickeln können, Selbstmitleid also.

Ja, genauso hatte ich es auch teilweise empfunden - aber dieser Ton geht über die Nazi-Bösartigkeit hinaus, es ist die Banalität des gewöhnlichen Bösen, des vielleicht sogar noch nicht mal nur deutschen Bösen, wenngleich wir es hier am besten orten und bestimmen können. Es ist die Stimme, die man auch bei Marlene Dietrich hören kann, wenn sie mit Maximilian Schell über ihr Leben spricht; es ist der Ton, den ich von meiner eigenen Mutter kenne und von Frauen ihrer Generation - und war und ist diese Generation nicht auch kühl und anästhesiert? Dieses ständige Aussparen, das angebliche Nichtwissen oder Nichterinnern. Diese betonte Unsentimentalität. Das Grobe und Abrupte. Der Ton ist so deutsch, wie es deutscher kaum geht, und was das angeht, ist Berlin schon immer das Deutscheste gewesen. Insofern würde ich "Eine Frau in Berlin", von wem auch immer sie unter welchen Umständen auch immer geschrieben wurde, immer wieder verteidigen wollen: als einen Text, der mich erschüttert und beeindruckt hat über das hinaus, was er beschreibt - und der mir die Erfahrung einer Generation sehr deutlich gezeigt hat, die ich in dieser Klarheit vorher nicht gesehen habe.

Die Auseinandersetzung über Anonyma geht über das Buch hinaus. Es hat etwas mit dem Recht auf subjektive Erfahrung zu tun, mit Kriterien wie Wahrheit, Verlässlichkeit und Lauterkeit. Also: mit Betrug am leichtgläubigen Kunden - ich sehe das alles ein. Dennoch schiebt sich mir immer ein Satz von Robert Anton Wilson in dieses Einsehen: Der Erleuchtung ist es egal, wie du sie erlangst. Mir ist die Fragilität und Zwiespältigkeit dieses Mottos durchaus bewusst."

 

 

24-9-2003

Wenn Jungen Weltgeschichte spielen, haben Mädchen stumme Rollen

 Wer war die Anonyma in Berlin? Frauen, Fakten und Fiktionen – Anmerkungen zu einem großen Bucherfolg dieses Sommers

Zu den größten Bucherfolgen dieses Sommers gehört das Buch der Anonyma „Eine Frau in Berlin. Tagebuch-Aufzeichnungen vom 20. April bis zum 22. Juni 1945“ (Eichborn Verlag). Zehntausende lasen den Zeugnisbericht der Unbekannten. Seit achtzehn Wochen behauptet er einen Platz auf der Bestsellerliste des Spiegel. „Eine Frau in Berlin“ ist durchweg positiv, oft euphorisch besprochen worden (SZ vom 10. Juni). Das Buch ist ein gut inszeniertes Rätsel. Wir wissen nicht, wer es geschrieben hat, wird dürfen es nie erfahren und sollen doch glauben, dass es sich um ein authentisches Zeugnis handelt: den Bericht einer deutschen Frau über Luftschutzkeller, Hunger und Vergewaltigungen durch marodierende Rotarmisten.

Das Buch über den Frühling der Befreiung im russisch besetzten Berlin erschien erstmals 1954 auf englisch, wurde in den USA, in England, Italien, Dänemark, Schweden, Norwegen, den Niederlanden, Spanien und Japan verkauft, bevor im Jahr 1959 eine deutsche Ausgabe auf den Markt kam. Dann war „Eine Frau in Berlin“ lange Zeit verschollen. Nun hat der Bericht in der von Hans Magnus Enzensberger herausgegebenen „Anderen Bibliothek“ eine triumphale Rückkehr erlebt.

Der Leser findet hier alle Zutaten der Zeugnisliteratur, das spezifische Aroma eines document humain. „Eine Frau in Berlin“ will als zeithistorisches Dokument gelesen werden, zwingt uns, dies auf Treu und Glauben zu tun, verlangt, dass wird die Aura des Authentischen für den Beweis der Echtheit nehmen. Verlag und Herausgeber tun alles, uns in dieser Lesehaltung zu belassen. Dabei ist das Buch als zeithistorisches Dokument wertlos. Es ist bisher in erster Linie ein Dokument für die Umtriebigkeit seiner Herausgeber.

Die erste, die amerikanische Ausgabe aus dem Jahr 1954 wurde herausgegeben von Kurt W. Marek (1915-1972), einem Autor, dessen Spezialität es war, Tagebücher zu montieren und umzuschreiben, Zeugnisse zu literarisieren. Es waren gewiss nicht ausschließlich edle Motive, die Marek veranlassten, das Manuskript einem New Yorker Verleger zu übergeben. Im eigens für die Ausgabe bei Harcourt Brace & Company verfassten Nachwort lässt Marek keinen Zweifel am propagandistischen Charakter des Unternehmens. Kurz nach dem Ende des Korea-Krieges legte er ein Buch vor, dass erzählt, wie die „rote Apokalypse“ über Berlin kam und zugleich das Bild bußfertiger Deutscher zeichnet. Der deutsche Kommunist, der im Buch auftritt, trägt alle Züge einer Karrikatur, des Unmännlichen, Verschlagenen.

Die überaus schlampige Ausgabe des Eichborn-Verlags arbeitet weiter an der Verrätselung der Textgeschichte. Wer hat die Vorbemerkung verfasst? In Mareks Nachwort, das hier „erstmals in deutscher Originalfassung“ erscheint, heißt es „immer wieder dieses VG = Vergewaltigung“. In den Tagebuch-Aufzeichnungen erklärt die Verfasserin, sie habe die Abkürzung „Schdg.“ = Schändung benutzt. Die Abweichung ist ein Anzeichen für die Existenz verschiedener Fassungen. Welche haben wir vor uns?

Glauben wir der Vorbemerkung, dann hat die Unbekannte von April bis Juni 1945 drei Schulhefte voll geschrieben, diese anschließend auf der Schreibmaschine abgetippt, „für einen Menschen, der ihr nahestand“. Es wurden „121 engzeilige Maschinenseiten“.

Die Aufzeichnungen beginnen drehbuchreif: „Ja, der Krieg rollt auf Berlin zu. Was gestern noch fernes Murren war, ist heute Dauergetrommel. Man atmet Geschützlärm ein.“ Schreibt so, wer einem engen Freund sich erklären will? Es handele sich, behauptet das Nachwort, „um ein Dokument“, „nicht um ein literarisches Erzeugnis, bei dessen Verfertigung der Autor mit einem Auge auf ein Publikum blickt“. Von bewährten literarischen Verfahren der Spannungserzeugung und Figurencharakterisierung, von allem, was geeignet ist, den Eindruck wahren Lebens hervorzurufen, wird im Buch allerdings reichlich Gebrauch gemacht. Wer hat es geschrieben? Hat es die unbekannte Frau in Berlin überhaupt gegeben oder ist sie eine literarische Figur?

„Es war der Wunsch der Verfasserin, daß ihr Name ungenannt bleibt. Schon aus diesem Grunde verbieten sich Spekulationen über ihre Identität“, steht warnend auf dem Schutzumschlag der Neuausgabe. Am 14. Juni 2003 hat der verantwortliche Herausgeber Hans Magnus Enzensberger im „Hessischen Rundfunk“ dennoch Mutmaßungen angestellt: „Wenn ich eine Vermutung wagen darf: Ich glaube, es muss vielleicht jemand sein, der überwintert hat in der Nazi-Zeit irgendwo doch im Medienbereich. Ich stelle mir jemand vor, der schon 1930 seine ersten Sachen veröffentlicht hat und dann vielleicht in einem Modejournal überwintert hat.“

Was die Unbekannte vor anderen vergewaltigten Frauen auszeichnet, lässt sich nach Lektüre des Buches genauer sagen: Sie war 1945 Anfang dreißig, sie kannte Kurt W. Marek bereits vor Kriegsausbruch, sie ist viel gereist, war in der Sowjetunion, wo sie Russisch lernte, sie sprach Französisch, besaß noch ein Notizheft aus ihrer Pariser Zeit. Ihr Vater wurde 1916 einberufen, im Juni 1945 wurde sie in das Verlagsprojekt eines Ungarn hineingezogen. Wer ist die Unbekannte, die sich als „Kopfarbeiter zweiter Garnitur“ charakterisiert?

Es hat unter den Bekannten Kurt W. Mareks eine Frau gegeben, auf die ein Großteil dieser Charakteristika passt. Ein Brief von Frau S. aus München führte uns auf ihre Spur. Die Unbekannte hat – ehrgeizig, zäh und entschlossen – ein erstaunlich selbstbestimmtes Leben geführt, in vielem typisch für ihre Generation. Marta Hillers wurde am 26. Mai 1911 als Tochter des Betriebsleiters Johannes Hillers und seiner Frau Petronella in Krefeld geboren. Als sie fünf Jahre alt war, 1916, fiel ihr Vater bei Verdun. Die allein stehende Mutter hatte drei Kinder großzuziehen.

Nach den Angaben in einem Anfang 1935 verfassten Lebenslauf erhielt Marta Hillers nach dem Besuch der Grundschule eine Freistelle auf einem Lyzeum in Krefeld. Von 1925 bis 1930 besuchte sie das Realgymnasium, „Untertertia bis Oberprima“. Einen Beruf erlernte sie zunächst nicht, arbeitete nach dem Abgang vom Gymnasium in Krefelder und Düsseldorfer Firmenbüros.

In jungen Jahren, heißt es im Tagebuch, sei die rote Fahne ihr „so leuchtend“ erschienen. In der Tat hatte Marta Hillers früh schon den katholischen Glauben ihrer Eltern abgelegt, bezeichnete sich selber als „Dissident“ oder, wie ein Mitarbeiter der Reichsschrifttumskammer notierte, „gottgläubig“. Von September 1931 bis Mai 1933 ging sie auf Reisen. Im Lebenslauf heißt es dazu lapidar: „Auslandsreisen nach Polen, Georgien, Armenien, Russland, Türkei, Griechenland, Sizilien, Italien – dabei fotografische Tätigkeit für europäische und amerikanische Blätter.“ In diesen Jahren hat sie Russisch gelernt. War sie Kommunistin?

Als sie um Aufnahme in den Reichsverband Deutscher Schriftsteller ersuchte, bürgte für sie Max Barthel (1893-1975). Barthel war das Musterbild eines Arbeiterschriftstellers, Sohn eines Maurers, Spartakuskämpfer und einer der ersten Mitglieder der gerade gegründeten Kommunistischen Partei Deutschlands, die er 1923 wieder verließ. Er hatte Sowjetrussland ausgiebig bereits, die Jugendinternationale mitgegründet. In dem Buch „Kämpfende Menschheit“, das Jugendweihlingen übergeben wurde, ist Barthel auch 1930 noch vertreten. Max Barthel wurde einer der prominentesten Überläufer von rot zu braun. Er arbeitete für das von Goebbels gegründete Blatt „Angriff“ , später als Schriftleiter der „Büchergilde Gutenberg“, die der Deutschen Arbeitsfront eingegliedert war. Wegen „Unzuverlässigkeit“ aus dem Verlag entlassen, verdiente Barthel seinen Lebensunterhalt als Journalist, unter anderem für die Deutsche Arbeitsfront, für die auch Marta Hillers kurze Zeit tätig werden sollte.

Von ihren Reisen ist Marta Hillers nicht direkt nach Deutschland zurückgekehrt. Von Mai 1933 bis Juli 1934 studierte sie „Historik und Kunsthistorik an der Sorbonne“ in Paris. Im Sommer 1934 ging sie heim ins Reich, zunächst für einen „Ferienaufenthalt in Süddeutschland“. Dann zog sie nach Berlin und begann dort ihre Karriere als freie Journalistin, schrieb Artikel, Reportagen, Erzählendes für den Berliner Lokal-Anzeiger, die Nachtausgabe, für Zeitschriften und Provinzzeitungen.

Sie wohnte zunächst in der Wohnung ihres Vetters Hans Wolfgang Hillers (1901-1952), Berliner Straße 2 in Tempelhof, dem Teil Berlins, in dem sie all die Jahre wohnen wird. Die Nachtausgabe wie die Berliner Straße werden auf der ersten Seite der Tagebuch-Aufzeichnungen erwähnt. Hans Wolfgang Hillers, zu dem sie eine innige Beziehung gehabt haben soll, ist vor allem als Bühnen- und Film-Autor bekannt geworden. Er schrieb das Drehbuch zum Ufa-Film „Germanin. Die Geschichte einer kolonialen Tat“, im Mai 1943 uraufgeführt und mit den Prädikaten „künstlerisch wertvoll“, „staatspolitisch wertvoll“ versehen. Spätestens mit Hans Wolfgang Hillers trat auch Kurt W. Marek ins Leben unserer Unbekannten. Hillers bürgte, als Marek Mitglied des Reichsverbands Deutscher Schriftsteller werden wollte, für diesen. Wenig später bürgte Kurt W. Marek für Marta Hillers.

Kurz nachdem Marta zu Hans Wolfgang Hillers gezogen war, erschienen aus dessen Feder „60 Thesen gegen das Elend der Literatur in Deutschland“: „Freunde! Kameraden! Hört! Verlaßt die Schreibtische! Verlaßt die Stuben! Verlaßt die Lesesäle der Bibliotheken! Geht auf die Straße! Seht! Ein Volk ist geworden! Ein Volk ist aufgebrochen! Ein Volk ist unterwegs.“ Rot oder braun? Es ging um Bewegung.

Marta Hillers hatte diesen Ratschlag nicht nötig, sie war ohnehin gern on the road. Vom 11. bis zum 15. Dezember 1934 veröffentlichte der „Berliner Lokal-Anzeiger“ in Fortsetzungen die Reportage „Heimat Landstraße. Zwei Mädel mit Fernfahrern unterwegs. Von Trude Sand und Marta Hillers.“

Trude Sand war damals bei der Union, Deutsche Verlagsgesellschaft tätig. Ihr Werk über „Leben, Treiben, Taten und Abenteuer der Jungen und Mädel im Landjahr“ trug den unvergesslichen Titel „Zickezacke Landjahr Heil“ und erschien 1935 in vierter Auflage.

Bevor die beiden Mädel zur Fahrt aufbrechen, erfahren sie auf einem Parkplatz in Berlin SO einiges über die Geschichte der deutschen Fernfahrerei: „Eigentlich ist der Versailler Vertrag schuld. Er nahm Deutschland so viele Waggons, dass die Reichsbahn zunächst den Güterverkehr nicht mehr bewältigen konnte. Da half sich die Industrie selber, kaufte aus Heeresbeständen Lastwagen auf und ließ sie mit Gütern laufen.“ Mit zwei Fernfahrern durchreisen Trude und Marta das Land, singen, sitzen in Kneipen, hören Geschichten, greifen, wenn es not tut, zur Nadel. Einmal fällt ihnen ein Goethe-Vers ein: „. . . weiche Nebel trinken / Rings die türmende Ferne . . .“

Die Reportage verbindet zwanglos alt und neu, modernen Transport, Naturgefühl, Brauchtum und Wirtschaftsleben. Es geht aufwärts. Geschildert wird das frische Lebensgefühl der Volksgemeinschaft. Aus der Reportage wurde später ein Hörspiel, „Wikinger der Landstraße“ von Marta Hillers und Kurt W. Marek.

Im Dezember 1935, zehn Tage vor Weihnachten, schilderte Marta Hillers für die Morgenausgabe den Zusammenhang von „Kinderspiel und Weltgeschichte“, erklärte, warum der kleine Wolf und seine Kameraden „Nürburgrennen“ und „Geländeübung“ spielen, die zahmen Spiele aus den „Jahren der Reaktion“ verachten und sich zu Weihnachten eine „Reichsautobahn“ wünschen. „Ueberläßt man aber die Jungen sich selber, so bricht der Hordentrieb durch. Jungen müssen in ihren Spielen längst versunkene Menschheitsepochen neu erleben. Da toben sich in zeitgeschichtlicher Verkleidung Atavismen aus . . . Wenn Jungen Weltgeschichte spielen, haben Mädchen allenfalls stumme Rollen.“

Es ist diese Vorstellung von Männlichkeit, deren Zusammenbruch auf deutscher Seite wie deren Bestätigung auf russischer in den Tagebuch-Aufzeichnungen reflektiert wird. NS-Propaganda, die in der deutschen Frau die Kriegsgefährtin des Mannes entdeckte, hatte dem zweifelsohne vorgearbeitet.

Marta Hillers hat auch für die Neue Gartenlaube und die Berliner Hausfrau geschrieben, aber keinesfalls „in einem Modejournal überwintert“ (Enzensberger). Von Februar 1940 bis zum März 1941 erledigte sie, nach eigenen Angaben, Büroarbeiten im Verlag der Deutschen Arbeitsfront. Ab dem 1. April 1941 war sie im „Hilf-Mit-Werk“ tätig, schrieb Artikel und Abhandlungen für Broschüren und Lehrschaubögen zur Erziehung der deutschen Jugend. Hilf mit hieß die Schülerzeitschrift des NS-Lehrerbundes. Worin die Arbeit von Marta Hillers bestand, kann man an einer Broschüre sehen, die das Oberkommando der Kriegsmarine den deutschen Schulen widmete. Es ist ein Bildbericht über den „Hilf-mit!-Wettbewerb der deutschen Jugend“ im Jahr 1940/41. Er trug den Titel „Seefahrt ist not!“, diente der Werbung von Nachwuchs für die Marine, der „wehrgeistigen Erziehung“. Die Textbearbeitung dieser Broschüre lag in den Händen von Marta Hillers.

Dankbar scheint sie jeden Auftrag angenommen zu haben. 1938 pries sie in einer Broschüre die Zellwolle, einen Ersatzstoff, dessen Herstellung dem Ziel der Selbstversorgung des Dritten Reiches diente. In seinen Tagebüchern erzählt Viktor Klemperer, einen Witz über die Zellwolle: „,Ich wünsche einen Anzug, in den Motten kommen.‘ – ? – ,Na ja, in die üblichen Stoffe kommen jetzt Holzwürmer.‘“ Marta Hillers lobt die Mottenresistenz der Zellwollstoffe ganz unironisch.

In die NSDAP ist Marta Hillers wahrscheinlich nie eingetreten. In einem Fragebogen gab sie an, seit Februar 1938 Mitglied der Jugendgruppe der NS-Frauenschaft gewesen zu sein. Als die Amerikaner sie 1948 befragten, bestritt sie diese, ohnehin bedeutungslose Mitgliedschaft.

Besaß sie, während sie über Zellwolle, Kriegsmarine, Reichsautobahn schrieb, als eine Art Kleinpropagandistin des Dritten Reiches tätig war, bereits jene innere Distanz zum Nationalsozialismus, die im Tagebuch den Ton bestimmt? Ich weiß es nicht. Sie wird wohl wie die meisten hier und da genörgelt, aber den Aktivismus, die Modernität, das Gemeinschaftsgefühl begrüßt haben. Im Buch „Eine Frau in Berlin“ wird berichtet, dass die Unbekannte der Welt der frühen dreißiger Jahre ablehnend gegenüberstand. Dieselben Gründe, die das junge Mädchen nach Moskau führten, dürften sie zur guten Bürgerin des Dritten Reiches gemacht haben.

Nach der Erinnerung von Frau S., die Marta Hillers gut kannte, den Frühling 1945 ebenfalls in Berlin erlebte und über ein glänzendes Gedächtnis verfügt, war Marta groß und sehr schlank. Wer ist Gerd gewesen, der Freund der Frau in Berlin? Eng befreundet war Marta Hillers mit Robert A. Stemmle, einem einflussreichen Mann im NS-Filmwesen. Er führte Regie für „Charleys Tante“ und verfasste das Drehbuch zu „Quax der Bruchpilot“. An Liebesbeziehungen der Hillers kann sich Frau S. nicht erinnern, sie vermutet, dass hinter Gerd sich Hans Wolfgang Hillers verbirgt.

Der Ungar auf jeden Fall, von dessen Verlagsprojekten im Tagebuch erzählt wird, sei ein Zypriote gewesen. In der Tat finden wir Marta Hillers nach Kriegsende bald wieder in einer Zeitschrift zum Wohle der Jugend beschäftigt.

Die erste Nummer der „Illustrierten Jugendzeitschrift“ Ins Neue Leben erschien im Oktober 1945 und kostete 25 Pfennige. Herausgegeben wurde sie im Minerva-Verlag. Die Zeitschrift wie das Verlags-Programm dienten der Umerziehung, der Lebensbewältigung. Gorki und Jack London wurden in den Heften der Zeitschrift ebenso abgedruckt wie Höflichkeitsfloskeln des Englischen oder ein Bericht über verfemte, verfolgte Künstler. Trude Sand berichtete über Kindertheater in München.

„Ein Blick in die Werkstatt unseres Körpers“, im Heft Nr. 3, November 1945 veröffentlicht, ist mit „M.H.“ gezeichnet, möglicherweise ein Kürzel der Hillers. War sie verantwortlich für das russische Alphabet, das im März 1946 den Jungen und Mädchen die Schrift der Besatzer verständlich machen sollte? Namentlich zeichnete sie etwa einen Prozessbericht: Vor dem Militärgericht Berlin-Lichterfelde waren Kinder wegen Diebstahls angeklagt worden: „Von Herzen hoffen wir, daß die Jungen, die hier vor dem Richter standen, den Weg zurück in ein ehrliches Leben finden. . . . Keiner soll mit dem Finger auf sie deuten; und kommen sie später in die Schule, in die Werkstatt zurück, so sollen sie an uns hilfreiche Kameraden finden.“

Im August 1948 wurde Marta Hillers „Chefredakteur“ der Zeitschrift, die bald darauf mit den Schwierigkeiten der Blockade zu kämpfen hatte. Ihre journalistische Arbeit gab sie auf, als sie in den fünfziger Jahren einen Eidgenossen heiratete und in die Schweiz übersiedelte. Den Kontakt zu Marek und seiner Frau Hannelore, die heute die Rechte am Buch besitzt, hielt sie aufrecht. In der Schweiz ist Marta Hillers im Juni 2001 gestorben.

Wer hat eine „Frau in Berlin“ geschrieben, dieses Buch, das Marta Hillers offenkundig viel verdankt? Es handelt sich um ein literarisches Sachbuch, herausgegeben von dem Autor, der das Genre des literarischen Sachbuchs in Deutschland durchgesetzt hat. Mit einem „mitreißenden Bericht nach Tagebuchaufzeichnungen“ ist Kurt W. Marek in die Literaturgeschichte des Dritten Reiches eingegangen. 1938 eingezogen und bald als Kriegsberichterstatter an vielen Schauplätzen des „großdeutschen Freiheitskampfes“ eingesetzt, legte er 1941 den nach Tagebuchaufzeichnungen verfassten Bericht „Wir hielten Narvik“ vor. Erzählt wird von Berliner Flak-Artilleristen, die mit der Gebirgsjägerdivison des Generalleutnants Dietl das norwegische Narvik besetzten, also halfen, die Raubzüge der Volksgemeinschaft zu sichern. Im Bericht hat Marek „die Namen fast aller Personen“ verändert, „ihre Charaktere zum Teil vertauscht, zum Teil erfunden“. In fast den gleichen Worten werden die Änderungen des Tagebuches der Anonyma in der Vorbemerkung beschrieben.

Mareks Erfolg als Sachbuchautor beruhte auf seiner Fähigkeit, Gehörtes und Gelesenes zu einer eingängigen Geschichte zusammenzufassen. Er hat dies auch in seinem bekanntesten Werk getan, dem „Roman der Archäologie“, den er als C. W. Ceram erstmals 1949 veröffentlichte. „Götter, Gräber und Gelehrte“ wurde so häufig verkauft, dass Marek, um Steuern zu sparen, 1954 in die USA übersiedelte. Im gleichen Jahr gab er dort „A Woman in Berlin“ heraus. Um seine Position auf dem amerikanischen Buchmarkt zu festigen, kam ihm ein Buch wie dieses, menschlich anrührend, propagandistisch wertvoll, gerade recht.

Auf Deutsch und weitgehend erfolglos erschienen die Tagebuch-Aufzeichnungen – ohne Angabe eines Herausgebers oder Rechteinhabers – erstmals 1959 bei Helmut Kossodo, Genf und Frankfurt am Main. Mareks Nachwort fehlt, dafür gibt es eine Vorbemerkung. Diese ist mit Änderungen in die Erfolgsausgabe des Jahres 2003 übernommen worden. 1959 hieß es, die Autorin habe ihr Tagebuch, die drei Schulhefte, im „Juli und August 1945“ auf Schreibmaschine abgeschrieben. 2003 steht da nur noch „ab Juli 1945“. Die einst klare Angabe zur Textgeschichte ist vage geworden. Wie lange saß die Unbekannte an der Schreibmaschine? „Dabei wurden aus Stichworten Sätze. Angedeutetes wurde verdeutlicht, Erinnertes eingefügt“, kurz: so etwas wie der Urtext erstellt. Ob er in zwei Monaten oder während eines längeren Zeitraums entstand, ist keineswegs gleichgültig. War der Text vor oder nach der Blockade Berlins fertig?

Der Haupttext, heißt es in der Eichborn-Ausgabe, „folgt, mit einigen Korrekturen, der deutschen Erstausgabe.“ 1959 steht da: „Einer weist auf die Möbel ringsum (Schietkram) und findet darin überlegene Kultur.“ „Schietkram“ sagt man in Berlin selten. Wer wie Marek mehrere Jahre in Hamburg gearbeitet hat, greift wohl selbstverständlicher zu diesem Wort. In der Eichborn-Ausgabe des Jahres 2003 fehlt es ganz: „Einer weist auf die Möbel ringsum (Stil 1800) und findet darin überlegene Kultur.“

Es gibt im Text einige Randbemerkungen, später Hinzugefügtes. Derlei erhöht auf suggestive Weise die Plausibilität, macht deutlich, dass wir es mit einem „Dokument“ zu tun haben: „Wochen später an den Rand gekritzelt, zur Verwendung für Romanautoren“. In der deutschen Erstausgabe war die Angabe präziser: „Drei Wochen später an den Rand gekritzelt . . .“ Offenkundig ändert sich die Entstehungsgeschichte dieses Dokuments im Lauf der Jahre. Wer hat die Druckfassung 1959, wer 2003 redigiert? Von wem stammt welche Formulierung? Wo sind die „drei Schulhefte“ heute? Drei Schulhefte, 121 Schreibmaschinenseiten, die Druckvorlage der Erstausgabe – wie viele Fassungen gibt es noch?

Es ist möglich, dass die Druckvorlage von Marta Hillers stammt. Es ist möglich, dass sie Marek Papiere übergab, und dieser daraus ein Buch machte. Denkbar ist auch, dass Marek ein Manuskript der Hillers gründlich überarbeitet hat. Der zuständige Lektor, Rainer Wieland, will keine Auskunft darüber geben, wie der Verlag die Echtheit des Dokuments überprüft hat. Es gelte, die Anonymität der Unbekannten zu wahren.

Die Eichborn-Ausgabe präsentiert auch einen anderen Schluss als die deutsche Erstausgabe. Ein Absatz wurde gestrichen, in dem es um die Textgeschichte geht. „Eines noch will ich tun. Ich hab mir von der Witwe die Schreibmaschine ausgeliehen. Darauf schreibe ich meine Tagebuchhefte sauber ab, auf Papier, das ich in der Dachwohnung fand. Schön langsam, wie es die Kräfte zulassen. Schön deutlich und ohne Abkürzungen wie ,Schdg.‘ Gerd soll es lesen, wenn er zurückkehrt.“

Wo ist das Typoskript? Wer hat in ihm rumgestrichen? Marta Hillers vor ihrem Tod? Ein Eichborn-Mitarbeiter? Was ist dokumentarisch belegt an diesem Dokument? Die Tagebuch-Aufzeichnungen geben sich engagiert, sie appellieren an unser moralisches Urteilsvermögen, verlangen, dass wir unsere historischen Urteile überprüfen. Das können wir aber vernünftig erst tun, wenn wir die Fassungen des Textes, seine Entstehungsgeschichte kennen und wissen, wer was geschrieben hat. Dies ist ein literarischer Fall, wenigstens so brisant wie der von Jakob Littner und Wolfgang Koeppen.

Warum spekuliert Enzensberger über die Verfasserin, wenn keiner erfahren soll, wer es war? Solange das Buch in so nachlässiger Edition verkauft und als historisches Zeugnis vermarktet wird, profitieren Verlag und Herausgeber schamlos von der gutwilligen Leichtgläubigkeit der Leser. Diese haben ein Recht zu erfahren, wie es wirklich war mit diesem Buch.

 

JENS BISKY

 

N Z Z  Online

1. Oktober 2003, 02:09, Neue Zürcher Zeitung

Verdächtigung ohne Beleg

Streit um «Eine Frau in Berlin»

 

Ein Bucherfolg ist ins Gerede gekommen. «Eine Frau in Berlin», der als «Tagebuch-Aufzeichnungen vom 20. April bis zum 22. Juni 1945» annoncierte Bericht über die letzten Wochen des Zweiten Weltkrieges, galt der Kritik einhellig als grossartiges Zeugnis. Dies auch deswegen, weil er - aus leibhafter Nähe - die Massenvergewaltigungen der Roten Armee thematisierte (NZZ 20. 8. 03). Vergangene Woche aber insinuierte der Redaktor Jens Bisky in der «Süddeutschen Zeitung», dass Kurt W. Marek alias C. W. Ceram, Autor des Bestsellers «Götter, Gräber und Gelehrte», der sich 1954 um eine erste amerikanische Buchausgabe des Berliner Tagebuchs gekümmert hatte, den Text mitgeformt und ihm in eigener, bewährter Manier das Gepräge eines literarischen Sachbuches gegeben habe. Zugleich lüftete Bisky das Inkognito der Autorin, einer aus Krefeld gebürtigen Journalistin, die es in ihrer beruflichen Laufbahn von einer umtriebigen Reporterin bis zur Chefredaktorin einer Illustrierten gebracht hat und deren Wunsch als Vergewaltigungsopfer es gewesen war, dass ihre Autorschaft auch über den Tod hinaus im Dunkeln bleibt.

Zur Enthüllung der Identität der Anonyma mag man sagen, was man will. Hans Magnus Enzensberger, der Herausgeber des Textes in der «Anderen Bibliothek» des Eichborn-Verlages, findet sie «ekelhaft». Gustav Seibt, fester Autor der «Süddeutschen», ist seinem Kollegen Bisky zur Seite gesprungen. Sein zentrales Argument lautet: Um nicht zum Gegenstand «einer vulgären Schauerästhetik» zu werden, müsse die Anonyma ein individuelles Gesicht erhalten. Sicherlich sind ihre Lebensumstände aufschlussreich, zeigen sie doch, dass wir es mit einer professionellen Autorin zu tun haben. Welchen Erkenntnisgewinn allerdings die explizite Nennung des Namens bieten soll, erläutert Seibt nicht.

Es bleiben Fragen nach dem philologischen Ethos. Sie treffen beide Parteien. Hätte Hans Magnus Enzensberger, wenn er schon nicht selber alle vorhandenen Textstufen von «Eine Frau in Berlin» abgleicht, dafür sorgen müssen, dass sie zumindest dem Lektor vorliegen: angefangen bei den drei handschriftlichen Kladden über das Typoskript bis zur deutschen Erstausgabe von 1959, die, mit Korrekturen versehen, dem Eichborn-Verlag als Druckvorlage diente? Man kann, sofern man Misstrauen für Pflicht hält, diese Frage bejahen.

Die Rechtfertigungsnöte der Gegenseite aber sind ungleich grösser. Bevor jemand Spekulationen über die Natur der Textgenese von «Eine Frau in Berlin» verbreitet, sollte er wenigstens Kurt Mareks Witwe Hannelore, die literarische Nachlassverwalterin der Anonyma, befragen. Doch Fehlanzeige. Da urteilt Jens Bisky apodiktisch, das Buch der Anonyma sei «als zeithistorisches Dokument wertlos», ohne überhaupt den Versuch unternommen zu haben, Einblick in die originalen Textgrundlagen zu erhalten. Und Gustav Seibt schreibt, Kurt Marek habe den Text der Anonyma «erst für eine amerikanische, dann für eine deutsche Ausgabe bearbeitet. . . . Wir wissen bisher nur, dass es Schulhefte mit Stichworten gegeben haben soll, die mit Schreibmaschine in einen fortlaufenden Text übertragen und danach von Marek für die Publikation redigiert wurden.»

Wie kommt er darauf? Hannelore Marek gibt andere Auskünfte. Danach besteht die handschriftliche Urfassung keineswegs aus «Stichworten», sondern ist durchformuliert. Ihr Mann habe sich darauf beschränkt, die Autorin zur Publikation zu ermuntern, das Typoskript einem Verlag zuzuleiten und ein Vorwort zu verfassen. Er sei weder Herausgeber noch Lektor gewesen, und «bearbeitet» oder «redigiert» habe er die Aufzeichnungen erst recht nicht. Die zurzeit notariell verwahrten Urschriften sollen, das stellt Frau Marek in Aussicht, zu einem noch nicht näher bestimmten Zeitpunkt einem Archiv übergeben werden und dort Wissenschaftern zugänglich sein. Dann mag man prüfen, was übrig bleibt von den Suggestionen der «Süddeutschen Zeitung», das Buch der Anonyma könne «Dokufiction» Marek'scher Machart sein. Bisher fehlen die Belege, die eine seriöse journalistische Recherche von böser Nachrede unterscheiden würden.

Joachim Güntner

 

 

Text: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25.09.2003, Nr. 223 / Seite 42
 

Literatur
Eine Frau in Berlin
Von Felicitas von Lovenberg
 
24. September 2003 Als im Frühsommer "Eine Frau in Berlin", das "Tagebuch einer Unbekannten", in der Anderen Bibliothek im Eichborn Verlag erschien, ernteten die erschütternden Aufzeichnungen der Wochen vom 20. April bis 22. Juni 1945 rühmende Rezensionen (F.A.Z. vom 21. Juni). Die lakonische Chronik schildert Bombenalarm, Hunger, Zwangsarbeit, Selbstmorde und, bedrückend häufig, Vergewaltigungen der Autorin und anderer Frauen durch plündernde Rotarmisten.

Alles, was für das Verständnis des Buchs erforderlich ist, wird dem Leser im Vor- und Nachwort mitgeteilt: Die Autorin habe ihre Eindrücke der Schreckenszeit, notiert in Schulheften und auf Zetteln, unmittelbar danach beim Abtippen auf der Schreibmaschine ausformuliert, wohl auch um nachträgliche Beobachtungen und Gedanken ergänzt. Kurt W. Marek, der als C. W. Ceram mit seinem Archäologie-Bestseller "Götter, Gräber und Gelehrte" (1949) bekannt wurde, überredete die Anonyma zur Veröffentlichung. 1954 erschien "A Woman in Berlin" zunächst in den Vereinigten Staaten. Der Schweizer Verlag Kossodo brachte 1959 eine erste deutsche Ausgabe heraus. Später stimmte die Autorin einer erneuten deutschen Publikation zu, allerdings unter der Bedingung, daß diese erst nach ihrem Tod erfolgen dürfe, ihre Änderungswünsche berücksichtigen und ihre Anonymität weiterhin bewahren müsse. Diese Auflagen haben Mareks Witwe Hannelore, die siebenundsiebzigjährig in Hamburg lebt und die Buchrechte innehat, sowie Hans Magnus Enzensberger, Herausgeber der Anderen Bibliothek, respektiert.

Nicht „wertlos“

In einem Artikel in der "Süddeutschen Zeitung" glaubt nun Jens Bisky die Anonyma identifiziert zu haben, wobei weder der von ihm genannte Name noch der dazugehörige Lebenslauf zu jener Neubewertung des Werks führt, um die es ihm offenbar zu tun ist: Das Buch sei "als zeitgeschichtliches Dokument wertlos". Der Artikel insinuiert, das "Tagebuch" sei eine Fälschung oder segle jedenfalls unter falscher Flagge; Marek selbst habe wahrscheinlich aus den Aufzeichnungen erst "ein Buch gemacht". Wäre das Tagebuch tatsächlich erst Jahre später aus der Erinnerung geschrieben, wäre der Verdacht des Etikettenschwindels begründet, weil seine Authentizität geheuchelt wäre.

Solche Zweifel lassen sich jedoch leicht ausräumen, spricht man mit Hannelore Marek, die die Verfasserin und die Publikationsgeschichte der "Frau in Berlin" bestens kennt und sich wie Enzensberger weigert, ihre Identität zu lüften. Über alles, was mit deren Auflagen nicht in Konflikt gerät, hat sie dieser Zeitung jedoch bereitwillig Auskunft erteilt, so daß Biskys anklägerische Fragen leicht beantwortet werden können. "Wo sind die drei Schulhefte heute?" Die Originale, ein Heft und eine dickere, leinengebundene Kladde, befinden sich in notarieller Verwahrung und sollen eines Tages der Forschung in einem Archiv zugänglich gemacht werden.

"Wer hat darin herumgestrichen?" Niemand hat in den Aufzeichnungen herumgestrichen. Die Verfasserin hat ihre Korrekturen in einem Exemplar der deutschsprachigen Ausgabe von 1959 vermerkt. Es handelt sich dabei zumeist um Verbesserungen von Orthographie und Grammatik sowie minimale stilistische Korrekturen. Das beantwortet auch Biskys nächste Frage: "Drei Schulhefte, 121 Schreibmaschinenseiten, die Druckvorlage der Erstausgabe - wie viele Fassungen gibt es noch?" Nur eine: das jetzige Buch, an dessen Rang als Dokument von eminentem historischem und literarischen Wert kein Zweifel besteht.
 

 

DER SPIEGEL 40/2003 - 29. September 2003

Enzensberger und die Anonyma
 
"Verdeckte Ermittlungen von Schnüfflern"

Hans Magnus Enzensberger, Herausgeber des Anonyma-Buches "Eine Frau in Berlin", über den Streit um die Offenlegung der Identität der Autorin.

SPIEGEL: Was sagen Sie dazu, dass Jens Bisky in der "Süddeutschen Zeitung" per Indizienbeweis Marta Hillers als Autorin von "Eine Frau in Berlin" outet?

Enzensberger: Selbst die "Bild"-Zeitung würde vermutlich das Gesicht einer vergewaltigten Frau unkenntlich machen. So viel Schonung kann einem Enthüllungsjournalisten wie Bisky nicht in den Sinn kommen. Er hält es für sein Recht, Namen und Adresse dieser Frau ausfindig zu machen und bekannt zu geben. Wer das für schamlos hält, dem wirft Bisky Schamlosigkeit vor. Das ist seine Sache. Ich fürchte nur, dass er mit seiner Haltung allein dasteht.

SPIEGEL: Wird aber eine solche Indiskretion nicht zwangsläufig provoziert, wenn Erlebnisberichte von dieser Brisanz anonym erscheinen?

Enzensberger: Umgekehrt wird ein Schuh daraus. Die Autorin wusste sehr wohl, warum sie anonym bleiben wollte. Sie wollte sich weitere Demütigungen ersparen wie diejenigen, die ihr nun nach ihrem Tod zugemutet werden. Ihr damaliger Lebensgefährte, dem sie den Text zu lesen gab, wollte nach der Lektüre nichts mehr mit ihr zu tun haben, und nach der Erstveröffentlichung des Buchs warf man ihr vor, die Ehre der deutschen Frau beschmutzt zu haben. Deshalb wollte sie einer Neuauflage zu Lebzeiten nicht zustimmen. Das war, wie sich zeigt, eine kluge Entscheidung.

SPIEGEL: Wussten Sie, wer die Autorin ist?

Enzensberger: Nein. Ein Herausgeber, der sich über den erklärten Wunsch einer Autorin, ihre Anonymität zu wahren, hinwegsetzt, sollte sich eine andere Arbeit suchen. Verdeckte Ermittlungen überlasse ich Schnüfflern.

SPIEGEL: Haben Sie, als Herausgeber der "Anderen Bibliothek", die Original-Typoskripte oder gar die ursprünglichen Manuskripte des Textes eingesehen? Wäre das nicht Ihre Pflicht gewesen?

Enzensberger: Alle Rechte an dem Bericht "Eine Frau in Berlin" liegen in den Händen von Frau Hannelore Marek, die, ebenso wie ihr verstorbener Ehemann Kurt W. Marek, mit der Verfasserin befreundet war. Frau Marek hat mir die Druckvorlage zur Publikation in der "Anderen Bibliothek" zur Verfügung gestellt; sie hat mir versichert, dass alle Textänderungen gegenüber der Schweizer Erstausgabe von 1959 von der Autorin autorisiert worden sind. Es fällt mir nicht ein, an Frau Mareks Zeugnis zu zweifeln.

SPIEGEL: Dass Kurt Marek den Text seiner Freundin redigiert haben könnte, wird schon lange vermutet und wäre normal. Aber Bisky suggeriert, dass der Text möglicherweise nicht authentisch ist.

Enzensberger: Ich glaube kaum, dass es Bisky gelingen wird, mit seinen Enthüllungen und Verdächtigungen einer Autorin zu schaden, deren Mut ich ebenso bewundere wie ihren Stil. Zu viele Leute haben inzwischen ihr Buch gelesen und bemerkt, dass es für sich selbst spricht.

 

Frankfurter Rundschau

21-12-2003

Das Prinzip Aussitzen

Trotz ihres Erfolgs bleibt die Edition der "Anonyma" dubios

VON URSULA MÄRZ

In einer Szene des dreistündigen Dokumentarfilms von Helke Sander Befreier und Befreite berichtet eine ältere Berlinerin, selbst Opfer von Vergewaltigung, vom Martyrium einer Frau, die im Frühsommer 1945 von russischen Soldaten vergewaltigt wurde, 28 Mal in einer Nacht. Ein Geschehen, das den Realitätszugang der Vorstellungskraft so überwältigt und überfordert, dass es sich auf der Grenze zur Abstraktheit, zur Schimäre, ja schlimmer: zur Kuriosität des Grauens bewegt. Jenseits dieser Grenze aber wird Reales zum Irrealen. Die Regisseurin ist bei allen Gesprächen und Interviews, die sie 1991 in Berlin und Minsk führte, als Befragende mit im Bild. Die Frage, die sie der Berlinerin stellt, wirkt im ersten Moment seltsam gefühllos, unangenehm bürokratisch, beinahe polizeimäßig ermittlerisch: "Wer hat mitgezählt?" Wo kommt die Zahl 28 her? Wo oder wer ist ihre Quelle? Die Familie der vergewaltigten Frau habe mitgezählt, diese selbst wurde nach dem 15. Mal ohnmächtig.

Helke Sanders Frage an dieser Stelle des Films ist von entscheidender Richtigkeit. Ihr Nüchternheitsgestus bricht ein Tabu. Er bricht den Thrill der Unsäglich- und Unsagbarkeit, die Vergewaltigung, wie kaum ein anderes Verbrechen umgeben. Er bricht die conspiricy of silence, die dieses an deutschen Frauen 1945 - an russischen Frauen, an Frauen anderer Kriege zu anderen Kriegszeiten - verübte Kriegsverbrechen beherrscht. Die Frage zielt auf die Aufklärung der Herkunft und des historischen Kontextes der Verbrechenserzählung. Und diese Aufklärung der Quelle ist das stärkste Instrument, mit dem sich Irrealisierung bannen und die historische Tatsächlichkeit der Tat sichern lässt. Die Unkenntlichkeit der Quelle dagegen beziehungsweise ihre Anonymisierung steht in einem fatalen Verhältnis der Affirmation zu jener conspiricy of silence. "Alle haben es gewusst, aber es wurde eben nicht darüber geredet", sagt eine Frau in Helke Sanders Film. Die Opposition gegen diese Vereinbarung des Schweigens verfehlt - das weiß schon der gesunde Menschenverstand - zwangsläufig ihren Zweck, wenn sie die Sphäre der Verdunkelung nicht radikal verlässt. Hier sitzt das Problem des Buchs Eine Frau in Berlin. Tagebuch-Aufzeichnungen vom 20. April bis zum 22. Juni 1945, verfasst von einer "Anonyma". Das Buch berichtet aus persönlicher Nähe und Erfahrung vom Überlebenskampf einer Berliner Haus- und Notgemeinschaft in den letzten Monaten des Zweiten Weltkriegs und der Zeit der Ankunft der Roten Armee (FR vom 11. April und 30. September). Es berichtet aber vor allem vom Abwehrkampf deutscher Frauen gegen die Vergewaltigung durch russische Soldaten, von ihrem Erleiden, ihrer Wehrlosigkeit und ihren verschiedenen Strategien, ihre Rolle als sexuelle Beute zu ertragen oder erträglich zu machen.

Historisches Potenzial verspielt

Dies gilt insbesondere für die Verfasserin der Aufzeichnungen, eine gebildete, reflektierte Frau, die über Russischkenntnisse verfügt und sehr schnell, sehr entschlossen nach den Vergewaltigungen der ersten Nacht dazu übergeht, eine Art willigen Dauerzustand mit einem, dann einem anderen russischen Offizier einzurichten, um so der wahllosen sexuellen Gewalt zu entgehen. Das Buch erschien unter der Herausgeberschaft von Hans Magnus Enzensberger in der "Anderen Bibliothek" des Frankfurter Eichborn Verlags im Frühjahr 2003 und erlebt seitdem einen Bestsellererfolg. Inzwischen ist es als CD erhältlich. Und dieses Buch scheint sich in der Sphäre der Verdunkelung so gut aufgehoben zu fühlen, wie sich Herausgeber und Verlag bei Einbuße ihrer intellektuellen Dignität dagegen sperren, die dadurch entstehende Problematik überhaupt anzuerkennen. Wobei sie auch das enorme historische Potenzial des Buches verspielen.

Während der Zeit von April bis Juni 1945 beschrieb die Verfasserin handschriftlich drei Schulhefte, auch - so das heutige Buchvorwort - "lose Kritzelzettel", die sie später, wohl ab Juli 1945, in ein Typoskript verwandelte. Dabei entstand aus Stichworten und Eindrücken ein stilistisch und erzählerisch geformter Tagebuch-Bericht, "121 engzeilige Maschinenseiten". Aus der engen Bekanntschaft mit dem Schriftsteller Kurt Marek wiederum - Autor dokufiktionaler Sachbücher wie Götter, Gräber und Gelehrte, denen die Darstellungsform des Anonyma-Textes verwandt ist -, ergab sich die Herausgabe des Buchs 1954 in New York. Es erschien in mehreren europäischen Ländern, 1959 in einer deutschen Erstausgabe im Schweizer Kossodo Verlag. Auf dieser fußt "mit einigen Korrekturen" die heutige Ausgabe des Eichborn Verlages. Ein Nachwort von Kurt Marek wurde aus der amerikanischen Ausgabe übernommen. Rechteinhaberin des handschriftlichen Ur-Textes - den drei Schulheften nebst Kritzelzetteln - sowie des Typoskripts ist die in Hamburg lebende Hannelore Marek, Witwe Kurt Mareks. Auch die anonyme Verfasserin lebt nicht mehr. Es war offensichtlich ihr Wunsch, ihre Anonymität selbst bei einer postumen Ausgabe zu wahren. Er wäre womöglich auch zu erfüllen gewesen, stünde die anonyme Autorschaft nicht im Zusammenhang mit einer unnachvollziehbaren, ebenfalls anonymen Textgenese und entbehrte die heutige Edition nicht jedweden philologischen und historisch kommentierenden Kontextes.


Im Gegenteil. Die anonyme Autorschaft scheint Herausgeber und Verlag als eine Art Lizenz zu dienen, aber auch wirklich alles zu vernachlässigen, was man unter Quellenaufklärung versteht. Wir haben es hier nicht mit den Gesängen des Maldoror des pseudonymen Lautréamont zu tun. Sondern mit einem Tagebuch, auf das die Umgangsregeln des Dokuments anzuwenden sind. Wie sich der Inhalt der Schulhefte zu dem des Typoskripts verhält: unklar. Wie das Typoskript zur amerikanischen Buchausgabe: unklar. Worin die Korrekturen zur jetzigen Ausgabe bestehen: unklar. Wer - und das lässt den Eindruck des Dubiosen, Schlampigen nun wirklich ins Auge springen - eigentlich das Vorwort des Buches verfasst hat: Man weiß es nicht. Es steht kein Name darunter. Dass der Herausgeber der Anderen Bibliothek, Enzensberger, nach Auskunft von Hannelore Marek am vergangenen Wochenende, bis heute weder handschriftliches noch maschinenschriftliches Manuskript auch nur angesehen hat, ist schon märchenhaft.

Anonymität als Lizenz

Dass er Jens Bisky, Redakteur der Süddeutschen Zeitung, der sich um die Aufklärung der Tagebuch-Quelle bemühte und die Verfasserin als die Publizistin Marta Hiller identifizierte, mit einer persönlichen Diffamierung überzog, ist indes ein wenig dreist. Es war schon ein toller Vorgang, wie sich nach dem Erscheinen von Jens Biskys Artikel in der SZ vom 24. September dieses Jahres die berechtigte Skepsis gegen die Editionsgestalt des Buchs in ein Geschrei gegen einen Journalisten verwandelte, der nichts anderes getan hatte, als den Fragen nachzugehen, die die Skepsis aufgibt. Immerhin: Der Eichborn Verlag kündigte an, einen Historiker einzusetzen, der sich mit der Geschichte des Buchs textkritisch befasst. Das war vor gut zwei Monaten.

Und nun? Hannelore Marek ist, so sagt sie, damit einverstanden, dass ein Historiker hinzugezogen werde. Es sei aber sehr schwierig, jemanden zu finden. Es sei "jemand im Gespräch". Kann es übermäßig schwierig sein, drei Schulhefte, ein Typoskript, eine deutschsprachige und eine englischsprachige Erstausgabe zu lesen und miteinander zu vergleichen? "Sie müssten die Hefte mal sehen." Wie gern man das würde! So gereizt wie die Rechteinhaberin reagiert der Verlag auf die Zumutung einfachster Fragen. Schließlich, nach zähem Hin und Her und erst auf die Ankündigung hin, dieser Artikel werde so oder so, mit oder ohne Auskunft des Verlages entstehen, kommt es zu einem Rückruf der Lektorin der Anderen Bibliothek. Sie erklärt: Es gebe eine Person, die sich mit dem Editionsfall "Anonyma" historisch befasse. Aber hat nicht Frau Marek zwei Tage zuvor gesagt, es sei ein Historiker "erst im Gespräch"? Ja, das stimme schon. Es gebe seit "zwei Wochen eine Zusage von jemandem". Mit der Arbeit begonnen habe diese Person (mit deren Geheimhaltung ein neues Geheimnis auf der Bildfläche erscheint) noch nicht. Hannelore Marek müsse der Person demnächst das Material erst noch übergeben.

Lassen wir mal den bösen Gedanken an das Weihnachtsgeschäft beiseite. Und ebenfalls den kritischen Gedanken, dass die Veröffentlichung des Tagebuchs im Jahr 2003 einer allgemeinen, an Opfergeschichten der deutschen Zivilbevölkerung im Zweiten Weltkrieg interessierten Stimmungslage entgegenkommt, wie die Herausgabe in Amerika 1954 dem aufblühenden Antikommunismus entgegenkam. Die Vorstellung aber, auf die Zeugnisse weiblicher Kriegsopfer, die Zeugnisse an Frauen verübter Kriegsverbrechen, mithin auf die Zeugnisse der Erfahrungen unserer Mütter und Großmütter, werde ein Editionsniveau der B-Klasse angewandt, auf dem Fundierung durch Emotionalisierung ersetzt wird ("es ist so ein toller Text") - diese Vorstellung ist empörend. Es wäre die Sache von Leserinnen, Historikerinnen und Publizistinnen, einem solchen Buch die Anerkennung zu entziehen.

 

 

Kommentar
Walter Kempowski über das Tagebuch „Eine Frau in Berlin“

Von Felicitas von Lovenberg

19. Januar 2004 Sich von einem ungerechten Verdacht reinigen zu wollen, sei entweder überflüssig oder vergeblich, befand Marie von Ebner-Eschenbach. Über gewisse Vorwürfe könnte man also einfach hinwegsehen: eine souveräne Einstellung, was die eigene Privatsphäre angeht, aber recht wirkungslos in der heutigen Öffentlichkeit.

Sogar unter der vornehmen Flagge eines "investigativen Journalismus" werden da schon mal Behauptungen geäußert, die zwar nicht belegt werden können, aber viel Aufsehen erregen. Allerhand Personen des Literaturbetriebsdschungels sind in letzter Zeit allerhand unschöne Dinge nachgesagt worden. Bei manchen, wie jüngst im Fall der angeblichen Mossad-Enthüllungen von Nima Zamar, ist Mißtrauen nicht nur aus journalistischer Sicht, sondern auch von Verlagsseite unbedingt angebracht. In anderen Fällen, etwa als ein Möchtegern-Konkurrent Raoul Schrott einen Hochstapler schalt oder Prinz Asfa-Wossen Asserate sich als Strohmann anderer Autoren verunglimpft sah, konnte man sich getrost an die Maxime halten: Gar nicht erst ignorieren. Manch üble Nachrede erledigt sich von allein.

Der schale Nachgeschmack einer Verleumdung

Was dennoch irritiert, ist die Unverfrorenheit, mit der manche Behauptungen einfach erst einmal aufgestellt werden. Der ärgste Fall in dieser Hinsicht war der Band "Eine Frau in Berlin". Die Tagebuchaufzeichnungen einer Unbekannten, die Bombenalarm, Hunger, Zwangsarbeit, Selbstmorde und, immer wieder, Vergewaltigungen durch plündernde Rotarmisten schildern, erstrecken sich vom 20. April bis zum 22. Juni 1945. Die inzwischen verstorbene Verfasserin, die aus guten Gründen anonym bleiben wollte, konnte sich nicht dagegen wehren, daß ein Journalist ihren Namen herausfand und biographische Angaben zu ihrer Person veröffentlichte. Über den Nutzen dieses Vorgehens ließe sich noch streiten.

Mehr als nur die Grenzen des guten Geschmacks waren jedoch verletzt, als Jens Bisky von der "Süddeutschen Zeitung" das Werk ohne Belege als Fälschung darstellte: Angeblich, so insinuierte er, habe C. W. Ceram alias Kurt Marek an dem Text entscheidend mitgeschrieben. Hans Magnus Enzensberger, Herausgeber des Bandes, wies die Beschuldigung ebenso zurück wie Hannelore Marek, Witwe Mareks und Rechteinhaberin des Buchs. Dennoch war der Vorwurf in der Welt - bis jetzt. Walter Kempowski, Herausgeber zahlreicher Tagebücher und Begründer eines eigenen Tagebuch-Archivs, hat die Authentizität der Aufzeichnungen der Anonyma überprüft.

In seinem Gutachten, das an diesem Dienstag im Feuilleton der „Frankfurter Allgemeinen“ dokumentiert wird, bestätigt er nicht nur die Echtheit der Vorlage und den "unverwechselbaren Tagebuchton", sondern weist auch darauf hin, daß der Verlag im Vorwort über Herkunft und Schicksal der Aufzeichnungen bereits detailliert Auskunft gegeben habe. Was bleibt von der Affäre? Genugtuung über die Rehabilitierung der Autorin und der schale Nachgeschmack einer Verleumdung.

Text: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 20.01.2004, Nr. 16 / Seite 33

 

N Z Z  Online

19. Januar 2004, 02:11, Neue Zürcher Zeitung

«Eine Frau in Berlin»

Walter Kempowski legt Gutachten vor

Misstrauen gehört zum journalistischen Handwerk. Insofern war es ganz legitim, die Frage nach der Authentizität zu stellen, als der letzten Sommer bei Eichborn erschienene Band «Eine Frau in Berlin» zum euphorisch gelobten Bestseller aufstieg. Handelte es sich bei diesen Notizen, in denen eine anonym bleibende deutsche Autorin staunenswert souverän von den letzten Kriegswochen in Berlin erzählt - von dem Einzug der Roten Armee und von Vergewaltigungen -, wirklich um «Tagebuchaufzeichnungen vom 20. April bis 22. Juni 1945»? Jens Bisky, Redaktor der «Süddeutschen Zeitung», bekam aus dem Verwandtenkreis der Anonyma einen Tipp, der es ihm ermöglichte, das Inkognito der im Juni 2001 verstorbenen Autorin zu lüften. Ob er recht daran tat, dies gegen den Willen der ungenannt bleiben wollenden Frau zu tun, ist umstritten. Bisky ging allerdings noch einen Schritt weiter: Er suggerierte, der Bestsellerautor C. W. Ceram alias Kurt Marek habe an dem Text mitgestrickt. Hier ging das berechtigte journalistische Misstrauen ins ungedeckte, an Verleumdung grenzende Behaupten über. Denn Belege blieb Bisky schuldig.

Seit gestern liegt das Gutachten vor, das Walter Kempowski im Auftrag des Verlags angefertigt hat. Auf knappen zwei Blatt kommt Kempowski, ein überaus erfahrener Mann im Umgang mit Tagebüchern, Chroniken und anderen Zeitzeugnissen, zu folgenden Einschätzungen: Die in drei Heften niedergelegten und wie in der Buchausgabe datierten handschriftlichen Aufzeichnungen «tragen alle Merkmale des Authentischen»: zum Teil flüchtige, dann wieder ordentliche Schrift, wechselndes Schreibgerät (mal Tinte, mal Blei-, mal Rotstift), vergilbtes Papier und ein «unverwechselbarer Tagebuchton».

Für den Verdacht Biskys, Kurt Marek könne am Manuskript mitgewirkt haben, hat Kempowski «keinen Hinweis» finden können. Allerdings bringen ihn Unterschiede zwischen den Handschriften und der Reinschrift auf Schreibmaschine zu dem Urteil, hier nun sei «der Text aus dem gerade zu Ende gegangenen Erlebnis heraus ‹erfüllt›» worden. Kempowskis Anmerkung, «es wäre zu wünschen gewesen, vielleicht, dass der Verlag sich mit der Veröffentlichung des Schreibhefttagebuchs begnügt hätte», lässt den Eindruck entstehen, dass der Text von der Hand- zur Reinschrift eine erhebliche Literarisierung erfahren hat. Kempowski drückt aber nicht Zweifel an der Authentizität des Berichts, sondern seine «Vorliebe für Originale» aus, wie er auf Nachfrage sagt. Im Grund stehe zur Literarisierung alles im Vorwort des Buches, meint er, und er erklärt zu den Verdächtigungen: «Ich weiss gar nicht, was in der Presse los war.»

Joachim Güntner

 

21.01.2004

Kieselsteine zählen

Walter Kempowskis Gutachten zum Tagebuch der Anonyma

Es gibt Streitigkeiten, die ermüden, weil sie überflüssig sind. Einen Zeitgenossen, der behauptet, dass zwei mal zwei fünf mache, wird man entweder gleich bekehren oder nie: Man kann noch so oft zweimal zwei Kieselsteine nebeneinander legen und dann nachzählen. Wenn er es partout nicht wissen will, kann man ihn nicht zwingen. Die seit Monaten bestehende Ungewissheit in der Textgestalt des Tagebuchs jener Anonyma, die zwischen dem 20. April und dem 22. Juni 1945 ihre Erfahrungen als Opfer der russischen Besetzung Berlins niedergelegt hat, und dessen Neuausgabe in der Anderen Bibliothek bei Eichborn so viel Aufsehen erregte, gehört zu diesen Fragen: Ihre Beantwortung ist nicht dem Dafürhalten anheim gegeben, sondern einer einfachen Feststellung.

Diese Frage ist zunächst auseinander zu halten von der anderen, ob es richtig war, den Namen der Anonyma aufzudecken, wie es unser Kollege Jens Bisky getan hat (siehe SZ vom 24. September 2003). Die Lüftung der Anonymität ist ein klassisches Problem für das, was Kant Urteilskraft nannte, also Gegenstand einer Abwägung. Hier stehen Werte der Diskretion und des Respekts vor dem Willen der verstorbenen Autorin einerseits gegen die Forderung der historischen Wissenschaft nach umfassender faktischer Unterrichtung andererseits. Diese Abwägung kann mit guten Gründen strittig bleiben.

Das elementare Problem der Textgestalt ist aber auch zu unterscheiden von der Frage, ob wir es hier mit einer Fälschung zu tun haben. Bei einer Fälschung wären zwar nicht alle erwähnten Tatsachen erfunden (keine Fälschung funktioniert ohne reale Bezüge), wohl aber gäbe der Text nicht Selbsterlebtes wieder. So war es bei den gefälschten KZ-Erinnerungen des angeblichen Wilkomirski, bei denen das Buch vor einigen Jahren zurückgezogen werden musste. Dass es sich bei dem Tagebuch der Anonyma um einen solchen Fall handle, hat nie jemand behauptet.

 

Eine Frage aus der Teeküche

 

Die Frage, die von Anfang an im Mittelpunkt gestanden hatte, galt dem Verhältnis der ursprünglichen Tagebuchaufzeichnungen zur publizierten Textfassung. Wie weit war der Weg von den ersten hastigen Notaten im Druck des Geschehens zu den beeindruckend formulierten, episch ausgefeilten Schilderungen der vorliegenden Buchfassung? Gibt es einen Anteil des Erstherausgebers von 1959, Hans W. Marek, eines im literarisierten Tagebuchgenre erfahrenen Schriftstellers? Die Empörung, die diese naheliegende Nachfrage bei den Betroffenen (Herausgeber, Lektor, Verlag) auslöste, schien nur durch den Umstand zu erklären, dass sie sich mit dem heiklen moralischen Problem der Anonymität verknüpfte. Also ist es geboten, diese beiden Ebenen zu trennen und Mitteilungen über die Textgestalt möglichst auf eine technische Ebene zu beschränken.

Vor drei Monaten hat uns der Eichborn Verlag das Gutachten eines kompetenten Experten (zunächst war von einem Historiker die Rede) versprochen. Nun hat der Berg gekreißt und zwei Blatt von Walter Kempowski geboren. Kempowski, der Materialforscher in privaten deutschen Kriegsnachlässen, ist ohne Frage hervorragend ausgewiesen. Die technischen Mittel eines Archivs (z.B. zur Papierdatierung) hat er wohl nicht. Immerhin hat er, als einziger Außenstehender bisher, die ursprünglichen Notate (zwei Schulhefte und eine gebundene Kladde) und die Reinschrift der Autorin (121 Schreibmaschinenseiten) sehen und vergleichen dürfen. Beide machten auf ihn den Eindruck von Originalen und bestätigten, was nicht bezweifelt worden war: Wir haben es nicht mit einer nachträglichen Fälschung zu tun. Es hat die Anonyma gegeben, sie hat ihre schrecklichen Erlebnisse annähernd gleichzeitig niedergeschrieben und kurz danach ausformuliert. Wie lange danach, das wäre eine beispielsweise auch durch Papierdatierung einzugrenzende Frage.

Zum Verhältnis von Notaten und Reinschrift erklärt Kempowski: „Eine stichpunktartige Prüfung ergab, dass hier nun der Text aus dem gerade zu Ende gegangenen Erleben heraus ,erfüllt‘ wurde – im Sinne etwa von Ernst Jünger: ,Der Tee muss aufgegossen werden, sonst kann man ihn nicht trinken.‘“ Außerdem seien, wie vom Verlag bereits erwähnt, „im Hinblick auf die Veröffentlichung Eigennamen, Ortsangaben und manche Details verändert worden“. Das ist die einzige Angabe, die Kempowski zum Verhältnis von Reinschrift und Buchtext macht. Schließlich heißt es: „Die Durchsicht der Handschrift und des Typoskripts ergeben aber keinen Hinweis darauf, dass Marek – oder irgendeine andere Person – an der Herstellung des Manuskripts mitgewirkt haben könnte.“ Abschließend bekundet der Gutachter, dass es „zu wünschen gewesen wäre, vielleicht, dass der Verlag sich mit der Veröffentlichung des Schreibhefttagebuchs begnügt hätte“ – was aber wegen des Anonymitätswunsches der Verfasserin sich wohl nicht hätte machen lassen.

Spucknapf oder Teebeutel? Das ist die Unterscheidung, die für jedes Tagebuch gilt, und wer die Aufzeichnungen Thomas Manns mit denen Ernst Jüngers vergleicht oder in unseren Tagen die von Rainald Goetz mit denen von Durs Grünbein, der weiß, worum es geht. Im Falle der Anonyma haben wir es mit beiden Möglichkeiten zu tun, der sofortigen Entlastung vom Erlebten und der nachträglichen Überarbeitung. Das hat Kempowski nun bestätigt; aber das wussten wir auch schon. Näheres erfahren wir nicht. So gut wie nichts erfahren wir über die dritte Stufe, den Buchtext, und sein Verhältnis zur zweiten, nur, dass hier einiges verändert wurde.

Dafür erreicht uns aus der gestrigen Neuen Zürcher Zeitung (20. Januar) die beunruhigende Mitteilung, Hannelore Marek, als Witwe und Nachlassverwalterin des Urherausgebers Inhaberin der Anonyma-Manuskripte, habe bekundet, „es gebe zwischen der abgetippten Tagebuchfassung und der Buchausgabe des Kossodo-Verlags (von 1959) noch ein drittes Manuskript“. Also nach Stufe zwei noch eine Stufe drei, bevor mit der ersten Buchausgabe Stufe vier sichtbar wird! Von Stufe drei aber ist bei Kempowski gar keine Rede. Der Kollege von der NZZ zeigt sich begreiflicherweise verwirrt und irritiert.

Es ist schwierig mit Leuten zu streiten, die sich weigern, nebeneinander liegende Kieselsteine nachzuzählen. Die inzwischen angewachsene Pedanterie der Kritiker und Unüberzeugten wurde vom Verlag und den Herausgebern durch ihre, vorsichtig gesagt, merkwürdige Reaktion auf die ersten Fragen stark befeuert. Die Verbindung aus Gefuchtel mit moralischen Vorwürfen, persönlicher Anschwärzung der Frager, Versteckspiel mit dem Manuskript, langwieriger Gutachtersuche und nun dieser kümmerlichen Nichtinformation auf zwei Blatt: Das alles weckt doch das Misstrauen erst richtig, noch viel mehr als die schludrige Kommentierung der neuen Buchausgabe, von der dieser Streit ausging.

Warum wird uns kein einziges Beispiel gegeben? Warum können wir nicht wenigstens durch kleine Faksimiles (natürlich nur von einer beiläufigen, gegebenenfalls durch Schwärzungen weiter zu sichernden Stelle) den Weg von Stufe eins zu Stufe zwei und dann zum Buch (lassen wir Stufe drei hier weg) nachvollziehen? Warum werden wir mit der läppischen Metapher vom aufgegossenen Tee abgespeist? Das ist vollkommen unbegreiflich. Das Gutachten von Walter Kempowski hat die Lage des Eichborn Verlags in dieser Angelegenheit nicht verbessert. Wer über so elementare Sachverhalte wie die hier in Rede stehenden auch nicht die kleinste substantielle Auskunft geben will, dem muss weiterhin Misstrauen entgegenschlagen.

GUSTAV SEIBT

 

FRANKFURTER RUNDSCHAU

Kempowski über Anonyma

Und jetzt: Alles wie vorher?

VON INA HARTWIG

Hut ab! Einen in Fragen der historischen Laien-Zeugenschaft besser Bewanderten als Walter Kempowski hätte der Eichborn Verlag nicht gewinnen können, um die Tagebuchaufzeichnungen Eine Frau in Berlin der inzwischen fast schon berühmten "Anonyma" prüfen zu lassen. Sowohl die Orignalaufzeichnungen als auch die spätere maschinenschriftliche Überarbeitung (denen die Buchausgabe folgt) seien "authentisch", lautet Kempowskis Urteil. Die Handschrift trage "alle Anzeichen von Spontaneität". Doch macht der Gutachter keinen Hehl aus seiner Vorliebe eben für diese Imperfektibilität der Form: "Es wäre zu wünschen gewesen, vielleicht, dass der Verlag sich mit der Veröffentlichung des Schreibhefttagebuchs begnügt hätte, aber damit wäre wahrscheinlich die Verfasserin nicht einverstanden gewesen, die aus begreiflichen Gründen anonym zu bleiben wünschte."

Eine Prüfung des in Hans Magnus Enzensbergers Anderer Bibliothek erschienenen Buchs war verschiedentlich gefordert worden, weil Zweifel an der Authentizität der emotional ergreifenden Aufzeichnungen laut geworden waren: Aufzeichnungen, entstanden zwischen dem 20. April und dem 22. Juni 1945, in denen der Einmarsch der russischen Armee nach Berlin und die massenhafte Vergewaltigung von Frauen - einschließlich der Verfasserin - mit stilistischem Geschick, teils das Galgenhumorige streifenden Horror geschildert werden.

Das Buch, 1954 in den USA erstmals erschienen, war in Deutschland Ende der fünfziger Jahre kein Erfolg; erst jetzt erregt es die Gemüter - die mentale Lage ist heute offenkundig günstiger, um Interesse für die Schicksale ziviler Opfer unter den Deutschen während des Zweiten Weltkriegs zu wecken, was meist im Medium des Semi-Dokumentarischen geschieht. So haben sich auch wegen der vom Verlag angenommenen Leichtgläubigkeit der Leserschaft kritische Stimmen erhoben. Tatsächlich spielt der Eichborn Verlag in seiner ohne jeglichen kritischen Apparat auskommenden Edition der "Anonyma"-Aufzeichnungen mit jener Leichtgläubigkeit - der Leser soll die Authentizität der Unbekannten hinnehmen, das Interesse für die Genese des Textes wird nicht beantwortet. Aber es ist beruhigend, jetzt zu erfahren, dass dies offenbar das einzige Fehlverhalten des Verlags war (von merkwürdigen Windungen gegenüber aufklärungswilligen Journalisten einmal abgesehen).

Nach wie vor kann man sich dem Text der Anonyma auf vielen Wegen fragend nähern. Die radikalste Frage wäre sicherlich die: Kann eine Frau überhaupt so kühl und zugleich so einfühlsam über die Triebdurchbrüche der Soldaten, über die erlittene Vergewaltigung berichten? Eine andere Frage ist nach wie vor tabuisiert, und auch das Gutachten von Kempowski löst sie nicht: Wer war die Tagebuch-Schreiberin? Der SZ-Redakteur Jens Bisky hat viel Prügel dafür einstecken müssen, dass er die Identität der vor zwei Jahren verstorbenen Verfasserin gelüftet hat. Die Aggression, die ihm entgegen schlägt, bleibt rätselhaft. Man könnte vermuten, dass sie weniger mit verletzten Anstandsregeln zu tun hat, als vielmehr mit dem Ergebnis seiner Recherche. Demnach wäre die Anonyma eine damals junge Frau namens Marta Hillers, die sich mit propagandistisch gefärbtem Journalismus durch die Nazizeit gemogelt hat. Die Wirklichkeit könnte weniger erhebend sein als der Wunsch nach moralischer Integrität. Es ist dieser Wunsch, der das Denken vernebelt.

Dokument erstellt am 19.01.2004 um 16:36:06 Uhr

 

Dienstag, 20. Januar 2004

Feuilleton  Berliner Zeitung

Aufgegossen im Sinne Jüngers

Walter Kempowski bestätigt die Echtheit des Tagebuchs "Eine Frau in Berlin"

Der Eichborn-Verlag ist der Forderung von Kritikern nachgekommen und hat ein Gutachten über die Neuausgabe von "Eine Frau in Berlin" vorgelegt. Dem Verlag war vorgeworfen worden, er sei bei der Veröffentlichung der anonymen Tagebuchaufzeichnungen - sie schildern Vergewaltigungen beim Einmarsch der sowjetischen Truppen 1945 - editorisch sorglos vorgegangen. Der Originaltext sei möglicherweise von dem Herausgeber und Freund der Autorin, Kurt W. Marek, für die erste Ausgabe des Buches in den fünfziger Jahren geglättet und ergänzt worden.

Der Schriftsteller Walter Kempowski, selbst Herausgeber und Sammler von Tagebüchern, bestätigt in einem nur knapp zweiseitigen Gutachten die Echtheit des Textes: "Die von mir eingesehenen drei Originalhefte . tragen alle Merkmale des Authentischen: verschiedenartiges Schreibgerät - zum überwiegenden Teil Tinte, zum Teil Bleistift, zum Teil Rotstift - und die immer wieder vom Ordentlichen ins Flüchtige übergehende Schrift zeigen alle Anzeichen von Spontaneität.Auch die Reinschrift, ein 121seitiges Schreibmaschinentyposkript, trage "alle Merkmale der unmittelbaren Nachkriegszeit: stark vergilbtes, teils rissiges Papier, die Klebestreifensicherung der Lochung."

Zu der Kernfrage, wie weit der Text für die Reinschrift verändert wurde, schreibt Kempowski merkwürdig knapp: "Eine stichpunktartige Prüfung ergab, daß hier nun der Text aus dem gerade zu Ende gegangenen Erleben heraus "erfüllt" wurde - im Sinne etwa von Ernst Jünger: Der Tee muß aufgegossen werden, sonst kann man ihn nicht trinken ". Doch führt Kempowski nicht aus, was man sich wohl unter "erfüllen" und "aufgießen" vorzustellen habe. Er schließt: "es wäre zu wünschen gewesen, vielleicht, daß der Verlag sich mit der Veröffentlichung des Schreibhefttagebuchs begnügt hätte, aber damit wäre wahrscheinlich die Verfasserin nicht einverstanden gewesen". Doch gebe es "keinen Hinweis darauf, daß Marek - oder irgendeine andere Person - an der Herstellung des Manuskripts mitgewirkt haben könne." (che.)

 

VIRAGO £16.99 (311pp) £15.99

A Woman in Berlin by Anonymous, trans Philip Boehm

 

Living with a brutal bear

By Joanna Bourke

Published : 17 June 2005

The anonymous author of this memoir was living in Berlin in April 1945 when Red Army soldiers marched into the city. What followed was an orgy of rape. The first time she was dragged out of the cellar and gang-raped, her neighbours closed the door, barricading themselves behind it. The second time, she managed to convince one soldier to treat her as his exclusive property. "Only one, please please, only one," she begged,

After the third rape, she decided that something had to be done. "I have to find a single wolf to keep away the pack," she calmly decided. She set out to find a Russian "protector", an "officer, as high-ranking as possible". The decision may have saved her life. One in three Berlin women was raped by these Allied troops and over 10,000 died as a result. Thousands committed suicide. Prostituting oneself to one wolf was preferable to becoming prey to all.

In those desperate times, civilised habits were rapidly abandoned. Men, women, and children defecated in public. Women cracked bitter jokes about their vaginas. Looting became the most effective form of domestic management. Greed was a virtue. Babies died for lack of milk and older children amused themselves by playing with corpses.

Rape was ubiquitous. Many victims were children. Many were Jewish or Polish. For the author of this memoir, the sorry state of German men was particularly striking. No longer able to protect their womenfolk, the defeated men fretted like children and retreated to bed. When told of the rapes, the author's prewar boyfriend (brazen about being a deserter) accused German women of turning into "shameless bitches". The author was not stung by such accusations. Yes, she slept with Russian soldiers for bacon, butter, candles. But prostituting herself in this way did not make her a whore. Survival was the highest principle.

Who was this remarkably resilient woman? The chances are that she was a journalist called Marta Hillers, although that cannot be confirmed. Hillers died in June 2001, aged 90, and her executor refuses to comment. She had visited Russia and learnt some Russian. The memoir was first published in 1954, in English translation. A German version, a few years later, was attacked for "besmirching the honour of German women". However, when republished in Germany in 2003, it became a bestseller.

The memoir's reception in Germany owes much to the "Historians' Debate" of the mid-1980s. Revisionist historians attempted to re-position the Germans as victims in the Second World War. They pointed to the Allied bombardment of cities, as well as the mass rapes of 1945, as evidence of German suffering.

The Allies, including Britain and the Soviet Union, were responsible for war crimes against the German people. German guilt had gone too far. The Holocaust had to be seen in the context of other campaigns of mass murder, in particular Stalinism. According to this interpretation, the rape of German women could be transformed into a story whereby all Germans were violated by a brutal Soviet culture.

The author unwittingly contributes to this debate. The main victims are women and children. Nazi crimes only appear at the end, when she hears about the concentration camps and observes that the fact that millions of humans were made into "fertiliser, mattress-stuffing, soft soap" was "sickness, insanity".

The vision is bleak, but there are times of unbearable poignancy. One day, she turns to Anatol, who raped her while protecting her from other predators, and told him in Russian, "You are a bear". She knew she used the correct Russian word for bear (m'edv'ed) because it was also the name of a well-known Russian restaurant. However, Anatol thought she had made a mistake. "No, that's wrong," he corrected her. "A m'edv'ed is an animal. A brown animal, in the forest. It's big and roars. I am a chelav'ek - a person." Abuse is very human.

Joanna Bourke, professor of history at Birkbeck College, is the author of 'Fear: a cultural history'

 

The rubble women

Linda Grant on A Woman in Berlin, a shocking account of mass rape during the fall of the German capital

Saturday July 2, 2005
The Observer

A Woman in Berlin by Anonymous
320pp, Virago, £16.99

In the early stages of the Yugoslav war, allegations of mass rape of Croatian and Bosnian women by Serb militias appeared in British newspapers and were dismissed as propaganda by some broadsheets or treated with predictable sensationalism by the tabloids, which predicted a surfeit of "rape babies" available for childless British couples. I played a very small role in the attempt to understand whether real atrocities were occurring, by tracking the course of how these allegations reached the western European media. The answer was mechanical rather than ideological; the war in the former Yugoslavia was the first conflict to be monitored by modern feminist organisations in both Zagreb and Belgrade, which collected the data, and in those days just before the internet, got the information out to German women's groups, which in turn alerted one of the major German news magazines, which then broke the story.

Despite the difficulty of collating accurate statistics (some women had been raped many times, other cases were multiple eye-witness reports of the same rape) and the mysterious absence of a sharp rise in pregnancies (abortion on demand was available up to 12 weeks and many women, during the heavy shelling, stopped menstruating), I concluded that the rape of Bosnian and Croatian women was not a peculiar feature of this conflict, but a condition of war generally. The failure was that of those organisations whose job it was to document atrocities and which, in the case of rape, had never established the mechanism to do so. A press spokesman at the headquarters of the International Committee of the Red Cross confirmed to me that it gathered no statistics on rape in wartime. Any woman wanting to make a report would have to tell her story to a male ICRC officer, through a male interpreter. He agreed that there was no authoritative means of collecting data.

Sixty years ago, in the closing days of the second world war, a 32-year-old German woman, employed in publishing, wrote in her diary: "A stranger's hands expertly pulling apart my jaw. Then with great deliberation he drops a gob of gathered spit into my mouth." Anyone who read Antony Beevor's monumental account of the fall of Berlin, Berlin: The Downfall, will know of the frenzied and brutal attacks on thousands of Berlin women of all ages when the city fell to the Red Army. The diaries, first published in Germany in 1954, and translated into English the following year, were greeted with disgust by German audiences and quickly went out of print. The anonymous author describes the degradation of Berlin women at the hands of the Russian troops and, perhaps more controversially, the choices each made to survive. One need have no sympathy at all for the cause of German nationalism in the 1930s and 40s to be filled with horror at her calmly written accounts, told without self-pity. Even when the rape period is over, and the occupying forces have reasserted control over the city, they continue to feel, and indeed to be, dehumanised: "To the rest of the world we're nothing but rubble women and trash."

The narrator, describing herself as "a pale-faced blonde always dressed in the same winter coat", has the small advantage that she speaks some Russian, having travelled through that country in the 30s. Some groups of soldiers gang-rape her, others contemptuously leave a few cigarettes, "my pay". The soldiers, known to the women as the "Ivans", talk to their horses, "which they treat far better than they do us: when they talk to the animals their voices sound warm, even human".

After the horror and degradation of the first few days, she decides, in the interests of self-preservation, to find an officer, assuming that if she becomes a kind of courtesan of the army, she will be protected against mass rape. However, she discovers that the Soviets have no educated officer class with Germanic codes of conduct, chivalry and clear class-based demarcations of control over their men: a Russian army officer is as likely to be a peasant as his troops. One of the small incidents she notices is that women on the upper floors of her apartment building are more likely to escape attack because many soldiers, from villages in the remote steppes, are unused to stairs.

Even as the rape days continue, the author is conscious of what is going to happen when they end, and considers the different means by which male soldiers and female civilians are awarded a language to describe their experience. Speaking of the German soldiers who had returned to Berlin on leave, she writes: "And they loved to tell their stories which always involved exploits that showed them in a good light. We on the other hand will have to keep politely mum; each one of us will have to act as if she in particular was spared. Otherwise no man is going to want to touch us any more." And this is indeed the brutal conclusion to her book: the return from the front of her fiancé Gerd, to whom she gives the diaries, and who returns them to her without comment.

Nazi Germany assigned women a closely defined space, as breeding animals for Aryan youth. "The Nazi world," she writes, "- ruled by men, glorifying the strong man - is beginning to crumble, and with it the myth of 'Man'. That has transformed us, emboldened us. Among the many defeats at the end of this war is the defeat of the male sex." Beevor notes that the sexually repressive post-war era in Germany, in which husbands reasserted their authority and the experience of mass rape was submerged, proved that her optimism was "sadly premature". Perhaps the value of her observation is in its retroactive understanding of German fascism; of the masculine lure of the strong state, the glamour of those uniforms so salaciously depicted by Leni Riefenstahl. The experience of women in occupied zones, whether Germany in 1945 or Iraq today, has its own story to tell, which is not the same as that of the conquering or occupied males.

Perhaps the most horrific incident recounted in the book concerns a lawyer married to a Jewish woman whom he had refused to divorce and who had had to endure terrible hardship as a consequence; they are huddled over the radio, listening to foreign broadcasts, looking forward to the liberation, when Russian soldiers burst into their basement, shooting the husband. Three of them threw themselves on top of the wife while she screamed: "But I'm Jewish, I'm Jewish" and her husband lay bleeding to death. "No one could invent a story like this: it's life at its most cruel - mad blind circumstance," the narrator writes.

In his introduction, Beevor addresses the question of authenticity, given the continuing anonymity of the author who died two years ago. The truth, he concludes, lies "in the mass of closely observed detail". Indeed, most propagandistic accounts of rape in wartime have the air of folk stories, large shapes with recurrent images and themes, heavy with cliché. Satisfied then, that the diaries are real, the reader might ask where should they be placed - as archive material for historians? I would argue that while A Woman in Berlin lacks the great moral interrogation of Primo Levi's post-war accounts of Auschwitz, what the books share is a voice describing the lived experience of horror that the mind almost always prefers to forget, the examination of painful memories, the questioning of the impact that it has on the self, and on the inner struggle to survive, at all costs.

And we are also confronted, in this book, with a central moral ambiguity that pervades every war, just or unjust. The very Red Army troops who drunkenly ejaculated into the body cavities of a half-crazed elderly woman, screaming in terror, were likely to be the same individuals who, in the January of that year, had liberated the Auschwitz death camps, had been, in fact, Levi's own liberators. And so the faces of victim and oppressor switch and switch around, and this is why one can only regret that the author would not allow the book to be republished in her lifetime, after its hostile reception in the 50s, and did not live to know that others, even those who were the victims of her country, could read, and empathise, and understand.

Linda Grant's Still Here is published by Little, Brown.

 

She screamed for help but her neighbours barricaded the door
(Filed: 04/07/2005)

Cressida Connolly reviews A Woman in Berlin.

In Vienna there is a statue of a Second World War Russian soldier (reputedly made from melted-down busts of Hitler), known locally as the monument to the unknown rapist. This grim humour would have been all too familiar to the anonymous author of A Woman in Berlin. In a diary running from April 20 to June 16, 1945, she and almost every woman she knows are repeatedly raped by the Russian servicemen flooding into the city.

The first time it happens is the worst. Dragged from the basement she and her neighbours have been using as an air-raid shelter, she screams for help, only to hear her familiars barricading the door behind her. Their betrayal seems even more brutal than the Russian's attack.

Such an account is one of many in a book that caused outrage when it was originally published in German at the end of the 1950s. It was accused of "besmirching the honour of German women". As Antony Beevor says in his introduction, rape and sexual collaboration for survival were taboo subjects in that post-war period. They continue to make very troubling reading. This is a book that does not go away when you've read the final page.

The author of the diary was apparently a journalist of some accomplishment, and highly educated. When peace is established, she allows herself to read for the first time in months: "Rilke, Goethe, Hauptmann. The fact that they, too, are German is some consolation, that they were of our kind." There is precious little else to find comfort in. Homeless, jobless, without family, the author's future looks as bleak as her city's.

Having spent 300 pages in her company - pages that detail what are presumably the most traumatic days of her life - I longed to know a little about the rest of the author's life. But neither the introduction nor an afterword by the German editor allow any such novelistic resolution. She may or may not have been called Marta Hiller, and after the controversy that surrounded the diary's original publication (in England and America in the mid-1950s) it appears that she refused to allow it to be reprinted. The current, newly translated edition has been made possible by her recent death.

Her identity is, of course, much less important than her remarkable account of Berlin's final days of war, which will be a gift of the utmost value to historians and students of the period. Her journalistic training is evident from her economy of language and eye for the telling detail, but her extraordinary lack of self-pity is all her own.

"Were we brave?" she asks herself. "Most people would probably say we were… In any case, I have to rethink my ideas about heroism and courage under fire. It's only half as bad as I thought. Once you've taken the first step, you just keep charging ahead."

In this spirit she picks nettles to eat, queues for hours for a bucket of water from the pump, forages for firewood. She watches people burn copies of Mein Kampf to cook their food over; she sees families digging shallow graves in their gardens; she notices that her temporary landlady, a widow, mourns the loss of her husband's tie pin more than she minds being raped in a stair-well.

This diary tarnishes the cherished ideal of people clubbing chummily together in wartime: here it is every man for himself. When a horse dies in the street, pen-knives are straight out, hacking it to bits for meat; people fight over their portions. The author becomes the guest of the widow and her invalid male lodger, but they stop making her welcome once the Russians she has slept with, in return for butter and tinned fish and bread, disappear.

Without electricity, running water, transport and shops, the people are gradually returning to the habits of cavemen, notes the diarist. Sensibilities are coarsened. But experience remains shared even while provisions are squirrelled away.

Rape, a lonely experience in civilian life, is collective in war: the women overcome its horror by speaking openly about it, making crude jokes that would have been unthinkable in bourgeois circles before the war.

A Woman in Berlin ends abruptly. Peace comes to the city and a semblance of order returns. The diarist's lover returns from the front, but it looks unlikely that the two will resolve the differences that have grown up between them. Echoing a heroine from Chekhov, she concludes: "I have so much to do… I have to mop up the rain puddles in the apartment. The roof is leaking again… I don't have feeding time for my soul… I only know that I want to survive."