ANTONY BEEVOR, Berlin 1945. Das Ende. Bertelsmann, München. 512 S.

 

 

Der Horror der letzten Tage

Der britische Autor Antony Beevor hat für sein neues Buch "Berlin - The Downfall 1945" in russischen Archiven ungeahnte Details gefunden

Von Thomas Kielinger

- auch über die Vergewaltigungen der Roten Armee beim Vormarsch auf Deutschland seit Januar 1945

29-5-2002

Was können wir noch lernen, was wir nicht wussten, über das Herz der Dunkelheit, die Kriegsmonate Januar bis Mai 1945, die Klimax des Entsetzens? Was haben die Kilometer an Literatur ausgelassen, dass wir ergriffen werden könnten mit neuer Wucht, als hätten wir alles noch nie gelesen, durchdacht, durchlitten? Wer will uns noch einmal durch die Katharsis schleusen, den Abgrund aus Furcht und Mitleid? Würden wir nicht die Hände hochheben wie Äneas, der Dido bat, ihm die Nacherzählung vom Untergang Trojas zu erlassen? "Heiße mich nicht, oh Königin, den ungeheuren Schmerz erneuern", lässt Vergil seinen Helden flehen.

Umsonst. Nichts wird uns erspart mit einem neuen Buch, das in diesen Wochen im Sturm die britischen Bestsellerlisten erobert hat. Antony Beevor heißt der Autor, die Deutschen kennen ihn mit seinem auch in der Übersetzung erfolgreichen, 1998 erschienenen "Stalingrad", des bis dato besten Berichts über diesen Wendepunkt des Zweiten Weltkriegs. Beevor hat sich gleichsam vom Sog seiner damaligen Erzählung in das neue Unterfangen ziehen lassen, wie er jetzt schreibt, symbolisiert in einem Schwur, den ein russischer Oberst deutschen Kriegsgefangenen zuschrie, als er des Trümmerfelds von Stalingrad ansichtig wurde: "Genau so wird Berlin einst aussehen!"

Aber wo "Stalingrad" ein einzelnes Ereignis unter dem Mikroskop erfasste und gleichsam "zerlegte", kommt "Berlin - The Downfall 1945" wie ein epischer Schock daher. Der breite Strom der Geschichte rückt in den Vordergrund, Stabführung hat die russische Perspektive, darin gespiegelt die Zuckungen des deutschen totalitären Wahns in seiner letzten Phase.

Freilich, die Erschütterung bei der Lektüre hat einen anderen Grund. Warum sich um die Wahrheit herumdrücken? "Berlin - The Downfall 1945" enthält neben einer Vielzahl neuer militärischer Details aus der Schreckenskulisse des Krieges eine in solchen Einzelheiten bisher noch nie recherchierte Chronik der Vergewaltigungsgräuel, wie sie den Weg der Roten Armee seit dem Einfall in Ostpreußen im Januar 1945 bis nach Berlin säumten. Es ist dieser rote Faden, der wie ein immer wieder hochschreckendes Leitmotiv die Begegnung mit Beevors neuem Buch zu einem ebenso bedrückenden wie unvergesslichen Erlebnis macht.

Dazu trägt auch der Stil der Erzählung selbst bei, diese meisterhafte Mischung aus narrativer Finesse und Unbestechlichkeit gegenüber den Fakten. In beiden Kategorien erleben wir einen Autor auf der Höhe seiner Kunst. Beevor, in Sandhurst ausgebildet, kann es in punkto militärischer Details mit jedem aufnehmen. Und als Erzähler hatte er sich mit vier Romanen gleichsam warm gelaufen, noch vor seinem ersten historischen Werk über den Spanischen Bürgerkrieg. Die Unbestechlichkeit schließlich ist Teil britischer Distanzkultur, die angesichts der Thematik dieses Buches entscheidende Bedeutung entfaltet.

Der Vormarsch der Roten Armee seit Januar 1945 war zugleich ein Vormarsch endloser Vergewaltigungen, meist in Gruppen vollführt - "eines der größten Kriegsverbrechen der Neuzeit", wie britische Rezensenten von Beevors Buch unbeschönigend schreiben. Die 430 Seiten dieser Erzählung übersteigen alles, was wir über dieses noch immer halbdunkle Kapitel der Kriegsgeschichte bisher in Erfahrung bringen konnten,- aus Solschenizyn, aus den Memoiren von Lew Kopelew oder Christan Graf v. Krockow ("Die Stunde der Frauen") oder aus vielen anderen Tagebuchaufzeichnungen der Zeit.

Beevor aber ist der Erste, der unseres Wissens nach diesem Thema den gebührenden Platz im Gesamt des sich zuziehenden Verhängnisses gibt. Seine Erzählung gewinnt damit die Qualität eines "Simplizissimus im Zweiten Weltkrieg". Es regiert der totale Schrecken - auch der totale Wahnsinn: Das Gewoge der Fronten, das Gauklerspiel der Militärs, Heroismus neben unsäglicher Grausamkeit, von zarten Lichtstrahlen der Humanität gelegentlich durchbrochen. Kurzum: Ein Panorama, so Furcht erregend erhellt, als habe man es so noch nie zuvor gesehen. Zweifellos wird dieses Buch, wenn es im Herbst auf Deutsch bei Bertelsmann herauskommt, zum Magneten der Frankfurter Buchmesse werden.

Was macht seine Glaubwürdigkeit aus? In einem Satz: die russischen Archive. Mit "Stalingrad" hatte sich Antony Beevor als bedeutsamer Forscher etabliert - vor allem in Russland. Das kam ihm für sein neues Projekt zu Hilfe. Es öffneten sich ihm weitere Archivstollen in Moskau und Podolsk, die noch kein Forscherauge vor ihm gesehen hatte: Ablagen im Russischen Staatsarchiv für sozialpolitische Geschichte, im staatlichen Militärarchiv, im Moskauer Staatsarchiv für Literatur und Künste, im Zentralarchiv des Verteidigungsministeriums, mit Reichtümern an Belegen von Soldatenbriefen, von Berichten des Geheimdienstes NKDW oder der Gegenaufklärung Smersch, von vertraulichen Mitteilungen von Geheimdienstchef Berija an Stalin und vielem anderen mehr.

Den größten Fund machte Beevor mit den Tagebuchnotizen des Romanciers und Essayisten Wassili Grossman, der für ihn zu einem wichtigen Kronzeugen der geschilderten Gräuel wird, auch zu einem unverzichtbaren Begleiter durch den Kriegsalltag aus sowjetischer Perspektive. Weitere Authentizität gewinnt er für seine Erzählung durch die Befragung von über 50 Überlebenden vor allem auf russischer und deutscher Seite, Militärs wie Zivilisten, die ihm für den Gang der Geschichte neue, teils beklemmende, teils anrührende Details liefern.

Eine Zeugin beispielsweise hat er in Moskau gesprochen, die etwa unseren Kenntnisstand über die Auffindung von Hitlers und Eva Brauns Leichen endlich aus dem Nebel von Vermutungen ins gesicherte Feld der Fakten übertragen kann. Jelena Rschevskaja, Dolmetscherin bei der Gegenaufklärung, war anwesend, als die Smersch-Leute am 5. Mai endlich die verkohlten Überreste des Führers und seiner Gefährtin auf dem Gelände der Reichskanzlei aufstöberten. Es fiel dann wenige Tage später dieser Frau als Erster zu, Hitlers Gebiss aufzubewahren, "in einem mit roter Seide ausgeschlagenen Kästchen, wie man es zum Verwahren von billigem Schmuck gerne verwendet". Da Stalin das Auffinden Hitlers selbst Marschall Schukow gegenüber verheimlicht sehen wollte (der erst 1965 erfuhr, wie sehr der Generalissimus ihn in dieser Frage hinters Licht geführt hatte), fand sich die Rschevskaja am 8. Mai mit ihrem Geheimnis belastet in der Runde einer spontanen Siegesfeier wieder, "wo sie mit der einen Hand den Soldaten einschenkte und mit der anderen ihr rotes Kästchen fest umklammert hielt".

Wann immer die Tathergänge der Vergewaltigungen nach vorn drängen, erstirbt der Erzähler wie in klinischer Korrektheit. Nur an einer Stelle kann sich Beevor nicht enthalten zu urteilen. Er behandelt ein von ihm aufgefundenes Memorandum des stellvertretenden politischen Leiters bei der Ersten Weißrussischen Front, Tsygankow, an den sowjetischen Jugendverband Komsomol; sogar Stalins Vertrauter Malenkow hat von diesem Bericht Kenntnis erhalten. Darin wird schonungslos von reihenhaften Gruppenvergehen an russischen, ukrainischen und polnischen Frauen berichtet, die im ostpreußischen Bunslau in Kriegsgefangenschaft gelebt hatten und für ihre "Befreiung" mit Schändung bezahlen mussten. Die Propaganda hatte behauptet, kriegsverschleppte Frauen, die nicht durch Selbstmord aus dem Leben geschieden waren, hätten sich offenbar "an die Deutschen verkauft" und seien daher so gut wie vogelfrei.

Beevor merkt an, dass allein durch solche und viele ähnliche Vorkommnisse "jeder Versuch der Sowjetunion unterminiert wurde, die Vergehen der Roten Armee als Racheakte gegen Deutsche zu rechtfertigen." Das konnte auch deshalb kaum aufrechterhalten werden, weil - wie der Autor immer wieder dokumentiert - einfach alle den Vergewaltigungsorgien anheim fielen - selbst Insassinnen von gerade befreiten Konzentrationslagern oder Jüdinnen, die sich in Berlin, nach langer Zeit des Versteckens, den "Befreiern" zu erkennen gaben.

Im Muster der Übergriffe sieht der Historiker vier Entwicklungsstufen. Die erste, beim Einfall in Ostpreußen, war von geradezu animalischer Violenz geprägt. Der einfache Rotarmist, selbst Opfer menschenunwürdiger Behandlung durch seine Vorgesetzten, war vielfach herabgesunken auf vor-zivilisatorische Existenz. Verlogen flößten ihm die ideologischen Kommissare obendrein die de-sexua- lisierende Mär der reinen Hingabe an den großen Führer Stalin ein. Das sprang nun in sein Gegenteil um, suchte und fand Kompensation in Orgien grausamer Enthemmung. Gleichzeitig brach sich ein besonders aktueller Affekt Bahn, als man entdeckte, wie wohlhabend, sauber und fortschrittlich die Deutschen in ihren eigenen Landstrichen doch lebten. Dass eine Gesellschaft auf - verglichen mit Russland - so hohem Niveau es für nötig befunden hatte, die Sowjetunion auch noch zu überfallen, "steigerte die Rage auf alles Deutsche ins Unermessliche".

Die zweite Stufe sieht Beevor in Berlin erreicht. Inzwischen war die erste animalische Rohheit bedient und der Rotarmist wurde wählerischer - in der Frau sah er jetzt so etwas wie die sexuelle Beute in einem gewonnenen Krieg. Auf der dritten Stufe erhöhte sich die Not der potenziell Gefährdeten, weil jetzt vielfach Hungersnot und die Sorgen um die Kinder sie trieben, "einen Pakt fürs Essen zu schließen". Auf der letzten Stufe schließlich suchten viele Verzweifelte durch freiwillige Hingabe nach individueller Protektion vor weiteren Gruppenvergewaltigungen; der Sowjetsoldat, oft ein Offizier, nahm sich eine "Besatzungsfrau" als Austausch für seine vorher unterhaltene "Kampagnenfrau" - Russinnen aus dem das Militär begleitenden Personal.

Jedenfalls belegt dieses Buch mit zwingender Deutlichkeit, dass der Versuch der Parteioberen, die Hasslinie Ilja Ehrenburgs abzubrechen und in einem "Prawda"-Artikel vom 14. April 1945 auf zukünftige bessere Beziehungen zum deutschen Volk zu setzen, viel zu spät kam und so gut wie wirkungslos blieb. Beutemachen, Alkohol und die kaum mehr aufzuholende schiere Verrohung prägten weiter das Bild, bis in den Sommer 1945. "Selten ist ein besiegtes Volk in solch geradezu epischem Maßstab missbraucht worden", schreibt Robert Winder in seiner Rezension im "New Statesman". 1,9 Millionen Frauen und Mädchen deutscher Nationalität ereilte dieses Schicksal.

Gegenüber Joachim Fests vor wenigen Wochen vorgelegtem Essay-kurzem Bericht "Der Untergang - Hitler und das Ende des Dritten Reiches" kommt Beevor mit der Wucht ausholender Geschichtsschreibung daher, eine Sintflut an Fakten, wo Fest wie unter Studiobeleuchtung ausschnitthaft nur die letzten Aprilwochen 1945 nacherzählt und nachinterpretiert. Das ist beklemmend genug. Der Brite will weniger interpretieren als bloßlegen, und zwar die Konturen des Geschehens seit Beginn 1945. Diesem Schwindel erregenden Epos hält man passagenweise kaum stand.

Ist es Zufall, dass sich Bücher wie dieses gerade jetzt anmelden, die in Deutschland lange verdrängte Leiderfahrung bestätigend? Hier betreten wir schwieriges Gelände. Deutschland mag einen Günter Grass hervorbringen, der es "im Krebsgang" an die versunkene Wilhelm Gustloff heranführt, an die Schreie Tausender Unschuldiger, die mit ihr zu Grunde gingen. Aber eine historiographische Erforschung des deutschen Leidensweges, unter Zuhilfenahme russischer Quellen wie in Beevors Buch - das wird wohl noch lange nicht vordringlich unsere Aufgabe sein können, so dringend jede Aufarbeitung sein mag. Zu stark stünde uns die Spur des Täters im Wege, der Taten, die gerade in der Sowjetunion von Deutschen verübt worden sind.

Aber damit ist die Geschichte natürlich nicht von ihren düsteren Geheimnissen erlöst, und Russland, das heutige Russland, nicht davon entbunden, seinerseits eines Tages in den Spiegel schauen und die Dinge aufrufen zu müssen, die in seinem Namen begangen wurden. Dass ein Brite es tut, ist für alle Beteiligten vielleicht die im Augenblick "verträglichste" Lösung - obwohl man sich auch da nichts vormachen darf. Als die ersten Berichte über "Berlin - The Downfall 1945" in die britischen Medien drangen, war es niemand anderes als der russische Botschafter in London, Grigori Karasin, der sich in einem wütenden Leserbrief an den "Daily Telegraph" über die "Blasphemie" dieses Buches entrüstete, "diese Verleumdung gegenüber einem Volk, das die Welt vom Nazismus errettet hat".

Vielleicht gehört zur ruhigen Verarbeitung eigener Leiden die komplementäre Besinnung: der Mut zur Wahrheit über das, was man anderen zugefügt hat. Beevors Buch wird daher vor allem für Russland zu einer brisanten Herausforderung - auf den Großen Vaterländischen Krieg durfte bisher kein Schatten fallen. Wird es eine russische Übersetzung geben? Werden die Archive, die der Brite noch hat einsehen dürfen, jetzt wieder verschlossen, oder - im Gegenteil - weiter geöffnet bleiben? Nur aus Letzterem aber kann jener "Gewinn für immer" fließen, den schon Thukydides als den Zweck wahrhaftiger Geschichtsschreibung pries.

Antony Beevors Buch hat in Großbritannien längst die Bestsellerlisten erobert. In deutscher Übersetzung erscheint "Berlin - The Downfall 1945" im Herbst. Die mit Wucht ausholende Geschichtsschreibung geht über das Buch "Der Untergang - Hitler und das Ende des Dritten Reiches" von Joachim Fest weit hinaus

 

"Der Chef brennt!"
 

Antony Beevors spannende Schilderung über den Untergang des Deutschen Reiches

AntonyBeevor: Berlin 1945. Das Ende. C. Bertelsmann Verlag, München 2002. 543 Seiten, 26,- [Euro].

ARNULF BARING

Der Titel täuscht. Das Werk behandelt nicht allein den russischen Endkampf um und in Berlin, sondern das Ende des "Großdeutschen Reiches" - und nicht nur an der Ostfront, obwohl ihr naturgemäß breiter Raum gegeben wird, sondern auch im Westen. Obendrein kommen Entscheidungen in den militärischen Hauptquartieren und den Regierungszentralen der beteiligten Großmächte zur Sprache. Daher erlebt der Leser nicht nur Hitlers Werdegang in den letzten Monaten seines Lebens, sondern auch Weichenstellungen bei Eisenhower, im Kreml Stalins oder auf der Jalta-Konferenz vom Februar 1945 im Süden der Krim.

Es ist also ein breites Panorama, das Beevor vor uns ausmalt. Besonders verdienstvoll ist es, daß er nicht nur Kampfhandlungen und Entschlüsse des militärischen Spitzenpersonals erwähnt, sondern auch dem Schicksal einfacher Leute breiten Raum gibt. Es rührt an, wie oft er der Toten gedenkt, nicht nur unter den Soldaten - etwa auf den Seelower Höhen oder später, besonders schrecklich, die Massaker im Kessel von Halbe -, sondern auch unter der Zivilbevölkerung, den Frauen, Kindern, Greisen. Beevor spricht von 1,4 Millionen Toten in jenen Monaten. Sie starben in den Trecks, die häufig von russischen Panzern zusammengeschossen wurden, oder etwa bei der Flucht über das frische Haff, als sie - von Tieffliegern bombardiert - im Wasser versanken. Breit gibt er dem Leiden gepeinigter deutscher Frauen Raum. Vermutlich wurden zwei Millionen von ihnen vergewaltigt - eine der größten Massendemütigungen der bekannten Geschichte. Dieses Schicksal ereilte übrigens auch polnische Frauen, ja selbst viele der nach Deutschland verschleppten ukrainischen oder weißrussischen Zwangsarbeiterinnen.

Der Autor war britischer Offizier, wurde früh zum Romancier und ist ein erfolgreicher Sachbuchautor. Sein Bestseller "Stalingrad" wurde in neunzehn Sprachen übersetzt. Vor diesem Hintergrund muß man auch sein neues Buch sehen, das nicht den Anspruch erhebt, als wissenschaftliches Standardwerk betrachtet zu werden. Ebensowenig hat Beevor den Ehrgeiz, Ereignisabläufe dramatisch zuzuspitzen. Er bietet eine weit ausholende Reportage, die gelegentlich langatmig wird, ja fahrig wirkt, sich ab und an verzettelt. Doch kleine Ungenauigkeiten können den positiven Gesamteindruck nicht schmälern. Man folgt dem Untergang des Reiches mit anhaltender Spannung. Während die Soldaten vor unseren Augen kämpfen, Deutsche wie Russen in Massen sterben und die Bevölkerung leidet, bleibt das Geschehen auf den höheren Ebenen von solchen Schrecken frei. In den Armeestäben, auch auf deutscher Seite, wird bis ganz zuletzt ruhig weitergearbeitet, an den Regierungssitzen ohnehin. So greift Stalin tagtäglich mehrfach vom Kreml aus in die Detailplanung vor Ort ein, stachelt beispielsweise Schukow und Konjew gegeneinander auf, hetzt sie, ermuntert jeden von ihnen, Berlin als erster zu erreichen und zu erobern.

Verglichen mit Stalin, der das Geschehen über viele hundert Kilometer verfolgt, ist Hitler dem Geschehen bis auf eine Autostunde nahe. Aber auch er fühlt sich sicher. Hinter den meterdicken Betonwänden seines Bunkers im Garten der Reichskanzlei hängt er immer noch Siegesphantasien mit Hilfe imaginärer Armeen an, bis ihn der lauter und lauter hörbare Geschützlärm an das nahende Ende erinnert. Immerhin kann er seinen 56. Geburtstag am 20. April noch halbwegs ordentlich im Kreise enger Vertrauter begehen. "Kurz vor Mittag wurden Göring, Ribbentrop, Dönitz, Himmler, Kaltenbrunner, Speer, Keitel, Jodl und Krebs zur Reichskanzlei gebracht. Dort schritten sie durch die riesigen, mit spiegelglattem Marmor ausgekleideten Säle, deren Türen fast bis zur Decke reichten. Dieses filmgerechte Denkmal zur Schau gestellter Macht wirkte in seinem halb zerstörten Zustand beinahe grotesk, aber immer noch furchteinflößend. Für viele der Gratulanten, die an jenem Tag ihre Glückwünsche darbrachten, wirkte Hitler um mindestens zwanzig Jahre gealtert. Sie drängten den ,Führer', sich nach Bayern abzusetzen, solange dies noch möglich war. Aber Hitler erklärte im Brustton der Überzeugung, die Russen erwarte vor Berlin ihre blutigste Niederlage." Zwei Tage später jedoch brach er bei der militärischen Mittagsbesprechung nach einem Tobsuchtsanfall zusammen: "Er fiel völlig erschöpft in einen Sessel und schluchzte auf. Zum ersten Mal sagte er unumwunden, der Krieg sei nun verloren." Acht Tage danach setzte er seinem Leben ein Ende. "Der Chef brennt!" Ob er das sehen wolle, rief einer der SS-Wachmänner seinem Oberscharführer zu.

Ein besonderer Vorzug des Buches sind solche Skizzen, die Situationen und Personen anschaulich begreifbar machen. Wir sehen etwa Goebbels, Himmler oder Göring, natürlich auch Hitler, auf beklemmende Weise vor uns. Realitätsfern und rücksichtslos selbstbezogen, wie sie alle waren, blieb ihnen völlig gleichgültig, was aus den Lebensgrundlagen des Landes und aus der deutschen Bevölkerung wurde. Wichtig war nur noch, die eigene Haut zu retten oder sich, wie Hitler und Goebbels, einen theatralischen Abgang zu verschaffen.

Es macht nachdenklich, daß hier ein Ausländer ein Vorhaben gewagt hat, dem deutsche Autoren, zumal die Gelehrten vom Fach, bisher erstaunlicherweise ausgewichen sind: Lesern, zumal jungen, die größte Katastrophe nahezubringen, die die Deutschen in den vielen Jahrhunderten ihrer langen Geschichte, vielleicht vom Dreißigjährigen Krieg abgesehen, erlebt haben.

Viele auffallende Einzelheiten werden Lesern neu sein. Wer weiß schon, welche heroische Rolle gerade Franzosen, Angehörige der SS-Division "Charlemagne", ganz am Ende spielten? Überraschen wird auch viele Leser, wie sich die Eroberung Ostdeutschlands in russischen Augen spiegelte. Denn Beevor hat nicht nur dortige Archive durchstöbert und schriftliche Quellen genutzt, sondern mit ganz unterschiedlichen sowjetischen Kriegsteilnehmern ausführliche Gespräche geführt. Sie sind seinem Buch sehr zugute gekommen.

Beevor behauptet, ein wichtiges Motiv für den verbissenen Wunsch Stalins, Berlin vor den Westmächten zu erobern, sei seine Hoffnung auf Uranfunde in der Dahlemer Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft gewesen, mit denen er das eigene Atombombenprojekt voranzubringen gedachte. Von Stalin stammt auch der kuriose Gedanke, den seit 1933 ausgebrannten Reichstag als das Symbol des "Dritten Reiches" zu betrachten und daher durch eine demonstrative Flaggenhissung symbolisch in Besitz zu nehmen. An sich hätte es doch viel näher gelegen, das rote Banner über Hitlers Neuer Reichskanzlei wehen zu lassen.

Beklommen liest man, daß, als alles zu Ende war, der Aufbau einer Zivilverwaltung in den russisch besetzten Gebieten Deutschlands dem NKWD, also der Geheimpolizei, anvertraut wurde. Sie sollte in erster Linie "feindliche Elemente" beseitigen. Schon vom ersten Augenblick an wollte Moskau durch die Ausschaltung aller derer, die als potentielle Gegner des Bolschewismus in Frage kamen, der Sowjetisierung den Weg bereiten.
 

Montag, 30. September 2002

Im Rausch der Rache

Kriegsgräuel 1945 Erstmals geben russische Geheimarchive preis, wie deutsche Frauen von Rotarmisten misshandelt wurden. Es war alles noch viel schlimmer, als bisher bekannt, schreibt der britische Historiker Antony Beevor in einem neuen Buch.

Von Peter Kruse

Hamburg - "Wie es nun einmal ist und immer sein wird, solange das Wesen des Menschen gleich bleibt: In Frieden und Wohlstand leben Menschen nach besseren Grundsätzen. Der Krieg aber, der die Annehmlichkeiten raubt, ist ein harter Lehrmeister und gleicht die Leidenschaften der Menschen den Gegebenheiten des Augenblicks an. Es wüten Zwietracht und maßlose Rache . . ."

Thukydides, Athener Chronist des Peloponnesischen Krieges


In Deutschland leben Männer und Frauen, die niemals ein Wort über ihre Väter hörten, weil ihre Mütter vor Scham geschwiegen haben. Sie sind Geschöpfe einer dunklen Vergangenheit, sie wurden zwischen Januar und Mai 1945 in einem Rausch grausamer Rache gezeugt und in eine Welt der Zerstörung hineingeboren. Sie sind heute 56 und 57 Jahre alt, und sie wissen nicht, dass sie halbe Russen sind, Kinder vergewaltigter Frauen.

57 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, der in Legionen von Büchern dokumentiert, analysiert und gewertet ist, und dem eigentlich nichts mehr hinzuzufügen wäre, wird ein neues Werk noch einmal die Gefühle der Menschen aufwühlen. Das Buch des britischen Historikers und Schriftstellers Antony Beevor, " Berlin 1945: Das Ende", es erscheint im September in deutscher Übersetzung, hat Quellen erschlossen, die bis heute unzugänglich waren. Beevor durfte in russischen Archiven Dokumente und Niederschriften von russischen Augenzeugen lesen, die seit Stalin in den geheimen Dokumentenbunkern von Moskau und Podolsk lagerten - ein Archiv des Verschweigens, aus der Furcht, es würde ein Schatten auf den "Großen Vaterländischen Krieg" der Sowjetunion gegen das Hitlerreich fallen.

Beevors Beschreibung der letzten 115 Tage des NS-Reiches, das er nüchtern "Das Ende" nennt, ist auch ein Synonym für das Ende von allem, was wir unter Zivilisation verstehen. Der abgrundtiefen Unmenschlichkeit, mit der Hitler Leid über Europas Völker brachte, folgte die furchtbare Rache der Überfallenen.

Berlin, Weihnachten 1944: Die Menschen leben in Bunkern, am Tage bombardieren die Amerikaner die Stadt, in der Nacht die Engländer. Jeder lebt in der Gewissheit, dass alles zusammenbricht, das Dritte Reich und die persönliche Existenz. Die Bunker sind so voll, man zündet Kerzen an, um zu prüfen, ob noch genug Sauerstoff vorhanden ist. Das Kürzel LSR als Hinweis für Luftschutzraum haben die Bunkerbewohner längst in "Lernt schnell Russisch" umbenannt. Es regiert der Galgenhumor. Die Empfehlung zum Fest lautet: "Denk praktisch, schenk einen Sarg."

Weit im Osten versammelt sich in diesen Stunden eine gewaltige Streitmacht. Hinter den drei Sowjet-Marschällen Rokossowski, Schukow und Konjew stehen 2,5 Millionen Soldaten der Roten Armee, 41 600 Kanonen, 6250 Panzer und 7500 Flugzeuge. Die Überlegenheit der Russen gegenüber Hitlers Armeen im Osten: an Infanterie 11:1, an Panzern 7:1, an Geschützen 20:1 und an Flugzeugen 20:1. Das Ziel heißt Berlin. Hitler glaubt Berichten über diesen Aufmarsch nicht: "Das ist der größte Bluff seit Dschingis Khan."

Am 12. Januar 1945 um 5 Uhr bei eisigen Temperaturen und dichtem Schneetreiben ("Russenwetter") bricht der Feuersturm los, und mit ihm beginnt der lange Leidensweg für Hunderttausende deutscher Mädchen, Frauen und Greisinnen. Auf russischen Hinweisschildern an der Grenze zu Ostpreußen stehen Schilder: "Soldat, du betrittst die Höhle der faschistischen Bestie!" Auf den Sowjetpanzern steht "Rache und Tod den deutschen Okkupanten!" Stalins Kriegspropagandist, der Schriftsteller Ilja Ehrenburg, spricht in der Armeezeitschrift von der deutschen Frau als "blonde Hexe" und ruft nach "Rache an den Deutschen".

Der sowjetische Offizier und Dramatiker Sachar Agranenko begleitet die Rote Armee in Ostpreußen und schreibt in sein Tagebuch: "Sowjetische Soldaten halten nichts von Verhältnissen zu einzelnen deutschen Frauen. Neun, zehn, zwölf Mann zur gleichen Zeit - vergewaltigt wird im Kollektiv."

Sowjetische Offiziere, die die Gräuel missbilligen, trauen sich nicht, sie beim Namen zu nennen. Sie sprechen vorsichtig von "unmoralischen Vorkommnissen".

Kreml-Herr Stalin ist über die Ausschreitungen an der Front informiert. Er erhält einen Lagebericht, in dem es heißt: "Viele Deutsche erklären, dass alle Frauen, die in Ostpreußen zurückgeblieben sind, von Soldaten der Roten Armee vergewaltigt werden. Selbst Zwölfjährige werden nicht verschont." In einem Bericht der 43. Armee wird eine Frau namens Emma Korn genannt, "die von zwölf Soldaten nacheinander vergewaltigt wurde".

Der Politoffizier eines Panzerregiments wird nach der Kapitulation am 8. Mai 1945 damit prahlen, dass die Rote Armee in Deutschland "zwei Millionen Kinder hinterlassen" habe.

Wie sind diese Gräuel, die die Schlachtfelder von Ostpreußen bis nach Berlin zwischen Januar und Mai 1945 säumten, zu erklären? Der sowjetische Schriftsteller Wassili Grossman hat Stalins Armeen auf dem Weg nach Berlin als Tagebuchschreiber begleitet. Er kommt zu dem Schluss: "Die extreme Gewalt lähmte den menschlichen Geist auf dem ganzen Kontinent."

Der britische Historiker Beevor erklärt die Massenvergewaltigungen mit der desexualisierenden Politik der Stalinzeit. Der Diktator verbannte alles Sexuelle aus der sowjetischen Gesellschaft. Wenn schon Gefühle, dann waren sie nur in der Hingabe an den großen Führer im Kreml erlaubt. Zudem waren die riesigen Heere einfacher und ungebildeter Rotarmisten menschenunwürdigen Drangsalierungen durch ihre Offiziere ausgesetzt. Als Drittes kam der propagandistisch gesteuerte Hass auf alles, was deutsch ist, hinzu und entlud sich bei Betreten des Nazireiches in grausamer Enthemmung.

Auch eine Besonderheit in der Roten Armee schürte die Begierde der einfachen Soldaten. Stalin hatte seinen Offizieren erlaubt, sich eine "Frontfrau"aus den Reihen des Nachrichtenpersonals, der Schreiberinnen und Krankenschwestern, zu halten. Die junge Soldatin Musja Annenkowa schrieb nach Hause: "Und das nennt sich Liebe! Kein echtes Gefühl, nur animalische Lust."

Schriftsteller Grossman wollte das alles erst nicht wahrhaben, als er zur kämpfenden Truppe abkommandiert wurde. Doch nach der Eroberung Schwerins muss er in seinem Tagebuch notieren: "Ich sah den Schrecken in den Augen von Frauen und Mädchen. Furchtbare Dinge werden den deutschen Frauen angetan. Ein kultivierter Deutscher erklärte, dass seine Frau an diesem Tag von zehn Männern vergewaltigt wurde."

Auch diese Szene steht in Grossmans Erinnerungen: "Eine junge Mutter wurde in einer Scheune mehrfach missbraucht. Ihre Verwandten kamen und baten die Soldaten, eine Pause zu machen, damit sie ihr Kind stillen könnte. All das passierte ganz in der Nähe des Hauptquartiers unter den Augen der Offiziere."

Ungefähr zu diesem Zeitpunkt der Tagebucheintragungen des Schriftstellers heißt es in einem Tagesbefehl Heinrich Himmlers an die Wehrmacht: "Der Herrgott hat noch nie unser Volk verlassen."

In dieser zufälligen Duplizität zeigte sich der ganze Wahnsinn dieser Zeit, in der deutsche Frauen sich sogar als verfolgte Jüdinnen ausgaben, im Glauben, sich vor sowjetischen Übergriffen schützen zu können. Die Eroberer hatten nur eine Antwort: "Frau ist Frau."

Als die Waffen ruhten, die Trümmer deutscher Städte noch glühten und die Menschen aus ihren Kellern hervorkrochen, gab eine Berlinerin ihrem unerwartet von der Front heimgekehrten Freund ein Tagebuch. Der junge Mann las, dass seine Freundin von Russen vergewaltigt worden war. Er starrte sie an, als sei sie wahnsinnig geworden. Er erhob sich und ging, um etwas zu essen zu besorgen, wie er sagte. Sie sah ihn nicht wieder.

Vergewaltigte Frauen, die schwanger wurden, haben in ihrer Verzweiflung Trost in der traurigen Tatsache gesucht, dass der Mann des Hauses im Krieg gefallen ist. Andere ließen die "Russenfrucht" abtreiben, viele, die die Kinder der Gewalt zur Welt brachten, trennten sich von ihren Babys in der Klinik, weil sie wussten, dass ihr Ehemann, Verlobter oder Freund niemals akzeptieren würde, was geschehen ist. Und eine unbekannte Zahl von Frauen zog ihre Russenkinder auf - und schweigt bis heute. Wie viele sich in späteren Jahren, als die Kinder russischer Väter schon groß waren, offenbarten, auch das ist unbekannt.

Es ist in gewisser Weise beruhigend für das Deutschland von heute, dass der Autor Antony Beevor ein Engländer ist. Wäre es ein Deutscher gewesen, dem sich die Geheimarchive in Russland geöffnet hätten, wäre ein neuer Historiker-Streit in diesem Land vehement ausgebrochen. Der Tenor: Das vereinigte Deutschland wolle endgültig einen Strich unter die Vergangenheit ziehen, indem begangenes Unrecht mit dem Unrecht anderer aufgerechnet wird. Das hat uns der Brite Antony Beevor erspart.

erschienen am 12. Aug 2002 in Kultur / Medien

 

30-5-2002

 

Geschichte ist unteilbar

Zur Debatte um das deutsche Selbstverständnis

Von Johann Michael Möller

Können wir unsere Geschichte nur ganz oder gar nicht haben? Auf eine merkwürdige Weise kreuzen sich in jüngster Zeit Vorgänge, die den Beobachter der englischen Zeitschrift «Economist» jetzt zu der Bemerkung veranlasste, das wiedervereinigte Deutschland verliere die Scheu vor sich selbst und erlange sein nationales Selbstbewusstsein zurück. Indizien dafür gibt

es viele. Das forschere Agieren auf der internationalen Bühne gehört dazu; die deutlichere Formulierung nationaler Interessen, aber auch die etwas sentimentale Hinwendung zur preußisch-deutschen Geschichte, die den Umzug der Hauptstadt nach Berlin begleitete.

Nach einem Dutzend Jahren des prosaischen Wiederaufbaus im Osten, der Reparatur von Telefonnetzen und Fernverkehrstraßen, der Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und des Geldtransfers beginnt die Berliner Republik über sich und ihren Platz in der Geschichte nachzudenken. Das ist nach einem halben Jahrhundert der inneren Erkaltung, der flüchtigen Präsenz, der eher kontingenten Beziehung zur eigenen Herkunft ein bemerkenswerter, wenngleich verständlicher Vorgang. Die Wunden scheinen zu heilen. Aber können sie das wahrhaftig?

Zum Wiederempfinden dieser eigenen Geschichte gehört auch die nicht larmoyante, nicht von den Narben der Kriegsheimkehrerjahre verunstaltete, heute fast überraschende Entdeckung der Opferrolle in jenen schrecklichsten Jahren deutscher Geschichte, die uns vor allem als Täter zeichneten: die literarische Annäherung von Günter Grass an das dunkle Kapitel der Vertreibung, die öffentliche Problematisierung der Benesch-Dekrete oder die epische Darstellung der Massenvergewaltigungen durch die Rote Armee. Dass diese uns der britische Autor Antony Beevor gibt, ändert nichts an ihrer Bedeutung für die deutsche Selbsterkenntnis. Und wir vernehmen den Rezensenten Robert Winder im «New Statesman» wie die Stimme des wahrhaft Fremden: Selten sei «ein besiegtes Volk in solch geradezu epischem Maßstab missbraucht worden», wie die Deutschen im Osten in den ersten Monaten des Jahres 1945.

Es ist wie das langsame Erwachen aus einer langen Phase kollektiver Amnesie, ein zögerndes Abtasten von Geschwüren, die man eines Morgens erschreckt an sich entdeckt. Der eigene Leib tut plötzlich wieder weh. Es ist nicht das triumphierende «Wir auch», das den unsäglichen Versuchen der Vergangenheit anhaftete, das große Morden auch noch aufzurechnen. Es ist die eher beklemmende Erkenntnis: so also tut das weh, was wir den anderen Menschen angetan haben.

Diese Form der Rückbesinnung scheint nichts Reaktionäres, auch gar nichts Leichtfertiges in sich zu bergen. Das könnte ein Trugschluss gewesen sein. Es war wohl naiv zu glauben, dass uns unsere Geschichte nur in einer reinen, geläuterten, mithin ganz aufgehellten Form besuchen kommen würde. Was uns Jürgen Möllemann, was uns womöglich gar auch Martin Walser da beschert, ist eben die Begegnung mit der ganzen deutschen Geschichte, auch mit ihren hässlichen, unappetitlichen Zügen. Aber das hat auch sein Gutes. Denn es hilft zu unterscheiden, hilft streng die Dinge zu sortieren. Es gibt eben keine einfache Rückkehr in die Disney-Version unserer Geschichte, kein harmlos-freundliches sich Wiedereinrichten hinter den Fassaden aufgebauter Kirchen und Preußen-Schlösser.

Normalisierung heißt tägliche Versuchung, tägliche Provokation, täglich wache Gelassenheit. Jetzt, da wir die beschützende Werkstatt der mentalen Nachkriegsordnung verlassen müssen, wird sich zeigen, ob wir den Fährnissen und Zumutungen einer freiheitlichen Gesellschaft gewachsen sind. Ob unsere intellektuelle Integrität und moralische Gangsicherheit ausreicht, um mit unserer Vergangenheit weder herumzuspielen, noch mit ihr frivol und zynisch zu hantieren. Erst wenn das Leiden an der Geschichte zur Erkenntnis geworden ist, wenn wir das Wissen um das Geschehene tragen und ertragen können und die Erinnerung über den letzten Lebenden der Erlebensgeneration hinaus fortlebt, dann sind wir wirklich in den Strom unserer eigenen Geschichte zurückgekehrt. Wir können diese Geschichte nur ganz haben. Im Guten wie im Bösen. Ein Drittes gibt es nicht.

 

Samstag, 02. November 2002     Berlin, 14:31 Uhr

Wie 1945 die Welt unterging

Der Militärhistoriker Antony Beevor zeigt den blutigen Mahlstrom, der das mörderische Dritte Reich verschlang

Von Johann Michael Möller

Dies ist keine erbauliche Lektüre. Auch, wer sich für hartgesotten hält, wird Antony Beevors Standardwerk (denn das ist es schon jetzt) über die letzten Tage des Dritten Reiches gelegentlich aus der Hand legen müssen. "So wird Berlin eines Tages auch ausselhen!", sagte ein russischer Offizier angesichts der rauchenden Trümmer von Stalingrad. Beevor schildert, wie die Rote Armee an den Deutschen Rache nahm, schildert Vergewaltigungsexzesse, das Leid der Zivilbevölkerung und die Gewissenlosigkeit der Nazis, denen die eigenen "Volksgenossen" letzlich egal waren.

Hannah Arendt, als sie nach dem Krieg das zerstörte und besetzte Deutschland besuchte, registrierte tiefst befremdet eine auffällig renitente Geschäftsmäßigkeit, die neben den täglichen Anstrengungen des schieren Überlebens keinen Platz für die Gefühle des Entsetzens und der Trauer zu kennen schien. Ein anderer Beobachter - Nachfahre einer alten jüdischen Gelehrtenfamilie - sah wenige Jahre später bei seiner Rückkehr aus der englischen Emigration Deutschland in einem Meer von Selbstmitleid versinken. Die geschlagene und geteilte Nation, so sein Befund, habe vor allem Trauer über das eigene Schicksal empfunden. Dies vernimmt sich heute wie ein Bericht aus fernen Tagen. Spätestens in den sechziger Jahren begann eine immense und in jeder Hinsicht schuldbewusste Auseinandersetzung mit der deutschen Tätergeschichte.

Doch haftete dieser "Aufarbeitung" etwas merkwürdig Akademisches an, so als ob von einer Vergangenheit die Rede sei, die man zwar verabscheute, mit der man aber nicht mehr das geringste zu schaffen hatte. Bei aller Betonung des Verantwortungskontinuums war es doch eine ferne Geschichte, von der man durch einen tiefen Generationenriss getrennt zu sein schien. Doch auch dies hat sich durch die Wiedervereinigung wohl geändert. Die düstersten Schauplätze dieser jüngsten Geschichte sind wieder begehbar geworden, sind hinter der großen geistigen Demarkationslinie der Nachkriegsjahre wieder aufgetaucht und auf die Distanz eines Sonntagnachmittagsausflugs näher gerückt. Buchenwald und Sachsenhausen, aber auch die Seelower Höhen im Oderbruch, Zossen und Halbe sind keine Namen aus dem Geschichtsbuch mehr, sondern Orte in der nächsten Umgebung der Hauptstadt Berlin.

Vielleicht ist es diese wiedergewonnene, ganz räumliche Verbindung mit unserer jüngsten Geschichte, die noch einmal nach einer neuen, viel intimeren Betrachtung verlangt. Denn die im Grenzraum um Berlin verborgenen Orte, aber auch die Kriegsbrachen im Herzen der Stadt waren der Schauplatz eines Weltuntergangs, wie ihn die Geschichte kaum je erlebt hat.

Diesem Inferno hat Antony Beevor ein großes und in seinem Detailreichtum beeindruckendes Buch gewidmet. Es ist das in bester Tradition britischer Militärgeschichte geschriebene Epos eines unvorstellbaren Ringens, dessen moralische Unabänderlichkeit jeden Moment durchschimmert und doch den Blick freigibt auf die ungezählten Tragödien auf allen Seiten. Das dürre Wort vom Untergang des Dritten Reiches füllt Beevor mit tausendfachem Leben, oder besser: mit tausendfachem Sterben. Es dient ihm nicht als bloßes Material für welthistorische Betrachtungen. Es ist sein eigentlicher Gegenstand, den er kaum einmal zu grundsätzlichen Überlegungen oder gar eleganten Reflexionen missbraucht. Wo er es dennoch versucht, wirkt es eher unbeholfen. So bleibt seine krude Kriegspathologie der Massenvergewaltigungen weit hinter der objektiven Schärfe seiner Schilderungen zurück. Dass der Umstand, sich in den zerbombten Ruinen noch nicht einmal mehr waschen zu können, den Ekel der geschändeten Frauen ins Unerträglichste steigerte, ist ein Detail, das keiner Erläuterung mehr bedarf.

Beevors Buch überzeugt genau an solchen Stellen. Dort etwa, wo er vom Erstaunen eines der sowjetischen Divisionskommandeure berichtet, der deutschen Kindern inmitten einer brennenden Stadt begegnet und plötzlich erkennen muss, "dass sie genauso weinen wie unsere Kinder". Das war die andere Wahrheit zu Ilja Ehrenburgs Terrorpropaganda gegen die "deutschen Bestien". Beevor kommt hier der Zugang zu sowjetischen Archiven und Augenzeugen zugute, die lange hinter dem Schleier der offiziellen Moskauer Geschichtsschreibung des großen vaterländischen Krieges verborgen geblieben waren. Er nutzt sie immer wieder zu überraschenden Brechungen. Auch dort, wo die Urteile längst gefallen sind. Bei Strausberg kurz vor den Toren von Berlin entdeckt eine junge norwegische Krankenschwester ihren Geliebten von der Waffen-SS unter den frisch Verwundeten. "Sie umschlang ihn, bettete seinen Kopf in ihren Schoß und blieb bei ihm, bis er an seinen schweren Kopfverletzungen starb." Auch das eine Facette jener gefürchteten Einheiten, die immer wieder durch fanatische Grausamkeit von sich reden gemacht hatten und in den Tagen des Untergangs von Berlin zur Hälfte aus europäischen Freiwilligen bestand.

Man möchte mehr über die einzelnen Schicksale erfahren, die Beevor da schemenhaften im Pulverdampf der größten Materialschlacht der Geschichte nachzeichnet. Die Tragik Wlassows und seiner Freiwilligenarmee bleibt genauso blass, wie die Figur des legendären Generals Bersarin, der "bei den Berlinern bald genauso beliebt war wie bei seinen eigenen Leuten". Der Schriftsteller Lew Kopelew, in dem sich das russische Gewissen gegen die Gewaltorgien in den letzten Kriegwochen am frühesten regte, huscht genauso vage durch die Zeilen, wie eine der Kronzeuginnen des Untergangs, Ursula von Kardorff, deren Tagebuchaufzeichnungen vor wenigen Jahren erschienen sind.

Überhaupt verraten manche etwas ungelenken Hinweise, wie der auf den umstrittenen "Heidedichter" Hermann Löns, dass dem Autor der ideen- und sozialgeschichtliche Blick eher fremd ist. Beevor, der in Sandhurst zum Offizier ausgebildet wurde, ist vor allem Militärhistoriker. Dort liegt seine eigentliche Meisterschaft. Sein Buch über den Untergang von Berlin 1945 ist vor allem eine grandiose Schilderung der zusammenbrechenden Ostfront, der Rankünen Stalins, der grotesken Wahrnehmungen der Nazi-Größen und ihrer immer mörderischeren Befehle. Es ist das grauenhafte, das nicht enden wollende Ende, wie Albert Speer einmal weinerlich beklagte, von dem aus Beevor den Zivilisationsbruch der NS-Diktatur erfasst, "sein Unvermögen, sein schwer wiegender Realitätsverlust und seine ganze Unmenschlichkeit".

Aber man wünschte sich bei der Lektüre doch gelegentlich weniger detailgetreue Angaben über Truppenbewegungen und Kaliberweiten als vielmehr die Sprachkraft und dramaturgische Raffinesse eines Joachim Fest. In seiner historischen Skizze über den Untergang des Nazi-Reichs wird das gigantische Ringen noch konsequenter auf jene wahnsinnige Gleichsetzung fokussiert, in der Hitler sein Ende mit dem seines Volkes verband. Auf der einen Seite die gespenstische, geradezu autistische Bunkerwelt unter der neuen Reichkanzlei, in der ein sich mörderisches System immer schneller um sich selbst zu drehen beginnt; auf der anderen Seite der größte Militäraufmarsch der Kriegsgeschichte am Oderbruch - das ist der Spannungsbogen einer historischen Tragödie, an deren Ende weit mehr verloren ging, als das, "was allen sichtbar vor Augen liegt": die Toten, die Trümmerberge und die Verwüstungen über den Kontinent hinweg. Beevor begnügt sich mit diesem Wahrnehmbaren. Er wählt das Epos des Untergangs und beschreibt einen großen, langsam mahlenden Strom, der ein Regime am Ende unter sich begräbt. Darin liegt eine Stärke seines Buches - und zuweilen seine Schwäche.

Am 6. November wird Antony Beevors Buch in der Saarländischen Landesvertretung in Berlin vorgestellt. Die Moderation hat Thomas Kielinger

Antony Beevor: Berlin 1945. Das Ende. Bertelsmann, München. 512 S., 26 E.

 

Mittwoch, 23. Oktober 2002     Berlin, 23:06 Uhr

Und immer wieder: Geschichte!

Weil sich unser Verhältnis zu ihr ändert, weil sie uns verändert

Von Antony Beevor

Die Geschichte wird immer nur vom Ende her geschrieben", klagte Albert Speer einmal voller Bitterkeit während seiner Verhöre nach dem Krieg. Er hasste den Gedanken, dass man das Nazi-Regime nur von seinem endgültigen, grotesken Zusammenbruch her beurteilen würde. Speer weigerte sich einfach anzuerkennen, dass nichts so sehr die wirkliche Anlage einer Diktatur enthüllt wie die Art ihres Endes. Aber auch heute ist dieses Thema von hoher Relevanz, wo sich entwurzelt fühlende junge Menschen, angezogen von der massenhaften Vernichtung gesichtsloser Feinde in Videos und elektronischen Spielen, in Illusionen von absoluter Macht, wenn nicht Bösartigkeit schwelgen.

Kein Land hat freilich mehr getan, den Schrecknissen seiner Vergangenheit ins Auge zu schauen als Deutschland. Bis in die jüngste Historikergeneration hinein wird beispielsweise die Quellenlage zu Gräueltaten der SS oder der Wehrmacht genauestens erforscht. Gelegentlich hat so viel Engagement der Geschichtsschreibung nicht nur gut getan; manche Themen erhielten zuweilen eine zu einfache Schwarz-Weiß-Färbung, wo doch Geschichte nie so ordentlich aufgeht. Im Ausland hört man oft den Vorwurf, die Deutschen drehten sich zu sehr um sich selbst, wie selbstverloren, auch dann, wenn sie mit der Nazi-Ära abrechnen. Doch haben gerade solche Vorwürfe - nicht selten in Witze gekleidet - diese Introspektion, wo sie besteht, eher noch befördert.

Einmal, nach einer Vorlesung über Stalingrad, zu der man mich nach Deutschland eingeladen hatte, kam eine junge Frau zu mir ans Podium; sie wolle, so sagte sie, über die Schuld ihres Landes an Kriegsverbrechen in der Sowjetunion sprechen. Ihr Vater sei Offizier in der Panzerdivision Wiener Neustadt gewesen, habe aber später seine Rolle in der Wehrmacht zutiefst bereut. Er sei dann auch persönlich befreundet gewesen mit dem wohl umstrittensten "Büßer", Graf von Einsiedl. Einsiedl habe ihr, so erzählte mir die Frau, versichert, alle in der Wehrmacht hätten von Anfang an über die Verbrechen in der Sowjetunion gewusst. Dies musste sie mithin für wahr annehmen - obwohl doch Einsiedl selbst in seinen Memoiren gesteht, er habe durchaus nicht klar gesehen in dieser Frage bis zu seinem Damaskus-Erlebnis im Herbst 1942 - also lange nach der schlimmsten Phase der Ausschreitungen im ersten Jahr nach der Invasion der Sowjetunion.

Ich erwähne dies nur als ein Beispiel, wie leicht sich aus der Retrospektive moralisch urteilen lässt, gerade auch dann, wenn man sich an die eigene nationale Brust schlägt. Weitaus schwieriger - und wichtiger - scheint mir dagegen, sich immer wieder und zuallererst Klarheit zu verschaffen über die Mentalitäten und den Kontext der Zeit, die zu solchen Gräueln geführt haben.

Die Geschichte der letzten sechs Monate des Zweiten Weltkrieges, kulminierend in dem furchtbaren Angriff der Roten Armee auf Berlin, ist zugleich die Geschichte einer wachsenden Zahl von Soldaten und Zivilisten in der Falle eines von den Nazis geschaffenen Albtraums. Hitlers Weigerung zum Rückzug bedeutete eben auch, dass deutsche Frauen und Kinder dem russischen Vormarsch einfach überantwortet wurden. In meinen Forschungen konnte ich manchmal kaum unterscheiden zwischen der fast unglaublichen Verantwortungslosigkeit der Nazis und ihrer gleichzeitig erkennbaren totalen Inhumanität nicht zuletzt dem eigenen Volk gegenüber. Binnen zehn Wochen, von Mitte Januar 1945 an, machten sich 8,5 Millionen Menschen aus Ostpreußen, Westpreußen, Pommern und Schlesien auf die Flucht, zu Schiff, per Bahn, auf Bauernwagen oder zu Fuß. Stalin rühmte sich dieser Vorgänge auf der Jalta-Konferenz Churchill gegenüber, als er auf die Bevölkerungsbewegung im Gefolge der Verschiebung der polnischen Grenze zur Oder zu sprechen kam. Westliche Politiker hatten sich das Ausmaß der Vertreibung nie vorstellen können - wir sprechen heute von einem Zahlenkorridor zwischen zwölf und 16 Millionen.

Tausende ließ man zugweise in Vieh- oder Kohlewaggons zu Tode frieren oder verhungern, ganz so wie Häftlinge aus Konzentrationslagern. Aufpasser des Regimes wollten keine ansteckenden Krankheiten durch die Flüchtlinge eingeschleppt sehen. In vielen Fällen war ihnen aber schon die einfachste Fürsorge zu viel, und sie reichten die Ankömmlinge einfach an die nächste Instanz weiter. So sah in Wahrheit die viel gerühmte Volksgenossenschaft aus, die nationale Kameraderie.

Der Umgang mit der Vergangenheit ist heute in ein neues Stadium getreten. Begonnen hat ein Normalisierungsprozess - die Deutschen fühlen sich beim Gedenken an die Opfer des Nazi-Terrors endlich berechtigt, auch an die eigenen Opfer zu erinnern, besonders unter den Zivilisten. Durch Günter Grass' Novelle "Im Krebsgang", die Geschichte des Untergangs der "Wilhelm Gustloff", wurde dieser Prozess sicherlich beschleunigt. Die Tatsache, dass dieses Schiff am 30. Januar 1945, am zwölften Jahrestag von Hitlers Machtergreifung also, sank, gibt dem Thema eine eigene Symbolkraft. Wir müssen, so antwortete Grass sinngemäß auf die Frage, warum gerade er sich diesem Thema zuwende, hier weiter loten, sonst würde die Rechte sich dieser Fragen bemächtigen.

Ich möchte den Akzent ein wenig anders setzen. Natürlich ist es nur recht und billig, dass das schreckliche Leiden der deutschen Zivilisten im Zweiten Weltkrieg endlich die ihm gebührende Berücksichtigung findet. Und natürlich geht es ebenso in Ordnung, dass ein demokratisches Deutschland nach so vielen Jahren ehrlicher Auseinandersetzung mit dem Horror der Vergangenheit endgültig freikommt vom Schatten kollektiver Schuld. Aber niemandem, erst recht nicht der extremen Rechten, sollte es gestattet sein, das Thema des deutschen Leids anno 1945 abzukoppeln davon, was ihm in den vier Jahren davor vorausging und was das Bedürfnis nach Rache an den Deutschen überhaupt erst geweckt hat. Auch ist der Begriff der "Normalisierung" von gefährlichen Missverständnissen bedroht. Noch sind in Polen und Tschechien nicht alle Ängste verflogen, dass der Rekurs auf die Enteignungen nach 1945 einen neuen Druck erzeugen könnte, das Rad der Geschichte zu Gunsten der Nachkommen der damals Enteigneten zurückzudrehen. Nicht umsonst bildet eine für alle Seiten zufrieden stellende, klare Antwort auf dieses Problem eine der wichtigsten Voraussetzungen für die Erweiterung der EU nach Osten.

Das vergangene Jahr führte uns aber auch vor Augen, was für ein Paradox doch dem europäischen Ideal zu Grunde liegt. Der Aufstieg der Rechten in Holland - immerhin ein Land, das sich auf seinen Liberalismus einiges zugute hält -, dann der Ausgang der französischen Präsidentschaftswahlen, das alles weist auf eine dramatische Abkehr von alten Übereinkünften bezüglich der Europa-Idee hin. Anstoß gab die Welle der Migration, die durch die Öffnung der Grenzen nach dem Fall der Mauer entstand und die bis heute für fortgesetzte Unruhe überall in Europa sorgt. Sind beim herkömmlichen Argument für eine engere europäische Integration womöglich Ursache und Wirkung vertauscht worden?

Motiviert durch ein genuines "Nie wieder Krieg!", hatte vor allem die deutsche Politik in zunehmender europäischer Vertiefung die Garantie sehen wollen für einen dauerhaften Frieden. Vor den Risiken freilich verschloss man die Augen: Die Rechnung wurde ohne den Nationalstaat gemacht. Wer aber den Nationalstaat für obsolet erklärt, erreicht möglicherweise genau das Gegenteil von dem, was er will. So irrten beispielsweise überzeugte Europäer wie auch einige von Lionel Jospins Ministern nach ihrem Wahldebakel, wenn sie meinten, das Phänomen Le Pen könne nur "europäisch" gelöst werden. Das übersah geflissentlich die Ängste unter den Wählern, sei es im Blick auf unkontrollierte Einwanderung, sei es auch nur wegen eines Gefühls allgemeiner Machtlosigkeit. Was hat denn nationale Politik noch für eine Bedeutung, so wird gefragt, angesichts immer mächtiger werdender ungewählter Brüsseler Bürokraten?

Vor zwei Jahren, anlässlich eines Abendessens in Berlin, sagte mir ein deutscher Diplomat, ihn habe an meinem Stalingrad-Buch am meisten meine These beschäftigt, die Nazis hätten beim Überfall auf die Sowjetunion Ursache und Wirkung vollkommen verwechselt. Wie konnte das Regime, so hatte ich damals geschrieben, davon ausgehen, der Angriff werde dem russischen Nationalgefühl den Todesstoß versetzen? Mein Gesprächspartner wurde noch mehr verblüfft, als ich ihm gestand, zwar seien die Briten in ihrer Obsession mit dem Zweiten Weltkrieg zu weit gegangen, aber der heutige, völlig andersartige Idealismus der Deutschen mache ihnen durchaus zu schaffen. Ganz entgeistert schließlich schaute er mich an, als ich ihm berichtete, am führenden Universitätszentrum für Kriegsstudien in Großbritannien studiere man inzwischen künftige Konfliktszenarien im vereinten Europa.

Kriege zwischen Staaten, vor allem solche in Europa, gehören gnädig der Vergangenheit an, auch weil es nie einen Anlass gegeben hat für ausgewachsene Demokratien, gegeneinander Krieg zu führen. Von dieser Prämisse aus wirkt der Versuch, Konflikte zu verhindern durch Amalgamierung von Nationalstaaten, als ob Generäle den nächsten Krieg mit der Taktik des letzten führen wollten. Es wird dabei übersehen, dass alte Ressentiments und Eifersüchte durchaus noch am Leben sind und zu neuem Streit führen können. Das führt uns zur Frage und zur Rolle kollektiver Identitäten. Europäische Staaten mit starker nationaler Identität haben immer ihre Binnenverschiedenheiten akzeptiert, einschließlich der Notwendigkeit, Ressourcen von reicheren zu ärmeren Landesteilen zu transferieren. Das ist weniger ausgeprägt in Ländern mit einer stärker fragmentierten Geschichte, also etwa in Belgien, Italien oder auch Deutschland, wo interregionale Solidarität immer wieder erkämpft werden muss, sich nicht von selbst versteht.

So viel kann man voraussagen: Die Europäische Union, mit all ihrem Bemühen um eine europäische Identität, wird eher noch größere Probleme bekommen auf dem Weg, die binneneuropäischen Verschiedenheiten zu homogenisieren, als sie einige Nationalstaaten für sich schon in der Vergangenheit hatten. Als ein griechischer Diplomat mir unlängst auseinander setzte, die Nordstaaten der EU müssten eine Umverteilung ihres Wohlstandes als eine Art "Solidaritätssteuer" zu Gunsten der Südstaaten hinnehmen, damit diese aufholen können, gab ich ihm zur Antwort, das werde zu einer ähnlichen Situation führen wie mit der Liga Nord in Italien.

Wenden wir den Blick von der EU nach Russland: Hier spielt die Vergangenheit eine wiederum ganz andere Rolle. Nach Jahrzehnten sowjetischer Propaganda ist es nicht leicht für die russische Gesellschaft, ihrer Geschichte offen ins Auge zu schauen. Es geht ja um 70 Jahre - nicht, wie im deutschen Fall, um zwölf -, in denen Millionen von Menschen auf verbrecherische Weise um ihre Erfüllung gebracht wurden. Der sowjetische Sieg von 1945 macht es erst recht schwer, grundsätzlich zu überprüfen, wie der Große Patriotische Krieg denn nun wirklich geführt wurde. Nachdem er mich wegen meines neuen Buches "Berlin - Das Ende 1945" erst der Lüge, der Verleumdung und der Blasphemie bezichtigt hatte, meinte der russische Botschafter in London später zu mir: "Antony, das musst du verstehen - der vaterländische Sieg ist uns heilig." Ich stimmte ihm zu, doch mit der Ergänzung, das immense Opfer an menschlichem Leid habe ihn heilig gemacht. Genau das ist ja der Grund, warum selbst antistalinistische Russen noch heute solche Probleme haben, dieses Kapitel ihrer Geschichte aufzuarbeiten.

Russische Leser meines Buches fühlen sich nicht einmal so sehr berührt durch die Berichte über Massenvergewaltigungen deutscher Frauen als davon, dass sowjetische Frauen und Mädchen, zur Sklavenarbeit nach Deutschland verschleppt, ein ähnliches Schicksal erlitten. Das Elend dieser jungen Frauen, die inständig gehofft und gebetet hatten, von der Roten Armee befreit zu werden, ist eingehend, mit allen schrecklichen Details, in einem Geheimbericht an das Zentralkomitee des sowjetischen Jugendverbandes Komsomol festgehalten worden. Es schwächt auf dramatische Weise das traditionelle sowjetische Argument, "Exzesse" seien nur vorgekommen als Rache für deutsche Gräueltaten.

Zum ersten Mal kam in Deutschland in den achtziger Jahren das Thema der Massenvergewaltigungen allmählich an eine breitere Öffentlichkeit. Noch heute wollen einige der Opfer nicht mit ihren Erlebnissen heraus, um ihre Familien vor der dunklen Wahrheit zu schützen. Das ändert sich jetzt. Mich hat tief bewegt, wie viele nach Großbritannien emigrierte deutsche Frauen nach der englischen Erstveröffentlichung meines Buches auf mich zugekommen sind. Mehrere von ihnen bekannten gerade heraus, sie hätten bisher nie gegenüber ihren britischen Freunden oder Familien über diese Dinge sprechen können, weil niemand geglaubt hätte, was ihnen widerfahren war.

Geschichte - unser Verhältnis zu ihr selbst ändert sich. Bislang wurde sie geschrieben mehr unter "kollektiven" Aspekten: die Geschichte eines Landes, einer sozialen Klasse, einer Armee und so fort. Doch etwa seit den neunziger Jahren will eine neue Generation, weit gehend befreit von traditionellen Gruppenloyalitäten, mehr wissen von den Erfahrungen und Erlebnissen des Individuums schlechthin. In einer Welt, die das persönliche Risiko weit gehend ausgeschaltet hat, findet es diese Generation fast unvorstellbar, dass es einmal eine Vergangenheit gegeben haben soll, so gefährlich, so unvorhersehbar, dass der Einzelne sein Schicksal fast kaum steuern konnte. Sie fragen sich unwillkürlich, ob sie wohl selbst das alles überstanden hätten, physisch, moralisch, ob sie beispielsweise den Mut aufgebracht hätten, die Aufforderung, Kriegsgefangene oder Zivilisten zu erschießen, zu verweigern.

Doch noch immer klammern sich viele Menschen, ob aus Unsicherheit oder Frustration, an die Identität ihres Stammes oder Landes. Günter Grass hat Recht: Unterdrücke diese Gefühle, und du verstärkst nur das Ressentiment, das aus ihnen erwächst. Viel besser, offen und bestimmt darauf zu verweisen, was aus ihnen werden kann, wenn man nicht aufpasst. Speer hatte Unrecht. Die Geschichtsschreibung muss das Ende betonen, weil in ihm die wahren Folgen grotesker Ideologien evident werden.

Aus dem Englischen von Thomas Kielinger

Von dem britischen Historiker Antony Beevor erschien soeben: "Der Untergang Berlins 1945" (Bertelsmann, München. 512 S., 24,90 E).

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