STASILAND, von Anna Funder
Die Englische Ausgabe, hier
Anna Funder: Stasiland. EVA, Hamburg. 342 S., 24,90 EUR.
Artikel erschienen am 27. März 2004
Die Anrufe reißen nicht ab. ,Bock." Eine ruhige Stimme, der schwere Atem eines alten Mannes. ,Auf Ihre Anzeige hin."" Hat man in Deutschland wirklich vergessen, wer so sprach und auf Nachfrage noch immer so spricht, welche Art Biografien sich hinter dieser Bürokratendiktion verbergen? Im Jahre 1997, während eines Aufenthaltes am "Australian Center" in Potsdam, faxte Anna Funder, eine 1966 in Melbourne geborene Rechtsanwältin und Dokumentarfilmerin, folgende Annonce an die Lokalzeitung "Märkische Allgemeine": "Suche ehemalige Stasi-Offiziere und Inoffizielle Mitarbeiter für Interview. Publikation auf Englisch, Anonymität und Diskretion garantiert." Vier Jahre später, das aus diesen Gesprächen entstandene Buch war inzwischen in Australien, Großbritannien, den USA und in den Niederlanden mit großem Erfolg erschienen, wandte sich Anna Funder noch einmal an eine deutsche Berufsgruppe: Australische Autorin sucht im permanent vergangenheitsaufarbeitenden Deutschland nach einem Verleger für ihren Stasi-Text. "Fehlanzeige", sagt Anna Funder an diesem Morgen im Berliner "Hotel Unter den Linden", dessen Belegschaft - um es einmal vorsichtig zu formulieren - bis 1989 stets ein wachsames Auge auf alle hier absteigenden Westgäste hatte. Sie quittiert die Information mit einem beinahe schelmischen Lächeln; aussichtslos, der Kennerin noch irgendwelche Geheimnisse zu berichten. |
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Anna Funder weiß Bescheid, hält mit ihren Meinungen nicht hinter den Berg, ist von der Beschäftigung mit ostdeutschen Tätern und Opfern sowie west- beziehungsweise nun gesamtdeutscher Indifferenz durchaus geprägt. Indes: Diese gut aussehende, schlanke Frau ist eine berückende Mischung aus Lady und dem Typ "beste Freundin". Eleganz ohne Sterilität, fast mädchenhafte Herzlichkeit, dann wieder ein Gelächter, das die morgendlichen Gäste in der Hotellobby kurz die Köpfe wenden lässt. Arme Stasi-Büttel, denkt man in solchen Augenblicken. Wie peinigend muss es für sie gewesen sein, so jemandem gegenüber zu sitzen: einem freien Menschen.
"Och", sagt Anna Funder, "die waren doch hauptsächlich mit sich selbst beschäftigt, mit ihren Lebenslügen und langatmigen Rechtfertigungen." Und die deutschen Verlage? Die lehnten bei der Frankfurter Buchmesse der Jahre 2001 und 2002 ihr Buch "Stasiland" in seltsamer Einhelligkeit ab, womöglich nach dem Motto: Wir überlassen es lieber unseren Autoren, über diese Vergangenheit zu schweigen. Nach 23 Absagen zeigte schließlich die Europäische Verlagsanstalt in Hamburg Interesse und ließ sich nicht einmal vom überdeutlichen Titel abschrecken - allen Unkenrufen bei Vertreterkonferenzen zum Trotz, wo man von Rostocker und Suhler Buchhändlern berichtete, die sich schon einmal präventiv über die Chuzpe einer Fremdstämmigen aufzuregen wussten.
Denn natürlich sagt Anna Funder ohne verkniffene Relativierungen "zweite deutsche Diktatur", auch das Wort "Helden" kommt in akzentfreiem Deutsch über ihre dezent geschminkten Lippen. Ist so etwas vielleicht dem Glück der größeren Distanz von Down Under geschuldet, der Abwesenheit von Ideologien auf dem fünften Kontinent? Kommt Anna Funder also aus einer Art gelobtem Land, wo Pragmatismus kein Euphemismus für Mitläufertum, sondern eher ein Synonym für Fairness ist? Wie sollte man denn auch nicht ins ungläubige Staunen geraten, wenn man solche Sätze hört, freundlich und doch entschieden vorgetragen? "Es gibt Menschen, beileibe nicht nur Deutsche, die halten Täter für psychologisch interessanter als Opfer. Ich will gar nicht darüber philosophieren, inwieweit dieser nur scheinbar kühl-neutrale Blick dem geradezu panischen Bedürfnis gehorcht, aus Gründen schlechten Gewissens die Opfer ein zweites Mal auszugrenzen. Wissen Sie, eigentlich ist ja schon die Prämisse grundfalsch. Denn was gibt es Interessanteres und Faszinierenderes als Menschen, die ohne große Hoffnung dennoch auf ihrem ganz eigenen Glücksanspruch aufs Leben beharren und dafür den Bruch nicht nur mit dem allmächtigen Staat, sondern häufig auch mit der duckmäuserischen Gesellschaft in Kauf nehmen, mit Nachbarn oder selbst Freunden? Einem System, das wie für die Ewigkeit gemacht auftrat, setzten sie zitternd dieses Wörtchen ,Ich" entgegen. Mein Gott, warum sollten das denn keine Helden sein?"
Während ihrer zahlreichen Deutschlandaufenthalte begegnet ihr dieser Menschenschlag immer wieder: vor allem Frauen, die vor den Anzug- und Blousonträgern der Firma nicht klein beigaben. Anna Funder, beschlagen in der Kunst des angelsächsischen non fiction writing, muss nichts verhübschen oder verkitschen, das melodramatische Tremolo bleibt aus. Auch dann, wenn sie die Geschichte Sigrid Pauls erzählt, die durch den Mauerbau von ihrem gerade geborenen schwer kranken Sohn getrennt wurde, der sich zur Therapie in einem Westberliner Krankenhaus befand. Die 23-jährige Mutter versuchte deshalb, durch einen Tunnel zu flüchten, wurde entdeckt, ins Gefängnis gesteckt und dort mit einem Stasi-Vorschlag geködert: Verrat weiterer potenzieller Flüchtlinge gegen ein Wiedersehen mit ihrem Sohn Torsten. Sigrid Paul lehnte ab, blieb in Haft und konnte erst 1965 ihr körperlich behindertes Kind wieder in die Arme schließen - in Ost-Berlin.
Über 30 Jahre später erzählt sie Anna Funder davon, stockend, das Papiertaschentuch in der Hand zerknüllt, während der Sohn - "Sein Körper ist klein und buckelig, und seine Arme wirken gekrümmt, wie bei einer Spinne" - daneben auf der Couch sitzt; danach wird er in seinem alten BMW den australischen Gast zurück zur S-Bahnstation am Alexanderplatz bringen. Schon in dieser winzigen Szene hockt die ganze Perfidie eines repressiven Staates: Zu den blinden Schlägen des Schicksals, der ungerecht ungleichen Verteilung der physischen Ressourcen, zusätzlich noch die kalkulierten Schläge der bösartigen Möchtegern-Götter eines Regimes. Dies und die Würde der Opfer, die Kraft der Schwachen, oder in den Worten von Philippe Sollers: "Man erklärt die Menschen nicht durch die Ereignisse, sondern durch das, was in ihnen den Ereignissen widersteht."
Gleichwohl sehen traditionelle happy endings anders aus. Überhaupt sieht für den fremden, dafür aber umso genaueren Blick Anna Funders in der Ex-DDR vieles anders aus. "Meiner Meinung nach hat die Fleischeslust anderer Diktaturen, etwa in Südamerika, irgendwie etwas Wärmeres und Menschlicheres. Die Gier nach Koffern voller Geld und Drogen, nach Frauen und Waffen und Blut ist leichter zu verstehen. Diese gehorsamen grauen Männer mit ihren unterbezahlten Informanten, die sie einmal in der Woche treffen, wirken zugleich dümmer und finsterer."
Bock. Auf Ihre Anzeige hin. Herr Bock war Professor an der Ausbildungsakademie des Ministeriums. "Es ist später Nachmittag. Herrn Bocks Wohnzimmer ist überwältigend beige und braun: braunes Linoleum und dunkle Furnier-Schrankwand, eine braune Couch, auf der Herr Bock sitzt, getarnt in einer beige-braunen Acryl-Strickjacke mit Salinomuster. Er trägt eine dicke, viereckige Brille mit Gläsern, die ihm Unterwasseraugen machen, und er hat vorstehende Zähne." Die Täter-Passagen aus "Stasiland" erinnern in ihren absurdesten Momenten an eine ostzonale Super Rocky Horror Picture Show.
Anna Funder trägt filigranen, unauffälligen Silberschmuck über einer Kleidung in schicken schwarz-grünen Tönen, das blondsträhnige Haar gibt ihr etwas Apartes. Aufarbeitungsbesessene Megären sehen anders aus. "Ich muss ehrlich gestehen, dass ich eher feige bin. Aber das, gerade diese Einsicht, muss doch zu einer Verpflichtung werden, all jene Systeme zu delegitimieren, die mit eben dieser Angst spielen, oder nicht?"
Herr Bock nämlich ist nicht witzig und alles andere als ein harmlos-schrulliger Freak. ",Richtlinie 1/79!", verkündet er. Zur Gewinnung und Zusammenarbeit mit Informellen Mitarbeitern!" Er holt ein Taschentuch hervor und wischt sich die Mundwinkel. ,Daran war alles bedacht. Wir mussten entscheiden, wo in der Gesellschaft, auf objektiven Grundlagen, ein Bedarf für einen IM vorhanden war.""
In anderen Fällen entschied dieses "Wir", dass eine 16-Jährige wegen "Republikflucht" für eineinhalb Jahre im erzgebirgischen Frauengefängnis Hoheneck zu verschwinden hatte. "Jugendliche Angeklagte Nummer 725, ist Ihnen klar, dass Sie den Dritten Weltkrieg hätten auslösen können?" Die junge Frau von damals arbeitet heute bei einem öffentlich-rechtlichen Radiosender in Leipzig. Als sie es ablehnte, eines der quotenträchtigen Ostalgie-Programme zusammenzustellen, sagt ihr Chef, ein ehemaliger Stasi-Mitarbeiter: "Weißt du, was dein Problem ist? Dein Problem ist, dass du dich nicht mit der Kultur des Senders identifizierst." Ohne Probleme hatte der Mann in seiner Rhetorik "Staat" durch "Sender" ersetzt.
Anna Funder nippt an ihrer Kaffeetasse: entspannt, aufmerksam. Man wünscht ihr schon einmal viel Glück in den Buchhandlungen der neuen Bundesländer - und bei all den Pseudoliberalen des alten Westens, die noch immer meinen, derlei Geschichten gingen sie nichts an.
taz Magazin Nr. 7375 vom 5.6.2004, 149 Zeilen, EVA BEHRENDT
EVA BEHRENDT
Anna Funder: "Stasiland". Aus dem Englischen von Harald Riemann. Europäische Verlagsanstalt, Hamburg 2004, 350 Seiten, 24,90 Euro
Als die 30-jährige Australierin Anna Funder 1996 ihren Berliner Kollegen vorschlägt, doch mehr Geschichten über den Widerstand der Menschen in der DDR zu bringen, winken die beiden Fernsehjournalisten ab. Das sei doch längst gelaufen! Die Ostler hätten sich als uninteressanter "Haufen Meckerer" mit ein paar angepassten Menschenrechtsaktivisten darunter geoutet, und wenn es tatsächlich eine Story über Zivilcourage zu erzählen gäbe, dann hätte man die mit Sicherheit schon entdeckt. Ob damals irgendjemand geahnt hat, dass die Ostalgiewelle einmal über das wiedervereinigte Deutschland schwappen würde?
Anna Funder lässt sich nicht beirren. Die studierte Juristin fängt bei null an und sucht per Annonce nach ehemaligen Mitarbeitern des Ministeriums für Staatssicherheit. Per Zufall oder Schneeballprinzip trifft sie auf Leute, durch deren Leben die Stasi oder die Mauer einen Strich gezogen hat. Sie besucht das Stasi-Headquarter in der Berlin-Lichtenberger Normannenstraße, das mit allen erdenklichen Foltereinrichtungen ausstaffierte Gefängnis in Hohenschönhausen und das Nürnberger Büro der Gauck-Behörde, das für die Rekonstruktion jener unzähligen Säcke zerschredderter Akten zuständig ist, die die Mitarbeiter des MfS nach dem 9. November 89 hektisch vernichteten.
Aus Anna Funders Gesprächen und Beobachtungen ist "Stasiland" entstanden, ein spannendes, journalistisch genaues Buch in bester angelsächsischer Tradition. Das heißt: Funder tut gar nicht erst so, als sei sie eine streng objektivierende Instanz, deren einzige Funktion es ist, gründlich recherchierte Fakten zu einem Textbündel zu schnüren und mit dem Stempel "historische Wahrheit" zu versehen. Stattdessen bezieht sie ihre Neugier und den ihre Wahrnehmung bestimmenden Alltag so offen und geschickt in die Reportagen mit ein, dass am Ende fast so etwas wie ein erzählerischer Bogen und, tatsächlich, ein Roman ensteht. Doch auch wenn Funder den ein oder anderen Kater erwähnt, den sie sich ausgerechnet in Begleitung der Ostberliner Rocklegende Klaus Renft zulegt, geht es weniger um persönliche Befindlichkeiten als um die Frage, ob und wie sich ein Land dem Prinzip Stasi unterwerfen konnte.
Am Anfang steht die Geschichte von Miriam, der es als widerborstiger 16-Jähriger um ein Haar gelingt, in Berlin über die Mauer in den Westen zu spazieren, woraufhin ihr die DDR Ausbildung und Karriere verweigert. Als später ihre Schwester einen Fluchtversuch unternimmt, wird Miriams Mann Charlie in Untersuchungshaft gesperrt, wenig später sein Selbstmord verkündet. Bis auf den heutigen Tag verdächtigt Miriam die Stasi mit guten Gründen, doch ohne gerichtlichen Rückhalt, Charlie ermordet zu haben. Seither wartet Miriam. Ihr stillgelegtes Leben samt der Tragik, die Mörder weder benannt noch angeklagt zu wissen, spornt Anna Funder immer wieder an.
Nicht alle Geschichten verlaufen so spektakulär schrecklich wie jene von Miriam, Charlie oder die von Frau Paul. Frau Paul musste nicht nur jahrelang von ihrem kranken Kind getrennt leben, sondern saß obendrein im Hohenschönhausener Knast, weil sie einen ihr bekannten Fluchthelfer nicht verpfiff. Es sind auch nicht alle Geschichten brandneu. Über Hagen Koch etwa, Ex-Stasi-Offizier, enthusiastischer Mauerarchivar und Berliner Unikum, ist zumindest in der Lokalpresse schon einiges geschrieben worden. Hier haben auch die Herren Fernsehjournalisten, die Funders Vorschlag abwiegeln, nicht ganz Unrecht. Es gab und gibt seit 1989 - mit unterschiedlichen Konjunkturphasen, versteht sich - durchaus immer wieder Berichte und Reportagen, die sich mit Einzelschicksalen und Vergangenheiten Ost auf Täter- wie Opferseite befasst haben, sei es, im Printbereich, von Journalisten wie Alexander Osang und Friedrich Dieckmann, sei es von Historikern wie Timothy Garton Ash. Was überraschenderweise weitgehend fehlt, sind Versuche, die menschlichen Puzzlesteine zu einem analytischen Gesamtbild zusammenzufügen.
Anna Funders Versuch gelingt, trotz und wegen ihres klammheimlichen Fasziniertseins von dem spießigen, piefigen Unrechtsstaat. Das ist unüberlesbar und wohl vertraut, wenn sie ihre leere, charmant verlotterte, kohlenbeheizte Altbauwohnung schildert. Aber auch wenn sie sich mit dem greisen Fernseh-Ekel Eduard von Schnitzler trifft oder Herrn Bock besucht, einen ganz gewöhnlichen Konspirateur, der aus alter Gewohnheit lieber im Dunkeln sitzt. Fast ließe es sich da behaglich gruseln, wenn Funder nicht so treffend schlussfolgern würde: "Meiner Meinung nach hat die Fleischeslust anderer Diktaturen, beispielsweise in Südamerika, irgendetwas Wärmeres und Menschlicheres. Die Gier nach Koffern voller Geld und Drogen, nach Frauen und Waffen und Blut ist leichter zu verstehen. Diese gehorsamen grauen Männer mit ihren unterbezahlten Informanten, die sie einmal in der Woche treffen, wirken zugleich dümmer und finsterer. Verrat hat sicherlich seinen eigenen Lohn: die kleine, tiefe, menschliche Befriedigung, jemand anderen in die Pfanne gehauen zu haben. Das ist hinterhältig, und für dieses Regime war das der Treibstoff."
Hamburger Abendtblatt
Der kühle Blick von außen
Stasiland: Das Buch einer Australierin über den Stasi-Terror und Erinnerungen
daran. Kann sie als Außenstehende gerechter urteilen?
Von Matthias
Gretzschel
erschienen am 26. März 2004 in Kultur / Medien
Hamburg
- Wäre das Gespräch anders verlaufen, wenn wir uns gegenübergesessen, uns ins
Gesicht gesehen hätten? Vielleicht konnte es nicht wirklich gut gehen, wenn man
als ehemaliger DDR-Bürger 15 Jahre nach dem Fall der Mauer von Hamburg nach
Sydney telefoniert, um mit einer australischen Autorin über ihr Buch zu
sprechen, das den Titel "Stasiland" hat. Schon als ich die Druckfahnen las,
hatte ich den Eindruck, dass das meiste zwar stimmt, gut recherchiert und
vorzüglich geschrieben ist, am Ende für mich aber unbefriedigend bleibt.
Dabei hat sich Anna Funder, eine junge Australierin mit zeitweiligem Wohnsitz im
Osten Berlins, doch ehrlich und sehr engagiert bemüht, diesem seltsamen und
inzwischen untergegangenen Land, das man in Australien, wie sie sagt, für "grau
und wenig interessant" hielt, auf die Spur zu kommen.
Wenige Jahre nach Wende und Wiedervereinigung nach Berlin gekommen, arbeitet sie
für die Deutsche Welle und beginnt sich für die DDR zu interessieren. Sie sucht
die Begegnung mit Menschen, die ihr über ihr Schicksal, ihr Leben in jenem Staat
berichten, der seine Bürger einmauerte und fast flächendeckend überwachte.
Erstaunt nimmt sie zur Kenntnis, wie wenig sich ihre Westberliner Kollegen dafür
interessieren, was das Leben in der DDR tatsächlich bedeutet hat.
In Leipzig trifft sie Miriam, die als junges Mädchen versucht hatte, in den
Westen zu fliehen, ins Gefängnis geworfen und später jahrelang von der Stasi
überwacht wurde. Miriam erzählt Funder von ihrem Mann Charlie, der 1980 in der
Haft ums Leben kam, wahrscheinlich von der Stasi ermordet.
Sehr einfühlsam schildert Funder das Schicksal dieser Frau, die sich mit den
offiziellen Erklärungen zur Todesursache nie zufrieden gibt, aber bis heute
keine Klarheit gewinnen konnte, weil auch die bundesdeutschen Behörden kaum
Interesse an diesem Fall zeigten. Miriam ist Anna Funders wichtigste Begegnung,
das Schicksal, das sie am meisten bewegt, obwohl es beispielhaft auch für andere
Begegnungen steht, die sie mit Opfern der SED-Diktatur hatte. Was hat sie bei
der Recherche am meisten erstaunt?
Nach einigem Überlegen sagt sie: "Dass es so viele kleine, perfide Sachen
gegeben hat, die Leute anderen Leuten angetan haben, viele peinliche und miese
Sachen, die deren Leben zerstört haben." Einige dieser Schicksale hat sie
beklemmend eindringlich beschrieben, oft mit einem unausgesprochen fragendem
Unterton, wie so etwas möglich sein konnte.
Sie hat aber auch mit Männern gesprochen, die dieses System in Gang hielten,
einigen Stasi-Offizieren. Und mit dem berüchtigten Fernseh-Chefdemagogen Karl
Eduard von Schnitzler, der sie sogar zu Hause empfing. Zu einem Gespräch, das
Funder exzellent nacherzählt und in dem der einst meistgehasste Mann der DDR mit
seiner ideologischen Borniertheit, der Wut, mit der er noch immer
Menschenverachtung als Humanität ausgab, nur noch absurd und komisch wirkt.
"Schnitzler und die meisten Stasi-Männer, mit denen ich geredet habe, glaubten
immer noch an den Sozialismus", erinnert sich Funder. Und was hält sie davon,
dass es Leute gibt, die Jahre nach dem Untergang des Kommunismus diesen längst
diskreditierten Glauben noch wach halten? "Für sie ist der Glaube wie eine
Stütze, etwas, das ihnen Halt gibt, damit sie nicht zusammenbrechen."
Etwas anderes fiel ihr sehr schwer zu verstehen: "Die meisten Stasi-Männer, mit
denen ich gesprochen habe, hatten gar kein Unrechtsbewusstsein und kein
Mitgefühl mit den Menschen, denen sie Schaden zugefügt und die unter ihnen
gelitten haben."
Anna Funder sagt, sie wolle zeigen, wie das DDR-Regime funktioniert und was
dieses Funktionieren an Opfern gekostet habe. Damit hat sie ja Recht, und ich
ärgere mich, weil es mir nicht gelingt, ihr begreiflich zu machen, dass ich die
DDR nicht nur so, sondern eben oft auch ganz anders erlebt habe.
Nicht als graues Stasi-Gefängnis, sondern als einen ungeliebten, oft auch
verhassten Staat, der uns beschränkte und demütigte, uns überwachte und
kontrollierte, in dem wir uns aber trotzdem nicht 24 Stunden am Tag verfolgt
fühlten und dem wir ein erfülltes Leben abtrotzen konnten. Eine bunte Jugend,
Bereiche, in denen Partei und Stasi keine Rolle spielten - ein Maß an
Normalität, ein Lebensgefühl, das sich die Leser von Funders Buch, vor allem in
Australien und den USA, wo es ein Bestseller ist, kaum werden vorstellen können.
Für solche Art Kritik ist die Autorin taub. Diese Möglichkeit des Lebens wolle
sie ja gar nicht bestreiten, habe sie doch in den Gesprächen mit dem
DDR-Rockmusiker Klaus Jentzsch von der populären und später verbotenen "Klaus
Renft Combo" ausdrücklich beschrieben, entgegnet Anna Funder im fernen Sydney.
Wir reden noch eine Weile aneinander vorbei, während ich an Leipzig denke, ans
Leben dort vor der Wende, zu dem die melancholische, rockige Musik von Klaus
Renft bestens passt. Eine graue Stadt, in der die Stasi auch über mich eine Akte
anlegte, in der ich später Berichte fand, die mein bester Freund verfasst hat.
Sollte ich in Anna Funders "Stasiland" gelebt haben?
Die Bilder meiner Erinnerung, auch die dunklen, ergeben ein anderes Puzzlebild -
eines, das sehr viel mehr Farben und Nuancen hat als das der engagierten
australischen Journalistin, der ich bei unserem Gespräch gern ins Gesicht
geschaut hätte.
OSTSEE-ZEITUNG.DE
25. März 2004
Australierin kommt mit Stasi-Buch nach Rostock
WOLFGANG THIEL
Rostock (OZ) Die Australierin Anna Funder (38) liest nächste Woche in der Rostocker Universitätsbuchhandlung Weiland aus ihrem ersten Buch mit dem Titel „Stasiland“. Seit seiner Veröffentlichung im März 2002 wurde es in Großbritanien, den USA und Holland mehrfach neu aufgelegt. Auf der Leipziger Buchmesse wird jetzt die deutsche Ausgabe (Sabine Gronewold Verlag) vorgestellt.
„Man kann ein Buch wie ,Stasiland' nicht schreiben, ohne eine tiefe Liebe zu Deutschland und den Deutschen zu empfinden“, betont die Autorin. Sie besuchte zwischen 1987 bis 2000 vier Mal Berlin. Hier fand sie Spuren des Überwachungsstaates, Bruchstücke von Liebesgeschichten und demontierte Denkmäler.
1995, nach dem Fall der Mauer, kommt sie nach Ostberlin, findet alte Freunde wieder und hört neue Geschichten, wie die von Miriam, die als 16-jährige Schülerin in die Fänge der Staatssicherheit geriet. Es sind solche Schicksale – weniger die Stasi selbst – die Anna Funder interessieren. Sie hört ihnen allen zu: den Widerstandskämpfern und den Opfern, den Kollaborateuren und Agenten, den Verrätern und den Helden. Und schreibt ihre Geschichten auf. Die Autorin näherte sich der deutschen Vergangenheitsbewältigung unbelastet von der Geschichte, offen und vorurteilsfrei.
Funder freut sich auf den Besuch in Rostock. „Ich bewundere die Arbeit von Joachim Gauck, der ja aus Rostock kommt.“ Ihr Hauptinteresse habe den Helden gegolten, „die sich gegen die DDR gestellt haben“. Sie habe starke Persönlichkeiten mit „menschlichem Gewissen und viel Mut“ getroffen. „Ich hatte das Gefühl, dass ich viele andere Leute hätte treffen können, die so gehandelt haben.“
Anna Funder, die in Melbourne und Berlin studierte, hat als Rechtsanwältin und als Dokumentarfilmerin gearbeitet. In der „Märkischen Allgemeinen“ hatte sie eine Anzeige geschaltet: „Suche: ehemalige Stasi-Offiziere und Inoffizielle Mitarbeiter zwecks Interview. Veröffentlichung auf Englisch, Anonymität und Diskretion garantiert.“ Nach den Gesprächen habe sie das Gefühl gehabt, dass diese Leute „üble Sachen durch kleine bürokratische Tricks an einem Tisch ausführen konnten.“ Für Anna Funder war die DDR ein extremer Überwachungsstaat: „Ich bewundere alle, die sich verweigerten“, sagt sie.
Der Australische Verlag habe es zunächst als Risiko angesehen, „solch ein Erstlingsbuch über einen uninteressanten und untergegangenen Staat von einer unbekannten Autorin auf den Markt zu bringen“, sagt Funder. Aber das Buch hatte größere Wirkung „als ich gedacht habe“, freut sich die Autorin.
Saarbrücker Zeitung
28. März 2004
Von Zivilcourage im Zeichen der Überwachung
Für Anna Funder sind die Stasiopfer Helden - Heute Lesung
von sz-mitarbeiterin kerstin schneider
Anna Funder: Stasiland. Aus dem australischen Englisch übersetzt von Harald Stiegel. Europäische Verlagsanstalt. 350 Seiten, 24,90 Euro.
Saarbrücken. Wie Alice im Wunderland kam sich Anna Funder vor. Die untergegangene DDR war für die Australierin ein Land, das auf dem Kopf steht. "Stasiland" heißt das gerade erschienene Buch, das Funder über ihre Begegnungen geschrieben hat. Eine literarische Reportage, die jenseits von ideologischen Fragen den Blick auf die richtet, die im Alltag unter den Nachstellungen der Staatssicherheit gelitten haben und sich doch im Rahmen ihrer Möglichkeiten widersetzten.
"Das sind keine Opfer. Das sind Helden. Ihre Zivilcourage muss man anerkennen", sagt die 38-Jährige. Frau Paul aus Ostberlin zum Beispiel, die einen Deal mit der Stasi ablehnt, obwohl sie dann ihren kranken Sohn hätte besuchen können, der seit seiner frühen Kindheit in einem Krankenhaus im Westen war. Oder Julia, die ihren italienischen Freund, den sie auf der Leipziger Messe kennen gelernt hatte, nicht ausspionieren wollte.
Anna Funder legt den Finger in die Wunde. Sie zeigt Narben, die noch nicht verheilt sind, erzählt von Menschen, die nicht einfach so über ihre DDR-Vergangenheit hinwegkommen und heute noch darunter leiden, dass sie bespitzelt wurden. Sie traf die Leute, die dafür verantwortlich waren: Stasioffiziere und IMs, die sie über eine Anzeige in der Zeitung fand. Angst hatte sie bei den Begegnungen nicht, auch wenn die gespenstisch abliefen: "Ich hatte mir nicht vorgestellt, wie das ist, wenn dich eine Reihe Kerle vom Militär, die ihre Macht und ihr Land verloren haben, anrufen."
Die Reaktionen auf das Buch sind schon vor der Lesereise gespalten. Wie kommt eine Australierin dazu, über das Leben in der DDR zu schreiben, wenn sie es nicht selbst erlebt hat? Funder wundert sich über solche Fragen: "Wen soll ich um Erlaubnis fragen, und wer ist die Kontrollinstanz?" Schließlich habe sie gründlich recherchiert. Deutsch hat sie schon als Schulkind gelernt. Später studierte Funder Germanistik und Jura und lebte in den Jahren 1987/88 als DAAD-Stipendiatin in der Bundesrepublik. Es gab nur ein paar offizielle Ausflüge in die DDR, nach Dresden und Potsdam. Richtig in Kontakt kam Funder im Westen mit Künstlern und Autoren, die aus der DDR ausgereist waren. "Ich wollte wissen, was in dem anderen deutschen Staat passiert. Was war das für ein Sozialismus? War es dort besser oder schlechter als im Westen?"
Als sie Mitte der 90er wieder nach Deutschland kommt, gibt es die DDR längst nicht mehr, aber Funders Neugier und das Interesse bleiben. Bei einem Besuch der ehemaligen Stasizentrale in Leipzig erfährt sie die Geschichte von Miriam, die als 16-Jährige versucht hatte, über die Mauer zu fliehen und dafür im Gefängnis saß. "Was ist das für ein Staat, der Teenager einsperrt, weil sie nicht mehr in dem Land leben wollen?" Die Frage ließ sie nicht mehr los. Sie fuhr nach Australien zurück, kündigte später ihren Job als Juristin und kehrte nach Deutschland zurück, um ein Buch zu schreiben.
Funder hat viele Orte besucht, etwa das ehemalige Stasigefängnis in Berlin-Hohenschönhausen oder das Deutsche Rundfunkarchiv, um möglichst viel von der DDR näher zu bringen. Sie komponiert die Stationen ihrer Spurensuche wie einen Roman. Oft zieht sie sich als Erzählerin zurück, überlässt den Figuren das Feld, manchmal ist sie mit ihrer Sicht auf die Dinge im Vordergrund. Die Ostalgiewelle im deutschen Fernsehen, die sie aus der Ferne verfolgte, hält sie für gefährlich: "Das nützt den ehemaligen Machthabern, wenn alles so verharmlost wird."
sz-online
Sachsen im Netz
Sächsische Zeitung
Dienstag, 30. März 2004
Einstürzende Häuser und verwirrte
Menschen
Heute stellt die
Australierin Anna Funder in Dresden ihr DDR-Buch „Stasiland“ vor
Von Karin Großmann
Im Winter 1996, schreibt Anna Funder, rast sie mit dem Zug durch Ostdeutschland
– „vorbei an seinen einstürzenden Häusern und verwirrten Menschen“. Was sie
dabei fühlt, nennt sie „Horror-Romanze“. Denn die Frau weiß, wie es in diesem
Land zugegangen ist: „Jeder verdächtigte jeden, und das daraus erwachsende
Misstrauen war die Grundlage sozialer Existenz.“
Wie kommt sie zu diesem Urteil? Was interessiert eine Australierin überhaupt an
der DDR? Anna Funder, 1966 in Melbourne geboren, lernte in der Schule Deutsch
und kam 1987 mit einem Stipendium nach Westberlin. „Ich hatte Freunde, die aus
der DDR ausgereist oder ausgebürgert waren, während ihre Familien dort blieben –
ich habe die Trennung zwischen Ost und West hautnah miterlebt“, erzählt Anna
Funder. „Außerdem habe ich Jura studiert, Menschenrechte, deshalb interessiert
mich das Verhältnis zwischen Staat und Bürger besonders.“
Ehrung für jene, die
Widerstand wagten
Wie sich das Land nach dem Fall der Mauer veränderte, verfolgte sie aus der
Ferne, sie arbeitete als Juristin für die Regierung in Canberra. Mitte der
neunziger Jahre kündigte sie ihren Job, fuhr nach Deutschland und beschloss, ein
Buch zu schreiben. „Stasiland“ ist ihr erstes. Es erschien 2002 in Australien.
Deutsche Verleger reagierten zunächst zögerlich. Die Fakten, die Anna Funder vom
Fall der Mauer liefert, sind alt. „Die Fakten gehören dazu“, sagt die Autorin,
„und die Heranwachsenden kennen sie vielleicht doch nicht.“
Wenn sie jetzt mit dem Buch im Osten auf Lesetour geht, hört sie häufig die
Frage: Muss eine Australierin uns erzählen, wie’s war? Anna Funder knipst ihr
Lächeln an und sagt: „Die Frage kommt aus einer totalitären Denkweise. Man
erwartet, dass nur besondere Leute sich mit solchen Themen befassen dürfen. Ich
bin aufgewachsen in einer freien Gesellschaft und kann schreiben, worüber ich
will. Es gibt viele, die mir bestätigen, wie nützlich der Blick von außen ist.“
Außerdem fälle sie keine Urteile. Das dürfte mancher Leser anders sehen. Beim
Blick auf die DDR heißt es etwa: „Die Leute betranken sich während der Arbeit,
nach der Arbeit und zu Hause, um es miteinander auszuhalten, an diesem Ort, von
dem es kein Entrinnen gab.“ Fluchtversuche gab es, Anna Funder schreibt von
einer 16-Jährigen, die über die Mauer wollte, gefasst und nach wochenlanger
Einzelhaft ins Frauengefängnis gesteckt wurde. Sie habe, sagt die Autorin,
Fakten geprüft. Für die Richtigkeit des Erinnerten könne sie nicht garantieren.
In ihrem Buch dokumentiert sie auch Gespräche mit Stasi-Mitarbeitern, die sie
per Annonce fand. Ein DDR-Bild, das nur Opfer oder Täter kennt? „Wie die Stasi
das Land beherrschte, war extrem. Das Extreme bildete das Fundament. Das ist
keine Erfindung von mir.“
Fragt sie sich manchmal, wie sie selbst gehandelt hätte? „Ich bin ein ziemlich
feiger Mensch und bilde mir nicht ein, dass ich widerständlerisch gehandelt
hätte. Aber die, die
es gewagt haben, sollte man ehren.“
Anna Funders "Stasiland"
"Suche ehemalige Stasioffiziere und inoffizielle Mitarbeiter für ein Interview. Anonymität und Diskretion garantiert." Mit dieser Anzeige in der "Märkischen Allgemeinen Zeitung" hat die australische Journalistin und Rechtsanwältin Anne Funder Menschen gesucht, die bereit waren, über ihr Leben in der DDR zu berichten. Stoff für ihr Buch "Stasiland", eine spannende Reportage.
Für Anna Funder ist die DDR ein fremder Planet. Sie will wissen, welche unvorstellbaren Geschichten die Menschen dort erlebt haben, spricht mit Opfern und Tätern und schreibt darüber ein Buch. Anna Funder stammt aus Sydney, hat in den 80er Jahren in Berlin studiert und schon als Kind Deutsch gelernt. Mitte der 90er Jahre kündigte sie ihren Job als Rechtsanwältin und ging nach Berlin zurück. Ihre Obsession für den Osten Deutschlands bezeichnet sie als "Horror Romanze".
Erster Kontakt in Berlin
"Ich habe eine Macke, irgendwie", sagt die Schriftstellerin Anna Funder. Das
erste Mal war sie Ende 1987 in Berlin. Damals hat sie Leute aus der ehemaligen
DDR kennen gelernt, die ausgebürgert worden waren. "Das waren meistens Künstler
und Schriftsteller und die wohnten in Kreuzberg. Das bedeutete, das nur knapp
ein Kilometer weit weg ihre Freunde, Familien und manchmal auch Kinder lebten.
Sie konnten da nicht mehr hin. Ich habe sozusagen aus zweiter Hand, aber an Leib
und Seele, diese Spaltung zwischen Ost und West mitbekommen."
Klaus Renft, einst der wildeste Rock’n-Roller der ehemaligen DDR, ist einer der
Helden in Anna Funders Buch "Stasiland". Die Klaus Renft Combo war eine der
populärsten, aber auch provozierendsten Rockbands der DDR, die immer wieder
verboten wurde.
1975 kam das endgültige Aus.
Sensibler Blick auf die Opfer
Klaus Renft erinnert sich: "Das war eine Katastrophe, obwohl man innerlich
darauf vorbereit war. Wir wussten ja, wer solche Texte abliefert, wird nicht
geduldet. Wir hatten keine Auftritte mehr. Es war alles vorbei. Ich war vom
Rockstar zum Arbeitslosen, zum Aussätzigen geworden."
Die Stasi-Zentrale unter Stasichef Erich Mielke in der Berliner Normannenstraße
überwachte mit einem Mitarbeiterstab von 15.000 Stasi-Bürokraten alle anderen
Bezirksverwaltungen. Von hier aus wurden Schicksale gelenkt, die Anna Funder
detailversessen beschreibt. Es ist der fremde Blick, der Blick von außen, der
ihr Buch auszeichnet.
Rechtfertigung der Täter
In
Hohenschönhausen, dem gefürchteten Stasigefängnis, trifft Anna Funder den
ehemaligen Stasi-Mann Hagen Koch. Er war der perfekte "DDR-Modellmensch" und
irgendwann wollte er raus aus dem System. Wie schwer das ist, hat Anna Funder
erfahren. Genau das hat sie an seiner Biografie interessiert. Angefeindet wird
er im Osten wie im Westen. "Diese Anfeindungen habe ich seit 1985", klagt Hagen
Koch, "1985 gelingt mir die Entlassung aus der Staatssicherheit mit allen sich
bis heute ergebenden Konsequenzen. Die ehemaligen Leute der Stasi sagen, 'du
bist ein Verräter, du Drecksau'. Überall, wo ich seit 1985 meine Füße auf die
Erde setze. Einmal Staatsicherheit immer Staatssicherheit. Damit kann und will
ich auch umgehen."
"Stasiland" erzählt von den perfiden Methoden des Überwachungsstaates und von
den Gefangenentransporten in den als Wäschereiautos getarnten Lastwagen. Hier
saßen die Opfer in winzigen dunklen Zellen und wurden von Gefängnis zu Gefängnis
gebracht, der Willkür und dem Terror der Stasi ausgeliefert. "Alle Stasimänner
haben sich bei mir rechtfertigen wollen und gesagt, dass der Sozialismus wieder
siegen werde", sagt Anna Funder. "Ich war ziemlich überrascht davon. Ich dachte,
man könnte doch irgendetwas bekennen.
Das war
nicht so."
Die Spurensuche geht weiter
Helden, nicht Opfer, nennt Anna Funder, die Menschen ihres Buches, die diesem
System Widerstand geleistet haben, trotz drohender Folter und Gefängnis. Anna
Funder schreibt: "Sie wurden aus der Zeit herausgerissen, und aus der Welt."
Eigentlich wollte sie Geschichten von ganz normalen Menschen schreiben, die aber
außergewöhnlichen Mut hatten. "Die habe ich ganz leicht gefunden in der DDR",
sagt Anna Funder. "Für mich als Schriftstellerin war diese extreme Gesellschaft
sehr interessant. Auf der einen Seite der extreme Überwachungsapparat und auf
der anderen Seite viele Leute, die sich dagegen widersetzt haben." Anna Funders
literarische Reportage liest sich packend wie eine Entdeckungsreise in ein
längst verschwundenes Land.
Anna Funder wollte ein Sachbuch schreiben, dass sich wie ein Roman liest. Wie es
zum Beispiel ist, mit 16 über die Mauer klettern zu wollen. Oder wie es ist, im
Verhör bei der Stasi zu sein. "Ich wollte es so so dramatisch machen wie ich
konnte. Obwohl alles darin wahr ist." Die australische Schriftstellerin verfolgt
weiterhin die Spuren deutscher Geschichte und ist unterwegs nach Polen.
Berliner Zeitung
Montag, 19.
April 2004
Die Australierin Anna Funder sucht nach dem "Stasiland" DDR und findet Geister
Anke Westphal
Anna Funder besuchte die DDR 1987 zum erstenmal. Mit einer Busladung Studenten besichtigte sie "die schön gepflasterten und vergoldeten Teile der Vorzeigestadt" Potsdam. In Dresden wurde sie "mit einer Seilbahn einen Hügel hochgezogen und mit einem Essen traktiert, das aus der Dose kam". In Ostberlin besuchte sie eine Party, deren Gastgeber ein jüdischer Journalist mit makellosem kommunistischen Stammbaum war, den man nach dem Mauerfall als IM enttarnte. Viermal war Anna Funder zwischen 1987 und 2000 zu Gast in jenem Land, das gern der erste sozialistische Staat auf deutschem Boden gewesen wäre und Überwachungsstaat genannt wurde. Funder behauptet nicht, dieses Land zu kennen, aber sie war lange genug zu Besuch, um sich ein paar Fragen über seine Bewohner zu stellen.
Einige Antworten auf diese Fragen hat sie erhalten und in einem Buch aufgeschrieben, das "Stasiland" heißt. Es ist das bisher beste Buch über die DDR, das nicht von einem gewesenen DDR-Bürger geschrieben wurde. Funder ist nicht in den Tonfall herablassender Toleranz oder annektierender Einfühlung verfallen, der so viele DDR-Aufarbeitungsstudien prägt. Sie hat Geschichten aufgesammelt, die andere übersehen oder für zu unspektakulär gehalten haben - und sie hat sich nicht gescheut sehr einfache Fragen zu stellen.
Sonderweg, Scheißfreundlichkeit
Eine dieser Frage richtete Funder an die deutsche Sprache, die der Autorin seltsam anmutende Worte wie "Sonderweg", "Scheißfreundlichkeit" und "Vergangenheitsbewältigung" hervorbrachte. Man muss an dieser Stelle sagen, dass Anna Funder Australierin ist. Sie wurde 1966 in Melbourne geboren, hat Jura und Deutsch studiert, als Rechtsanwältin gearbeitet und Dokumentarfilme produziert. Nach dem Mauerfall war sie als Stipendiatin in Potsdam und Berlin. Ihr Blick ist nicht einfach fremd oder neugierig, sondern unbefangen, wach und weit: Diese Autorin weiß nicht schon vorher, was sie sehen will.
Das führt zu einer enormen Frische der Betrachtung; Tatsachen der DDR-Historie nennt Funder bei ihren unüblichen Klarnamen: Walter Ulbrichts Entmachtung durch Erich Honecker 1971 - ein Putsch. Die Ausweisung von Dissidenten - Säuberungsaktionen, mit denen der Staat sich gleichzeitig eine Deviseneinnahmequelle erschloss (Freikauf durch den Westen). Im harten Licht von Funders Sprachkritik, die auch eine des Geistes und der Historiografie ist, sieht man manches deutlicher. Dass DDR-Bürger nicht das Recht hatten, ihren Staat freimütig zu kritisieren, kann die Juristin nicht begreifen.
Heftig stört sie sich heute an der für die deutschen Verhältnisse so bezeichnenden politischen "Erinnerungs-Borderline", also der historischen Unentschiedenheit, die sie etwa am Umgang mit dem Palast der Republik wahrnimmt. "Erinnern oder vergessen, was ist gesünder? Zerstören oder einzäunen?" Funders Fähigkeit, die Zustände wie ein Kind zu befragen, ob sie nun "Sudelede" von Schnitzler oder eine in der DDR politisch inhaftierte Frau trifft, fördert noch einmal die ganze Absurdität deutschen Ideologie- und Obrigkeitwahns zutage.
Wie verschiedene Folgen der hatte, trägt die Autorin in jenen oft sehr bewegenden Opfer-, still-heroischen Helden- und mitunter kuriosen Tätergeschichten zusammen, die "Stasiland" ausmachen. Geschichten, die man kannte, aber wieder vergessen hat, und Geschichten, von denen man ohne Anna Funder nie gehört hätte. Im März 1997 schaltet sie unerschrocken eine Anzeige in der "Märkischen Allgemeinen": "Suche ehemalige Stasi-Offiziere und Inoffizielle Mitarbeiter zwecks Interview. Veröffentlichung auf Englisch, Anonymität und Diskretion garantiert."
Es kamen erstaunlich viele Anrufe von Männern, die sich konspirativ mit Funder verabreden wollten, so als wäre die DDR nie untergegangen. Verblüfft erlebt die Autorin, wie der von den DDR-Behörden drangsalierte Renft-Musiker Klaus Jentzsch seine Stasiakte als nichtautorisierte Biografie behandelt. Nicht selten ist sie nach Gesprächen mit Leuten aus dem Osten seltsam erschöpft - so wie es einen eben erschöpft, wenn man den konkret beschädigten Verkörperungen einer Vergangenheit gegenüber sitzt, die nicht korrigierbar ist, aber nachhaltige Folgen hat.
Eine jahrelange Menschenjagd zerstörte etwa das Leben von Miriam, die schon mit 16 als "Staatsfeindin" gilt, weil sie mit einem Kinderstempelkasten einen Aufruf für Meinungsfreiheit gestaltet hat, und deren Mann sich laut Stasi erhängt haben soll, in einer Zelle ohne Balken, Rohre und Haken. Die Leiche wies schwere Kopfverletzungen auf. Die Behörden weigerten sich in den 90-er Jahren eine Exhumierung vorzunehmen, da es keine Hinweise auf ein staatliches Verbrechen gebe. Tatsächlich hatten sie Miriams Stasi-Akten überhaupt nicht angefordert. Wo Geschichte begriffen wird als die fortdauernden Geschichten Einzelner, nicht als abgeschlossene Epoche, da muss Miriams Unfähigkeit in die Zukunft zu gehen - die Anna Funder berührend beschreibt -, symptomatisch erscheinen.
Mehr Wahrheit ist nicht zu haben
Dass man "Stasiland" nicht mehr aus der Hand legen möchte, verdankt sich dem Gewicht solcher Geschichten. Einer der großen Vorzüge des Buchs ist die mitfühlende Sachlichkeit, in der die Autorin ihre eigene Rolle als Aufschreiberin reflektiert. Anna Funders Recherche selbst bildet die Rahmenerzählung, doch die Autorin erzählt nicht nur, was ihr erzählt wurde, sie beschreibt auch die Art, in der ihre Gesprächspartner es ihr erzählt haben. Sie saß Menschen gegenüber, die seltsam beschädigt wirkten - "als sei das eigene Dasein nicht länger Wirklichkeit für sie, sondern eher ein lebender Nachruf auf ein Leben, das einmal war".
Wenn man "Stasiland" weiterdenkt, droht Deutschland eine Zukunft als Zombieland. Am Ende verspürt man Bewunderung für Anna Funders unbestechlich wachen Blick, aber auch Trauer. "Niemand kann alle Geschehnisse im Leben zusammenstellen und die Schäden berechnen, Schadenersatz für die Seele berechnen", schreibt Anna Funder. Man muss mit verschiedenen Arten von Gewissen rechnen. Ihr Buch, so sagte die Autorin, sei so wahr wie die Geschichten, die ihr erzählt wurden. Mehr Wahrheit ist nicht zu haben.
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Shaffhauser Nachrichten
Dienstag 3. August 2004, Ausland
Unwirkliche Geschichten aus dem «Stasiland»
Eine Australierin hat ein Buch über die DDR verfasst. Braucht es die Sicht von aussen, um die Vergangenheit zu verstehen?
von Peter Voegeli
Anna Funder: Stasiland. Aus dem Englischen übersetzt von Harald Riemann, Hamburg 2004, 343 Seiten, Fr. 42.30.
Sandra Pingel-Schliemann: Zersetzen - Strategie einer Diktatur. Eine Studie. Schriftenreihe des Robert-Havemann-Archivs, 413 Seiten, 3. Auflage, Berlin 2004, 22 Euro.
Berlin - Im März 1997 liess Anna Funder in der «Märkischen Allgemeinen» eine kühne Anzeige schalten: «Suche ehemalige Stasi-Offiziere und Inoffizielle Mitarbeiter zwecks Interview. Veröffentlichung auf Englisch, Anonymität und Diskretion garantiert.» Ganz konnte die Australierin ihr Versprechen nicht einhalten, denn im vergangenen Frühling ist die deutsche Übersetzung ihres preisgekrönten Buchs «Stasiland» erschienen. Und obwohl das Werk nicht auf den Bestsellerlisten erscheint, wird es dennoch in der deutschen Presse teilweise überschwänglich gelobt. «Mehr Wahrheit ist nicht zu haben», pries beispielsweise das «Hamburger Abendblatt». Die richtigen Fragen könne nur eine Ausländerin stellen, meinte die «Frankfurter Allgemeine» sinngemäss.
Anna Funder sprach mit Tätern und Opfern, berichtet bereits bekannte und weniger bekannte Geschichten aus dem brutalen und manchmal skurrilen Fundus der DDR. Ihr Vorteil war nicht nur der Blick von aussen, sondern auch der Umstand, dass die Menschen in Ostdeutschland anders mit Ausländern als mit Landsleuten (aus dem Westen) sprechen.
Lehrpläne von 1989
Brauchen die Deutschen den Blick von aussen, um sich der zentralen Linien der jüngsten deutsch-deutschen Geschichte zu vergewissern? Einerseits ja. Eine Studie des «Frankfurter Instituts für internationale pädagogische Forschung» brachte eine bedenkliche Gleichgültigkeit der Schulen zu Tage: Schüler in Bremen und Hamburg werden noch immer nach den Lehrplänen von 1989/90 unterrichtet, in denen die Wiedervereinigung nicht vorkommt. Und wer im Oktober 1999 - zehn Jahre nach dem Fall der Mauer - nach Brandenburg fuhr, konnte sich mit Teenagern unterhalten, die in ihren raren Geschichtsstunden die Ottonen behandelten, aber nichts von der Weltgeschichte wussten, die sich zehn Jahre zuvor vor ihrer Haustüre abgespielt hatte.
Andererseits nein: Die «Birthler-Behörde», die sich mit der Aufarbeitung der Stasi-Vergangenheit befasst, beschäftigt noch immer 2400 Mitarbeiter. Und obwohl die Zahl der Anträge auf Akteneinsicht von Jahr zu Jahr sinkt, stellten 2002 noch immer 94 000 Personen ein solches Gesuch. Das Interesse der Wissenschaft ist ungebrochen. Und der immense Erfolg des Kinofilms «Goodbye, Lenin!» in Ost und West spricht für sich.
Ernst und Spiel
Tut er das? Die Witze in der amüsanten Komödie sind zum Teil so alt und verbraucht, dass das Lachen der West- Zuschauer vor allem ihr Unwissen über die DDR dokumentiert. Die Heiterkeit der Ostdeutschen sei der Ausdruck des Bestrebens, die DDR-Vergangenheit zu verklären, meint Frank Ebert, Leiter des Domaschk-Archivs in Berlin, das sich mit DDR-Bürgerbewegungen befasst. Der Erfolg der verschiedensten TV-Ostalgie-Shows im vergangenen Jahr bestätigt ihn. Es gibt ein Interesse für die DDR, aber nur ein oberflächliches. Für mehr war die DDR zu grau. Auch Anna Funder beschreibt eindrücklich den Stasiterror an verschiedenen Beispielen und zeigt das viele Schwarz und das wenige Weiss der DDR. Doch die Hauptfarbe dieses Staates war Grau, ein Grau der unterschiedlichsten Schattierungen und Nuancen. Für Menschen von aussen kann die DDR deshalb fremder als ein afrikanischer Stamm sein, denn es gibt zahlreiche versteckte Zeichen, Rituale und Regeln. Ob der Blick von aussen alle diese Geheimzeichen entschlüsseln kann?
Die DDR war paradox: Selbst der Umgang mit der Stasi konnte manchmal ein Spiel sein, vor allem dann, wenn der Konflikt öffentlich war und in der Bundesrepublik wahrgenommen wurde. So wehrten sich die Mitglieder der (auch im Westen bekannten) «Umweltbibliothek», die unter dem Dach der Zionskirche in Berlin-Mitte Platz gefunden hatte, 1987 mit Erfolg bei den verschiedensten DDR-Behörden gegen den Befehl der Stasi, die Kirche wegen Baufälligkeit zu schliessen. Und setzten sich beim Bauamt durch: Die Kirche blieb offen, obwohl die Stasi das Gotteshaus ohne viel Federlesens eigenmächtig hätte schliessen können.
Kafka lässt grüssen
Doch aus dem Spiel konnte bitterer Ernst werden, wie Sandra Pingel-Schliemann in ihrer Studie «Zersetzen - Strategie einer Diktatur» an vielen Fällen belegt. Ein Beispiel: Zuerst verlor Herr J. seinen Führerschein, einige Monate späten hingen an den Bäumen der Nachbarschaft Zettel, die ihn verunglimpften und ihm üble Verdächtigungen unterschoben. Schliesslich ging im Dorf das Gerücht um, Frau J. betrüge ihren Mann und zu guter Letzt wurde er wegen eines angeblichen Diebstahls verhaftet und verurteilt. Erst nach der Wende erfuhr J., dass die Stasi Regie geführt hatte.
Dass die DDR
erst vor knapp 15 Jahren untergegangen ist, erscheint heute unwirklich: Viel
entfernter erscheint jene Welt von gestern. Braucht Deutschland den Blick von
aussen, um sie nicht zu vergessen? Vielleicht, aber nicht nur. Auch wenn Frank
Ebert, einst selbst in DDR-Oppositionskreisen tätig, skeptisch ist, ob der Blick
von aussen die profunden Kenntnisse der Insider aufwiegt, glaubt er: «Die
Geschichte der DDR wird erst in zwanzig oder dreissig Jahren abgeschlossen sein.
Und dann vielleicht durch Leute von aussen.»
A stranger in the east
(Filed: 07/06/2004)
Anna Funder's acclaimed investigation of the GDR's secret police was greeted with hostility when it was published in Germany this spring. The Australian author recalls her gruelling book tour
Book publicists are not meant to scare you senseless. Just before I left Sydney in March for a two-week, 10-stop tour of Germany to launch my book Stasiland, the Hamburg publicist e-mailed me, warning, "Wear a flak jacket. The booksellers, especially in the former East Germany, are livid."
Stasiland is about people who resisted the East German dictatorship, and others who worked for its secret police, the Stasi. It is a close-up look at the underbelly of the second German dictatorship of the 20th century - what life was like for four ordinary (but also extraordinary) people who came into the radar of "the most perfected surveillance state of all time".
The Stasi was the massive internal army by which the Socialist Unity Party (SED) kept control of the German Democratic Republic.
With a vast network of informers, it spied on and imprisoned anyone it chose. It broke into flats and stole people's underwear, bottling it as "smell samples" for identification purposes; it irradiated objects and people so as to be able to track them with Geiger counters, and it had plans, well into the 1980s, for the invasion of West Berlin.
My book has been published in Australia, Britain, America and several other countries but, at first, no German publisher would touch it. The closest I got to an explanation was in a rejection from a large, former East German house: "This is the best book by a foreigner on this issue. But, unfortunately, in the current political climate, we cannot see our way to publishing it." I had no idea what this meant. But now a smallish, independent publisher had bought the rights and I was on my way to Germany to find out.
Stasiland was launched at the Leipzig Book Fair in the massive former secret policemen's ballroom of the Runde Ecke building. From the stage, there was about an acre of parquetry between me and the back of the room. The people sitting on their chairs looked small and somehow at risk under the gigantic yellowing light-fittings suspended from the ceiling. That is, apart from the men wearing the usual ex-Stasi mufti of vinyl bomber jackets and Brylcreem who sat in a row, cross-armed and stony. This building is now a museum of the Stasi regime. Despite my nerves, I was pleased to be launching the book in the city where the 1989 revolution started, and in the building where the book was conceived.
My publisher, Dr Groenewold, is a West German woman in her sixties. She was very nervous about her introductory speech, by which she intended to bridge a gap between East and West Germans by talking about what they have in common. It was called, simply Verrat or "Betrayal". She spoke about the betrayal by the Nazi Germans of their Jewish and other fellow citizens, and of the society founded on betrayal of others that followed in East Germany. And she spoke of the betrayal that happens after a regime is over, in that the German people have always tried to forget their victims, and are still doing so now. It was the Nuremberg Trials, and through them the outside world, that forced West Germans to remember the Nazi past. There is no such pressure on East Germans - will the terrible misdeeds of this latest German dictatorship make no mark on the national consciousness? When she finished, the room was silent.
I then read from different parts of my book. Afterwards, the silence continued. Eventually a thin woman stood up at the back of the room. She cleared her throat, and shouted, "Who gave you the right to write about us?"
Some East Germans insist that only those who lived through the regime can legitimately write about it; even West Germans should refrain from examining or judging the East. But I am neither West nor East German so, when addressed to me, the question expresses a desire somehow to keep the publicity about the shameful or horrific intricacies of the regime to a minimum. One East German journalist asked me at the end of a difficult interview, "But what will they think of us abroad now?"
Yet most of all, to question someone's right to speak out or write about something is a legacy of totalitarianism: there is still a sense that only certain people should be allowed to write about and publish certain things. In reply, I pointed out that the book consists, largely, of the stories of people who lived in the GDR. I said that, where I come from, writers can write about almost anything they choose. Then I asked, "From what authority should I have sought permission?"
Other questions came, which were repeated at my readings throughout the former East. Why hadn't I just written about "normal life" in the GDR? Why did I search out such extreme stories for my book? I would say that I didn't make up the Stasi and their extreme methods. I also didn't have to look very far at all to find stories of resistance and its terrible consequences. And I didn't find the world that the East German state created in any way "normal".
In both East and West Germany, I was asked, in tones varying from the pugilistic to the genuinely curious, "What would you have done had you lived in the GDR?" I said I doubted I would have had the courage of those in the book, but that made them seem even braver to me.
It was this question that made me realise, finally, one of the fundamental causes of denial. When they read my book, people in the East are not proud of the courage of their compatriots in it. Instead, they reproach themselves for having done nothing, or perhaps, in some cases, for having collaborated. They would rather not be reminded that other people were braver than they were. And, in order not to be so reminded, there is a huge force in collective consciousness to pretend that the Stasi regime was "not all that bad", or that it was "not everywhere, as people say now". (It was.)
The opposite reaction came from those who had been against the regime. In Dresden, after a couple of men who looked as if they were ex-Stasi had left the room, a woman said, "Thank you for this book. I was in prison here, and no one will talk about this past. Which was my life. We need this." This happened again and again: someone would rise, expressing relief that their side of history was being represented. The West German publicist called these occasions "therapy sessions", as if it were not appropriate. But perhaps it is necessary.
The pressure to forget, to take the sting out of history, can be felt in the West as well as the East. Westerners ask, "But who knows what you or I would have done had we lived there? We too might have collaborated, so we shouldn't judge those who did." This is moral abnegation disguised as some sort of relativistic tolerance.
Whether I was in the East or the West, I was always asked the terrible question, "What is it about us Germans, do you think, that makes us do these things?" By "these things" it was clear that the questioner meant instigate, implement and obey the dictatorships of the Nazi period and then of the Socialist Unity Party in the GDR. I felt I was expected to list, as Germans themselves frequently do, the "German characteristics" of diligence, punctuality, attention to detail, desire to belong to groups of all kinds, and obedience to authority. The willingness of a people to let themselves be defined by an outside authority - in this circumstance, however unlikely, a writer on a podium, but usually a government - is a very dangerous thing. People who look for a cohesive identity to be given to them from above can be easily led.
The current wave of Ostalgie, or nostalgia for the East, is a nostalgia for the certainties of the former East Germany. Young people wear parts of the East German army uniform, or the Freie Deutsche Jugend blouse (the equivalent organisation of the Hitler Youth). It is as if, 15 years after the fall of the Wall, people don't feel that they belong in this new, united Germany, and they want to remember a nation that was their own. When asked my views on this, I wondered aloud whether (had it not been illegal) people would have walked about 15 years after the end of the Second World War with the swastika on their clothes, or in Wehrmacht or SS uniforms? At this, there was an audible in-drawing of breath: it is taboo in Germany to compare anything, any regime or genocide, to the Nazi regime and the Holocaust. I would never seek to diminish those horrors. But the ways the Nazis maintained control of the population were extended and perfected under the East German regime, which adopted many of the organisational structures of its predecessor.
When I was in Berlin researching Stasiland in the 1990s, I was warned that no ex-Stasi would speak to me. So I took a shortcut, advertising in the personal columns of the Potsdam paper Märkische Allgemeine. The phone rang hot, and I managed in my book to tell stories from inside "the Firm" - the very human tales of men of varying degrees of self-importance, self-justification and creepiness.
I had no trouble at all finding stories, truly remarkable ones, of conscience and resistance among ordinary people. On my book tour of Germany, I had arranged to meet up with "Miriam Weber", the main character of my book.
Miriam had tried to scale the Berlin Wall on New Year's Eve 1968 to escape her forthcoming trial for treason. She was 16 years old. Later in life, she had the macabre experience of watching the Stasi orchestrate the funeral of her young husband, Charlie, who had died in mysterious circumstances in their custody.
The last time I saw her, in 2000, she was still in a state of waiting: waiting for him to be exhumed as part of the investigation into his death. And she was desperately hoping for news of how he died to be discovered by the "puzzle women", who sit in Nuremberg slowly piecing together files the Stasi hand-ripped in the last days of the regime.
Miriam didn't come to the reading - she probably dislikes being in this building, I thought, or she wanted to avoid a possible encounter with former Stasi men. When I visited her the next day, she told me of the former Stasi men and informers now high up in the public media organisation where she works. Miriam said she recognises people in the unemployment office as former officials of the East German Ministry of the Interior, still using the same harsh tone towards the public. Just as after the Nazi time, she says, the high value placed on administrative efficiency, on "knowing how it's done", means the administrators of the old regime are firmly ensconced in the new.
When I asked her why people don't want to remember East German resisters, Miriam drew a parallel. She said there is virtually no acknowledgment of those who helped the Jews during the Nazi regime, because to celebrate their courage would be to give the lie to the myth (the Lebenslüge) that no one knew what was happening to the Jews.
The former Stasi men, with their educations and reliable work histories, have, for the most part, fared far better in the new Germany than the people they persecuted. Yet people like Miriam who resist the pressure to inform and betray, and who call injustices as they see them, are the bulwark against dictatorship. As Miriam said, "If the resisters are not properly remembered, the lesson of history looks to be: conformity and collaboration pay, in both the short and the long term."
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Miriams Geschichte
Miriam Weber steht am Ende des Bahnsteigs, eine kleine, stille Frau im Strom aussteigender Fahrgäste. Sie hält eine einzelne Rose vor sich, sodass ich sie erkennen kann. Wir geben einander die Hand, ohne uns allzu genau anzusehen, und reden über Züge, Reisen, Regen. Es ist wie ein »Blind Date«, weil wir uns einander beschrieben haben. Ich weiß, sie hat ihre Geschichte noch nie jemandem zuvor erzählt.
Wir fahren durch Leipzig. Die Stadt ist eine einzige Baustelle, ist in Arbeit mit dem neuen Ziel des Fortschritts. Kräne hacken in Löcher wie in offene Wunden. Die Leute ignorieren sie, während sie sich mit gesenktem Kopf auf den Gehsteigen und schmalen Straßen entlang drängen. Auf einem der Zementtürme dreht sich ein großer Mercedes-Stern, tanzt einen neuen Takt.
Miriams Wohnung liegt unterm Dach. Das Haus hat fünf Treppenaufgänge, breite, geschwungene Stufen mit einem anmutigen, dunklen Geländer. Ich bemühe mich, nicht allzu laut zu keuchen, nicht an meinen Brummschädel zu denken; versuche, mich zu erinnern, wann Fahrstühle erfunden wurden. Die Wohnung ist ein großer heller Raum unter dem Dachvorsprung, voller Pflanzen und Lampen, mit Blick über ganz Leipzig. Von hier aus kann man jeden kommen sehen.
Wir sitzen in großen Sesseln aus Weidenrohr. Ich sehe Miriam direkt an. Sie ist eine Frau Mitte vierzig mit hübschem, kurz geschnittenem Haar, das auf dem Kopf absteht wie bei einem Jungen aus dem Comic, und kleiner, runder Brille. Sie trägt einen langen schwarzen Pullover und Hosen und zieht die Beine unter sich ein. Ihre Stimme ist überraschend nikotingefärbt und scheint von überall und nirgendwo zugleich herzukommen, so schmächtig ist sie; dabei ist nicht sofort klar, dass es ihre ist; sie erfüllt den Raum und hüllt uns ein.
»Ich wurde offizieller Staatsfeind mit sechzehn. Mit sech-zehn.« Miriam sieht mich durch die Brille an, und ihre Augen sind groß und blau. In ihrer Stimme liegt eine Mischung aus Stolz darauf, ein solcher Satansbraten zu sein, und Ungläubigkeit darüber, dass dieses Land sich Feinde aus seinen eigenen Kindern erschafft. »Wissen Sie, mit sechzehn juckt es einem förmlich unter den Nägeln.«
1968 wurde die alte Universitätskirche in Leipzig plötzlich, ohne jede Diskussion in der Öffentlichkeit, abgerissen. Zweihundertfünfzig Kilometer entfernt war der Prager Frühling in vollem Gange, und die Russen hatten ihre Panzer noch nicht in die Stadt gebracht, um die Demonstranten für Demokratie zu zermalmen. Der Abriss der Kirche in Leipzig wurde zum Focus für das weit verbreitete Unbehagen, das die Leipziger von ihren tschechischen Vettern übernommen hatten. Dreiundzwanzig Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs stellte die junge Generation Fragen, wie ihre Eltern kommunistische Ideale in die Tat umgesetzt hatten. Die Leipziger Demonstrationen wurden vom ostdeutschen Regime als ein Zeichen der Zeit interpretiert, eine Glut, aus der rasch ein Feuer werden konnte. Die Polizei ging mit Wasserwerfern vor und verhaftete viele Demonstranten. Miriam und ihre Freundin Ursula fanden das nicht richtig. »Mit sechzehn hat man eine Vorstellung von Gerechtigkeit, und wir fanden das einfach falsch. Wir waren gar nicht ernsthaft gegen den Staat – darüber hatten wir noch gar nicht nachgedacht. Wir fanden nur, dass es nicht fair war, gewalttätig gegen die Leute vorzugehen und mit Pferden und so anzukommen.«
Die beiden beschlossen, etwas dagegen zu unternehmen. In einem Schreibwarengeschäft kauften sie Kinderstempel und Stempelkissen, kleine Gummibuchstaben und eine Leiste zum Einsetzen. »Konnte man solche Sachen kaufen?«, fragte ich. Ich wusste, dass Vervielfältigungsmaschinen, Schreibmaschinen und später Fotokopierer in der DDR strikt (wenn auch nicht besonders wirksam) durch behördliche Genehmigungen kontrolliert wurden. »Nicht, nachdem wir fertig waren«, lächelt sie. »Die Stasi entfernte sie aus den Regalen.« Miriam und Ursula stellten Flugblätter her, »Verständigung, keine Wasserwerfer!« und »Volk der Volksrepublik, muck auf!«, und eine Nacht lang klebten sie sie überall in die Stadt. Sie trugen Handschuhe, um keine Fingerabdrücke zu hinterlassen. »Wir hatten genauso viele Romane wie die anderen gelesen«, sagt sie lachend. Miriam verbarg die Plakate in ihrer Jacke; Ursula hatte eine Tube Kleister und einen Pinsel in einem Milchkasten versteckt. Sie waren schlau: Sie klebten ihre Flugblätter in Telefonzellen über die Anweisungen und an Straßenbahnhaltestellen über die Fahrpläne. »Wir wollten sichergehen, dass die Leute sie lasen.« Sie zogen einen Kreis um die Stadt und marschierten dann direkt hindurch.
Die Mädchen kamen am Bezirkshauptquartier der Kommunistischen Partei vorbei. Alles lief gut. »Wir sahen uns nur an und konnten nicht widerstehen.« Sie gingen hinein und sagten auf gut Glück zu dem Wachhabenden, sie seien gekommen, um Herrn Schmidt zu sprechen, in der Hoffnung, es gäbe einen Mann dieses Namens im Haus. Immer wieder überlegten sie später, was sie wohl getan hätten, wäre Herr Schmidt herausgekommen. Der Wachhabende griff zum Telefon. Er legte den Hörer wieder auf. »Äh, nein, Genosse Schmidt ist im Moment nicht da.« Die Mädchen sagten, sie würden am nächsten Tag wieder kommen.
»Auf dem Weg hinaus standen schöne glatte Säulen ...« Miriam ist jedenfalls davon überzeugt, dass sie damit durchgekommen wären, hätten sie es dabei belassen, aber auf dem Heimweg gingen sie dann einen Schritt zu weit. Als sie an einem Haus vorbeikamen, in dem einige ihrer Klassenkameraden wohnten, stecktensie Flugblätter in die Briefkästen zweier Jungs, die sie kannten. Am nächsten Tag riefen die Eltern des einen die Polizei. »Warum haben die denn wegen ein paar Blättern Papier gleich die Polizei gerufen?«, fragte ich. »Weil sie dumm waren oder in der Partei, wer weiß?« »Es wirkt so harmlos«, sagte ich. Ruhig, aber bestimmt kommt Miriam darauf zurück. »Zu der Zeit war das nicht harmlos. Es galt als Volksverhetzung.«
In Ostdeutschland liefen Informationen in einem geschlossenen Kreis zwischen der Regierung und ihrer Pressestelle. Da die Regierung alle Zeitungen, Zeitschriften und Fernsehsender kontrollierte, war die Ausbildung zum Journalisten in Wirklichkeit eine Ausbildung als Regierungssprecher. Bücher waren nur eingeschränkt zu bekommen. Die Zensur übte konstanten Druck auf Autoren aus und wurde von den Lesern als gegeben hingenommen, sodass sie lernten, zwischen den Zeilen zu lesen. Das einzige Massenmedium, das die Regierung nicht kontrollieren konnte, waren die westlichen Fernsehsender, dennoch versuchten sie es: Bis in die frühen 70er Jahre hinein überwachte die Stasi den Winkel der Antennen, die aus den Wohnungen hingen, und bestrafte jeden, dessen Antenne nach Westen ausgerichtet war. Später gaben sie auf: Die Vorteile einschläfernder, kommerzieller Programme wog offenbar die Gefahren von Nachrichtensendungen aus der freien Welt auf. Volksverhetzung unterlag der Geheimpolizei, nicht der gewöhnlichen Volkspolizei. Die Stasi war methodisch. Sie verhörte alle Klassenkameraden der beiden Jungen, die das Pamphlet bekommen hatten. Sie sprach mit dem Rektor, den Lehrern und den Eltern. Mehrere Tage vergingen. Miriam und Ursula einigten sich auf einen Plan, wenn sie verhaftet und ins Gefängnis gesteckt werden sollten: Keine von ihnen würde irgendetwas zugeben. Die Stasi zog ein paar Verdächtige in die engere Wahl. Männer mit Handschuhen und Hunden durchkämmten Miriams Haus. »Und wir dachten, wir seien so vorsichtig gewesen, hatten alles weggeworfen und alle Beweise vernichtet.« Die Stasi fand ein paar der kleinen Gummibuchstaben im Teppich. Miriams Eltern erklärten der Polizei, sie wüßten überhaupt nicht, wie so etwas in ihrem Haus hatte geschehen können. Die Mädchen wurden einen Monat lang in eine Einzelzelle gesperrt. Sie bekamen weder Besuch von ihren Eltern noch von Rechtsanwälten, keine Bücher, keine Zeitungen, keinen Telefonanruf. Anfangs hielten sie sich an ihren Plan. »Nein, ich weiß auch nicht, wie die Flugblätter dorthin gelangten; nein, das kann unmöglich sie gewesen sein.« »Aber letzten Endes brechen sie dich. Genau wie im Krimi. Sie wandten den alten Trick an und sagten jeder von uns, die andere habe gestanden, also könnten wir es ebenso gut. Ohne jeden Besuch, ohne Bücher oder sonst etwas denkst du dann: Na ja, wahrscheinlich hat sie’s gesagt.« Die Mädchen wurden bis zu ihrem Prozess freigelassen. Als Miriam nach Hause kam, dachte sie, um keinen Preis bringen die mich da wieder rein. Am nächsten Morgen nahm sie einen Zug nach Berlin. Es war Silvester 1968, und Miriam Weber wollte über die Mauer.
aus: "Bornholmer Brücke"
Man braucht keine zwei Stunden von Leipzig nach Berlin, aber Miriam war nie in ihrem Leben dort gewesen. Alleine in der großen Stadt, kaufte sie am Bahnhof einen Stadtplan. »Ich wollte mir die Grenze an ein paar Stellen ansehen. Ich dachte: Das darf doch nicht wahr sein, irgendwo musst du doch über das Ding kommen.«
Am Brandenburger Tor staunte sie, dass sie direkt an die Mauer herangehen konnte. Sie konnte nicht fassen, dass die Wachposten sie so nahe heranließen. Aber sie war zu glatt und zu hoch zum Überklettern. Später fand sie heraus, dass die Grenzanlage an dieser Stelle überhaupt erst hinter der Mauer begann. »Selbst wenn ich es da rauf geschafft hätte, hätte ich nur den Kopf rüberhalten und den Wachposten des Ostens einen Gruß zuwinken können.« Sie winkt mit beiden Händen und zuckt die Schultern. Als der Abend anbrach, sahen die Chancen dürftig aus. »Ich hatte kein einziges Loch gefunden«, sagt Miriam. Ihr war kalt und elend zu Mute. Sie stieg in die S-Bahn zum Alexanderplatz, um mit dem Zug zurück nach Hause zu fahren. Es war dunkel, und sie würde wieder ins Gefängnis kommen. Auf Hochgleisen schlenkerte der Zug zwischen den Gebäuden hindurch. Häuser auf beiden Seiten, glatte Plattenbauten mit viereckigen Fenstern, fünf Stockwerke hoch. Einige erhellt, andere dunkel, einige mit Blumentöpfen, andere ohne. Dann änderte sich die Aussicht. Miriam brauchte einen Moment, ehe sie es in der Dunkelheit erkannte, doch plötzlich fuhr sie an hohen Maschendrahtzäunen vorbei. »Ich dachte: Wenn ich hier entlangfahre, und neben mir ist dieser große Drahtzaun, dann muss Westberlin gleich drüben auf der anderen Seite sein.« Sie stieg aus, wechselte den Bahnsteig und fuhr mit dem nächsten Zug zurück. Es war genau, wie sie gedacht hatte: ein großer Drahtzaun. Wieder stieg sie aus, diesmal an der Haltestelle Bornholmer Brücke, und ging zurück.
Später suchte ich die Bornholmer Brücke auf dem Stadtplan. Ich hatte davon gehört und geglaubt, es müsse einer der Orte sein, an denen Ost- und Westdeutschland ihre Spione austauschten. Heute sehe ich nichts als diese Brücke, sobald ich einen Stadtplan aufschlage. Es ist, wie wenn du bemerkst, dass jemand schielt, und du nichts anderes mehr in seinem Gesicht siehst.« Eine Bahnlinie des Westens traf im geteilten Deutschland nur selten auf eine Bahnlinie des Ostens. An der Bornholmer Brücke schwenkt noch eine Bahnlinie von Nordwesten herunter nach Südwesten und eine Ostbahn von Südosten nach Nordosten. Auf der Karte sehen sie aus wie das Profi l zweier Figuren beim Maori-Nasenkuss.
An der Bornholmer Brücke verlief die Grenze theoretisch entlang des Zwischenraums zwischen den beiden Gleisen. An anderen Stellen in Berlin hat die Grenze, und damit die Mauer, seltsame Wunden durch die Stadt geschnitten. Die Mauer ging durch Häuser hindurch, lief auf Straßen und Wasserwegen entlang und zerstückelte U-Bahn-Linien. Anstatt hier die Bahnlinie abzuschneiden, hatten die Ostdeutschen die Grenzbefestigung vor die Bahnlinie auf die Ostseite gebaut und die Ostzüge zur äußersten Mauer am Ende des Todesstreifens durchfahren lassen. »Ich warf einen Blick auf die Lage und entschied: gar nicht so schlecht.« Miriam konnte die Grenzanlage sehen, dieses Gewirr aus Draht und Zement, Asphalt und Sand. Davor lag ungefähr ein Hektar eingezäunter Schrebergärten, jeder davon mit eigenem kleinem Schuppen. Diese handtuchgroßen Parzellen sind eine traditionell deutsche Lösung für die Sehnsucht nach Werkzeugschuppen und Gemüsebeeten. Sie bilden einen grünen Flickenteppich an den unerwartetsten Stellen der Stadt, entlang von Bahngleisen oder Kanälen oder, wie hier, im Windschatten der Mauer.
Miriam durchquerte die Gärten, kletterte über die Zäune, die sie voneinander trennten, und versuchte, näher an die Mauer heranzukommen. »Es war dunkel, und ich hatte Glück; später erfuhr ich, dass auch Patrouillen durch die Gärten zogen.« Sie ging so weit wie möglich, kam aber nicht zur Mauer, weil »diese tolle, dicke Hecke« davor war. Sie durchstöberte einen Werkzeugschuppen nach einer Leiter und fand auch eine. Sie lehnte sie gegen die Hecke, kletterte hinauf und sah sich lange prüfend um. Der ganze Streifen wurde von einer Reihe großer Straßenlichter auf Pfosten beleuchtet, die sich exakt im selben Winkel neigten. Über ihr brach das Silvesterfeuerwerk los. Die Bornholmer Brücke war etwa hundertfünfzig Meter entfernt. Zwischen ihr und dem Westen befanden sich ein Maschendrahtzaun, ein Patrouillestreifen, ein Stacheldrahtzaun, eine zwanzig Meter breite Asphaltstraße für den Personaltransport und ein Fußweg. Dann erstreckten sich die Wachhäuser des Ostens in ungefähr hundert Metern Abstand voneinander und dahinter wieder Stacheldraht. Miriam nimmt ein Stück Papier und kritzelt alle möglichen Linien durcheinander, damit ich ein Bild vor Augen habe.
»Über das alles hinweg konnte ich die Mauer sehen, die ich vom Zug aus bemerkt hatte, die Mauer, die an der Bahnstrecke entlang verläuft. Ich nahm an, dass dahinter der Westen war, und ich hatte Recht. Ich hätte mich irren können, aber ich hatte Recht.« Wenn es für sie eine Zukunft geben sollte, dann lag sie da drüben, und sie musste dorthin gelangen. Ich sitze in meinem Sessel und erkunde die Bedeutung von Sprachlosigkeit, rolle das Wort in meinem Kopf hin und her. Als Miriam über sich selbst und die Beherztheit mit sechzehn lacht, lache ich mit. Mit sechzehn bist du unverwundbar. Ich lache mit ihr über das Herumgestöber nach einer Leiter im Werkzeugschuppen anderer Leute, und ich lache lauter, als sie eine findet. Wir lachen über die Absurdität, dass jemand, kaum mehr als ein Kind, in Beatrix Potters Garten an der Mauer umhertapst, dabei nach Mr. McGregor und seiner Donnerbüchse Ausschau hält und eine Leiter sucht, um eine der am strengsten bewachten Grenzanlagen der Welt zu überwinden. Wir beide mögen das Mädchen, das sie war, und ich mag die Frau, die sie geworden ist.
Plötzlich sagt sie: »Ich habe noch die Narben auf den Händen vom Überklettern des Stacheldrahts, aber man kann sie jetzt nicht mehr so gut sehen.« Sie streckt ihre Hände vor. Die weichen Teile ihrer Handflächen sind deutlich von weißen Narben zerkratzt, jede davon etwa einen Zentimeter lang. Der erste Zaun war aus Maschendraht mit einer Stacheldrahtrolle oben drauf. »Das Komische dabei ist, dass dieser Stacheldraht da oben auf dem Zaun spiralförmig zu einer Art Röhre gerollt ist, wissen Sie? Meine Hose war völlig zerrissen, und ich blieb hängen – steckte fest auf dieser Rolle! Hing einfach da! Ich kann kaum fassen, dass mich niemand gesehen hat.« Ein Pierrot auf dem Präsentierteller. Irgendwie muss Miriam freigekommen sein, denn als Nächstes überquerte sie auf allen vieren den Weg, die breite Straße und den 30 nächsten Streifen. Die Gegend war taghell beleuchtet. »Ich ging einfach auf die Knie und los. Aber ich war vorsichtig. Ganz langsam.« Nach dem Fußweg überquerte sie die breite Asphaltstraße. Sie spürte ihren Körper nicht, war unsichtbar, bestand nur noch aus Nervenenden und Angst.
Warum ging man nicht auf sie los? Was taten sie? Sie erreichte das Ende des Asphalts, und noch immer war niemand gekommen. Ungefähr ein Meter über dem Boden war ein Kabel gespannt. Sie blieb stehen. »Ich hatte es von der Leiter aus gesehen. Da ich dachte, es könnte eine Art Alarm oder so sein, hangelte ich mich flach auf dem Bauch darunter durch.« Sie kroch über die letzte Strecke zu einem Knick in der Mauer, kauerte sich hin, sah sich um und hielt den Atem an. »Dort blieb ich hocken. Ich wartete darauf, was geschehen würde, starrte einfach vor mich hin.« Sie glaubte, die Augen würden ihr aus dem Kopf fallen. Wo waren sie? Etwas bewegte sich, dicht neben ihr. Es war ein Hund, ein riesiger Schäferhund, der in ihre Richtung blickte. Das Kabel war kein Alarm: Es waren Hunde daran gekettet. Sie konnte sich nicht bewegen. Der Hund bewegte sich nicht. Sie glaubte, die Blicke der Wachposten würden denen des Hundes hin zu ihr folgen, wartete darauf, dass er bellte. Wenn sie sich die Mauer entlang fortbewegte, würde er sich auf sie stürzen. »Ich weiß nicht, warum er mich nicht angriff. Keine Ahnung, wie Hunde sehen, aber vielleicht hatte man ihn darauf dressiert, anzugreifen, was sich bewegte, Leute, die davonliefen, und ich war auf allen vieren gekrabbelt. Vielleicht hielt er mich für einen anderen Hund.« Sie hielten gegenseitig den Blick, und es schien ewig. Dann fuhr ein Zug vorüber, und ungewöhnlicherweise war es ein Dampfzug. Sie wurden beide in einen feinen Nebel gehüllt. »Vielleicht verlor er dadurch meine Fährte.« Zu guter Letzt trottete der Hund davon. Wieder wartete Miriam lange Zeit. »Ich dachte, er würde zu mir zurückkommen, aber er kam nicht.« Sie kletterte auf den letzten Stacheldrahtzaun, um auf die Mauer entlang der Bahnstrecke zu gelangen. Von dort konnte sie den Westen sehen – glänzende Autos und beleuchtete Straßen und das Gebäude der Springer-Presse. Sie konnte sogar die Wachposten des Westens in ihren Wachhäusern sitzen sehen. Die Mauer war breit. Ungefähr vier Meter musste sie darauf zurücklegen und dann unter einem kleinen Geländer durch. Das war alles. Sie konnte es kaum glauben. Die wenigen letzten Schritte wollte sie laufen, bevor man sie schnappte. »Das Geländer war wirklich nur so hoch«, sagte sie und hielt eine Hand auf Oberschenkelhöhe, »und ich musste bloß darunter durch.
Ich war so vorsichtig gewesen und so langsam. Jetzt dachte ich: Du hast nur noch vier Schritte, LAUF, bevor sie dich kriegen. Doch hier« – sie kritzelt ein X, wieder und wieder, auf die Karte, die sie mir gezeichnet hat –, »hier war ein Stolperdraht.« Die Stimme ist ganz sanft. Wieder und wieder kritzelt sie das X, bis ich glaube, das Papier müsse gleich reißen. »Ich habe den Draht nicht gesehen.«
Heulend gingen die Sirenen los. Die Wachposten im Westen schalteten Suchscheinwerfer an, um sie zu finden und um die Wachposten im Osten davon abzuhalten, sie zu erschießen. Rasch zerrten diese sie fort. »Du Stück Scheiße«, sagte ein Jüngerer von ihnen. Sie brachten sie nach Berlin ins Stasi-Hauptquartier. Man verband ihr Hände und Beine, und erst jetzt sah sie das Blut und verspürte Schmerzen. Sie hatte Blut im Gesicht und im Haar. »Aber sie hatten mich wirklich nicht gesehen. Niemand hatte mich gesehen.« Sie war so nahe dran gewesen. Im Westen strahlte das Neon, und in der Luft zerstörten sich Feuerwerkskörper gegenseitig. Auf dem Hintersitz einer grünen Minna wurde Miriam zurück nach Leipzig gebracht. Der Stasi-Offizier, der sie verhörte, sagte, sie hätten ihre Eltern kontaktiert, die nichts mehr mit ihr zu tun haben wollten.
»Haben Sie ihm geglaubt?«
»Ach, eigentlich nicht. Nicht wirklich, nein.« Es war schwer, sich einer Sache, eines Menschen sicher zu sein. Miriam macht eine Pause. Es war eine unbehagliche Frage. »Wahrscheinlich haben sie den armen Hund ausgetauscht, denke ich mir«, sagt sie. »Entweder das oder erschossen.« Miriam wurde in eine Zelle in der Dimitroffstraße gebracht, die man im nahe gelegenen Stasi-Museum nachgebaut hat. Die Zelle ist zwei mal drei Meter groß und hat an einem Ende ein winziges, hoch oben eingesetztes Fenster mit trüb mattierter Scheibe. Eine Bank mit einer Matratze, ein Klo und ein Waschbecken. Die Tür ist dick, mit Eisenriegeln und einem Guckloch, damit dich der Wächter beobachten kann. Sie hängt in einer so tiefen Mauer, dass ich das Gefühl hatte, eine Luftschleuse zu betreten. Auch diesmal waren keine Telefonate, kein Rechtsanwalt, kein Kontakt mit der Außenwelt gestattet. Sie war sechzehn und wieder in Einzelhaft. »Wenn sie mich zum Verhör holten, hatte ich immerhin etwas zu tun«, sagt sie lächelnd. »Aber damit«, sie macht eine Pause, »damit begann die ganze elende Geschichte erst.« Zurück in Leipzig, gab es ihr die Stasi dann tüchtig.
Während des Koreakriegs in den Fünfzigern kursierten Gerüchte über obszöne Foltermethoden, denen amerikanische Kriegsgefangene unterworfen worden waren. Die Gefangenen wurden in ein Lager gebracht, und kaum eine Woche später erschienen sie auf einem Podium, wo sie für die Kameras hirnlos ihren Übertritt zum Kommunismus kundtaten. Nach dem Krieg wurde aufgedeckt, dass sich hinter dem Geheimnis der koreanischen Militärs entgegen allen Gerüchten weder Althergebrachtes noch Hightech versteckte – es war Schlafentzug. Ein hungriger Mann kann noch Galle spucken, aber ein Zombie ist außerordentlich fügsam.
Das Verhör von Miriam Weber, Alter sechzehn, fand zehn Nächte lang jede Nacht sechs Stunden statt, von 22 Uhr bis vier Uhr morgens. Um acht Uhr gingen die Lichter in der Zelle aus, und sie schlief zwei Stunden, bis man sie zum Verhör holte. Zwei Stunden bevor die Lichter um sechs Uhr wieder angingen, brachte man sie zurück in ihre Zelle. Tagsüber durfte sie nicht schlafen. Ein Wächter beobachtete sie durch das Guckloch und hämmerte an die Tür, wenn sie einnickte. »Hier und da sah ich mal hoch zu dem Auge am Guckloch, wenn er gegen die Tür bollerte, und dachte: ›Warum verpisst du dich nicht mal zur Abwechslung?‹ und döste weiter. Dann kam er herein, schüttelte mich und nahm die Matratze von der Bank, sodass nichts mehr da war, um darauf zu sitzen. Sie sorgten wirklich dafür, dass ich nicht schlief. Ich kann dir gar nicht sagen, wie fertig einen das macht.« Später schlug ich in einem Fachbuch nach. Schlafentzug kann die Symptome von Verhungern annehmen, besonders bei Kindern – die Opfer werden desorientiert und gefühllos. Sie verlieren den Sinn für Zeit und sind eingeschlossen in eine endlose Gegenwart. Schlaf-entzug verursacht auch verschiedene neurologische Störungen, die immer extremer werden, je länger er anhält. Am Ende nehmen die Wachstunden die Logik eines Traumes an, in dem sonderbare Dinge miteinander verknüpft werden, und du bist nur noch böse, auf die Welt, die dich nicht ausruhen lässt.
Es ging über das Verständnis der Stasi, dass eine Sechzehnjähri-ge ohne Werkzeuge, ohne Übung und ohne Hilfe auf Händen und Knien über ihre »Antifaschistischen Schutzmaßnahmen« krabbeln konnte. Der Wachposten, der sie das erste Mal zum Verhör holte, verriet unfreiwillig seine Bewunderung, indem er sie fragte, in welchem Sportclub sie sei. Sie war in keinem. Das Hauptanliegen beim Verhör Nacht für Nacht war aber, den Namen der Untergrund-Fluchtorganisation, die ihr geholfen hatte, aus ihr rauszuholen. Sie wollten die Namen von Mitgliedern, Angaben zu ihrem Äußeren. Wessen Plan war es, am Silvesterabend, wenn die Nacht voller Lärm war, loszuziehen? Wie kam sie darauf, zu den Bornholmer Schrebergärten zu gehen, wenn sie nie zuvor in Berlin gewesen war? Wer hatte ihr beigebracht, Stacheldraht zu überklettern? Und am hartnäckigsten, wer hatte ihr erzählt, wie man an den Hunden vorbeikam? »Sie konnten sich einfach nicht vorstellen, wie ich an dem Hund vorbeigekommen war. Armes Tier.« Sie scheuten keine Bosheit. Man sagte ihr, selbst wenn sie es geschafft hätte, hätte man sie wieder zurückgeschickt, weil sie minderjährig war. Sie protestierte. »Auf keinen Fall hätten die im Westen mich hierher zurückgeschickt«, erklärte sie dem Offizier, der sie verhörte. »Denn ich bin ein politisch verfolgter Flüchtling, seit ich die Flugblätter angeklebt habe.« Miriam reckt ihr Kinn vor wie ein freches Kind, das immer noch glaubt, es gäbe ein Sicherheitsnetz, das sie auffangen würde.
Meistens wurde sie von einem Major namens Fleischer verhört, aber manchmal waren es auch zwei. Beide trugen Schnurrbart, Borstenhaarschnitt und wurstig zugeknöpfte graue Uniform. Der Jüngere war so steif, als hätte er einen Rohrstock verschluckt. Major Fleischer wuchsen Haare aus den Ohren. Manchmal tat er so, als sei er ihr Freund, »wie ein guter Onkel«. Dann wieder drohte er ihr. »Wir haben noch ganz andere Möglichkeiten, dies hier zu erledigen, weißt du.« Ihre Antworten waren immer gleich. »Ich nahm einen Zug von Leipzig, kaufte am Bahnhof einen Stadtplan, kletterte mit einer Leiter rüber, kroch auf dem Bauch unten durch, und dann lief ich los.«
Zehn Mal vierundzwanzig Stunden, in denen du kaum schläfst. Zehn Mal vierundzwanzig Stunden, in denen du kaum wach bist. Zehn Tage sind Zeit genug zu sterben, geboren zu werden, sich zu verlieben oder verrückt zu werden. Zehn Tage sind eine sehr lange Zeit. Frage: Was tut der menschliche Geist nach zehn Tagen ohne Schlaf und zehn Tagen Isolation, gemildert nur durch nächtliche Sitzungen voller Drohungen?
Antwort: Er erträumt sich eine Lösung.
In der elften Nacht gab Miriam ihnen, was sie wollten. »Ich dachte: ›Ihr wollt also eine Untergrund-Fluchtorganisation? Na, dann werde ich euch eine geben.‹«
Fleischer hatte gewonnen. »Na bitte«, sagte er, »das war doch gar nicht so schlimm, oder? Warum hast du uns das nicht schon früher gesagt und dir alle diese Unannehmlichkeiten erspart?« Sie ließen sie vierzehn Tage lang schlafen und gaben ihr jede Woche ein Buch. Sie las es an einem Tag durch und prägte sich dann die Seiten ein, während sie in der Zelle auf und ab ging, das Buch an der Brust. »Im Nachhinein ist’s lustig«, sagt Miriam, »aber damals war es Frustration in Reinessenz. Ich erfand eine Geschichte, die nicht mal ich geglaubt hätte, nicht mal dann. Total absurd. Aber sie waren so wild darauf, eine Fluchtorganisation in die Hände zu bekommen, dass sie sie schluckten. Ich wollte nur eins: schlafen.«
Auerbachs Keller in Leipzig ist eine Institution, eine unterirdische Bar mit Restaurant, mit Eichenbänken und -tischen in langen Gewölben, Wände und Decke dunkel bemalt mit Szenen aus Goethes Faust: Faust trifft Mephisto, Faust betrügt Gretchen, Fausts Verzweiflung. Goethe kam hierher, um zu trinken. Ein guter Ort, um den Teufel zu treffen. Hier ist die Geschichte, die Miriam der Stasi erzählte: Alles begann, als sie sich mit einer Freundin in Auerbachs Keller zu Brötchen mit Gänseschmalz verabredete. Die Freundin kam nicht, also setzte sie sich allein an einen der langen Tische. Es war ge-rammelt voll; Weihnachten stand vor der Tür. Vier Männer näherten sich und fragten, ob sie sich dazusetzen dürften. Sie setzten sich und aßen. Miriam hörte ihr Gespräch mit an. Einer von ihnen berlinerte stark, voller jut und icke. Miriam hat jetzt ihren Spaß an allem. Fröhlich sieht sie mich an. Sie denkt daran, wie sie mit sechzehn war, und es freut sie.
»Also sage ich zu dem Mann, der offenbar den Ton angibt: ›Sind Sie aus Berlin?‹
Und er sagt: ›Ja.‹
›Wie ist es denn so in Berlin?‹, will ich wissen.«
Miriams Augen weiten sich, und wieder sieht sie aus wie der Comic-Junge.
»›Schön, danke.‹
›Wo in Berlin wohnen Sie denn?‹
›In Pankow.‹
›Äh, ist das in der Nähe der Mauer?‹
›Eigentlich ... Sie wollen doch nicht etwa rübermachen, oder?‹
›Doch.‹
›Na gut! Sie können aber nicht einfach an die Mauer und sich nach einer geeigneten Stelle zum Überklettern umsehen! Kommen sie mit, dann gebe ich Ihnen einen Tipp.‹« Miriam sagte »O.K.«.
Also standen alle fünf auf und stiegen in ein Taxi. Sie fuhren in südliche Richtung, aber genau konnte sie es nicht sagen, denn es war schon dunkel. Sie betraten eine Wohnung im zweiten Stock eines Hauses, oder war es der dritte? Genau konnte sie sich nicht mehr erinnern. An der Tür war kein Namensschild, so konnte sie leider nicht sagen, wem die Wohnung gehörte. Der Mann und seine Komplizen holten einen Stadtplan von Berlin und zeigten ihr die Stelle, wo sie rüberkam. Dann riefen sie wieder ein Taxi, setzten sie an Auerbachs Keller ab, und sie fuhr mit der Straßenbahn nach Hause.
Miriam lacht. Sie sieht mich an, als wolle sie sagen: »Hast du je in deinem Leben eine so lächerliche Geschichte gehört? Kannst du es fassen, dass sie das geschluckt haben?« Verwirrt sehe auch ich sie an, versuche, meinen Gesichtsausdruck zu beherrschen. Was ist so unwahrscheinlich daran, dass jemand ein paar praktische Tipps anbietet, wie man über die Mauer macht? Ich habe das Gefühl, an dieser Stelle muss mir etwas ganz Grundsätzliches erklärt werden. Mein Kopf ist schief geneigt wie bei einem Hund, der fernsieht: Er weiß zwar nicht genau, was da vor sich geht, aber es ist bestimmt sehr interessant.
Freundlich erklärt Miriam, es sei in der DDR undenkbar gewesen, dass jemand einen Fremden, einen Wildfremden, fragte, ob er in der Nähe der Grenze wohnte. Ebenso undenkbar sei es gewesen, dass ein Fremder erst fragte, ob du daran dachtest, rüberzumachen. Und noch undenkbarer sei gewesen, dass man dir gleich an Ort und Stelle praktische Tipps zur Flucht anbot. Die Beziehungen der Menschen waren geprägt von der Tatsache, dass jeder auch einer von ihnen sein konnte. Jeder verdächtigte jeden, und das daraus erwachsende Misstrauen war die Grundlage sozialer Existenz. Der Mann, den Miriam nach der Grenze befragt, dem sie anvertraut hatte, sie wolle in den Westen, hätte sie denunzieren können, und sie ihrerseits hätte ihn denunzieren können, weil er ihr angeboten hatte, ihr zu zeigen, wie. Fluchtorganisationen gab es, aber man brauchte einen Mittelsmann, der mit ihnen in Verbindung trat. Nie im Leben wäre das alles so vergnügt bei Brötchen mit Gänseschmalz und Bier abgelaufen. Fleischer wollte einen Namen. »Das kann ich Ihnen nicht sagen«, erklärte sie ihm.
»Sie haben sich nicht mit Namen angeredet.«
»Wie sah denn der aus, der den Ton angab?«
»Er war ungefähr so groß.« Sie hebt die Hand hoch über den Kopf. »Und er sah sehr stark aus, gut gebaut, wissen Sie.« Sie lächelt, genießt ihre Phantasie von einem Mann. »Ich erzählte ihm, er sei völlig kahl gewesen. Oh, und er habe bemerkenswert kleine Füße gehabt.« Ich muss jetzt laut lachen, fi nde diese Einzelheit aus Kinderaugen zu witzig. »Ja, da haben Sie’s. Ein spiegelblanker Schädel mit bemerkenswert kleinen Füßen! Und dann, erzählte ich Fischer, hatte ich den Eindruck, dass er im Auerbachs ein Stammkunde war.« Sie lacht auch und zieht an ihrer Zigarette, während sie sich in den Sessel kuschelt. Miriam hatte alles durchdacht – wie viele kleinfüßige Glatzköpfe man auch vor ihr aufreihte, sie konnte keinen von ihnen identifizieren. Zwei Wochen vergingen bis zu ihrem nächsten Verhör. Sie wurde von Fleischer vorgeladen, nicht um zehn Uhr abends, sondern am Nachmittag. Er hatte beide Hände an den Tisch gekrallt, als könne er sich nur mit Not zurückhalten, diesen von sich zu schleudern.
»Meine Leute«, brüllte er, »haben sich deinetwegen den Hintern abgefroren. Wie kannst du es wagen, solche Geschichten zu erzählen?! Was ist bloß in dich gefahren, solche Dinge zu erzählen?«
»Ich wollte schlafen.«
Fleischer sagte, ihr Betragen liefe auf Amtstäuschung hinaus, eine strafbare Handlung. Ihr blühe jetzt eine noch längere Haftstrafe. Und die würde sie teuer zu stehen kommen, wenn man bedenke, dass sie einen Krieg hätte auslösen können. Miriam dachte, er sei verrückt geworden. Wäre sie über die letzte Brüstung gesprungen, fuhr er fort, hätten die Ostdeutschen von hinten auf sie geschossen und die Westdeutschen hätten zurückgeschossen. Sie hätte für den Ausbruch eines Bürgerkriegs verantwortlich sein können. Dann wurde er weicher. »Aber deinetwegen werde ich diesen kleinen Vorfall aus deiner Akte streichen. Soll bloß keiner sagen, wir meinten es nicht gut mit dir.«
Später wurde Miriam klar, dass er sich selbst geschützt hatte. Hätte man sie vor Gericht gefragt, warum sie eine solche Geschichte erfunden habe, hätte sie einfach geantwortet: »Weil man mich nicht schlafen ließ.« Offenbar galt sogar in der DDR Schlafentzug als Folter, und Folter war, zumindest im Hinblick auf Minderjährige, nicht offizielle Politik. Wie die Dinge lagen, verurteilte sie der Richter zu eineinhalb Jahren in Stauberg, dem Frauengefängnis in Hoheneck. Und am Ende des dreitägigen Prozesses sagte er zu ihr: »Jugendliche Angeklagte Nummer 725, ist Ihnen klar, dass Ihre Taten den Dritten Weltkrieg hätten auslösen können?«
Sie waren alle verrückt, und sie sperrten sie ein.