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 Scherwitz von Anita Kugler

 

LESEPROBE

 

Anita Kugler: Scherwitz, Teil 1

Teil 1 Absturz
(Seiten 15 bis 21)

Vorwurf: Kriegsverbrechen

Am 26. April 1948, einem schönen Frühlingstag, wird der Regionalleiter für die Betreuung der Opfer des Nationalsozialismus, Dr. Eleke Scherwitz, in München als mutmaßlicher Kriegsverbrecher verhaftet. Seine Festnahme erfolgt um 18.20 Uhr im Büro seines Vorgesetzten, des Staatskommissars für rassisch, religiös und politisch Verfolgte in Bayern, Dr. Philipp Auerbach.
     Der Coup in der Münchner Holbeinstraße 11 ist gut vorbereitet. Der Staatskommissar hat die fristlose Kündigung schon getippt, die Polizei den Haftbefehl schon ausgestellt. Von diesem 26. April 1948 an und bis zum 22. Juni 1954 wird Eleke Scherwitz erst in Untersuchungshaft und später im Gefängnis sitzen. Aus dem gesunden Mann wird in sechs Jahren Haft ein kranker werden. Er wird durch alle Tiefen gehen, weinen, kämpfen, zusammenbrechen, sich wieder aufrappeln, weiterkämpfen und schließlich resignieren. Nur lügen wird er nach wie vor, Ausflüchte suchen noch und noch, und manchmal auch die Wahrheit sagen; die Frage ist nur wann, welche Wahrheit, und warum nicht früher und warum nicht die ganze. An diesem Frühlingstag in Auerbachs Büro endet Scherwitz’ Versuch, ein falsches Leben im richtigen zu führen. Oder ein richtiges Leben im falschen.
     Die Vorwürfe sind spektakulär, Scherwitz’ Sturz ist tief. Noch am Vormittag zählte er zu den wichtigsten Männern in Auerbachs "Staatskommissariat". Er war einer der fünf Regionalleiter für die Betreuung der Opfer des Nationalsozialismus, zuständig für den Bereich Schwaben, das heißt für die gesamte Region zwischen Neu-Ulm und Augsburg. Ihm unterstand die Dependance des "Bayerischen Hilfswerks für die von den Nürnberger Gesetzen Betroffenen" in Augsburg, er betreute die etwa dreißig "Hilfskomitees für die von den Nürnberger Gesetzen Betroffenen" in seinem Bezirk. Er besaß einen vom Bayerischen Innenministerium ausgestellten unbefristeten Dienstvertrag, Besoldungsgruppe II, 545 Reichsmark Grundgehalt plus 72 Mark Wohngeld, mit Aussicht auf Beförderung. Die eingetragene Berufsbezeichnung "Verfolgtenbetreuer"(1). Jetzt beschuldigt man ihn, selbst ein Verfolger gewesen zu sein, als SS-Untersturmführer im okkupierten Baltikum. Statt, wie behauptet, KZ-Häftling in Lettland sei er KZKommandant in Riga gewesen. Statt dem Tod ins Auge geblickt zu haben, habe er selbst getötet. Dr. Eleke Scherwitz habe sein Amt mit falschen Angaben erschlichen, schreibt sein Vorgesetzter Philipp Auerbach am Abend des 26. April dem Innenministerium. Aber wie hätte man dies auch ahnen können, fügt er hinzu, sowohl in seinem KZ-Ausweis als auch in dem Fragebogen zur Anstellung stehe, daß er "Volljude" sei.(2)
     Konnte Scherwitz ahnen, was auf ihn zukam? Offenbar nicht. Für den selbstbewußten Mann war seit Kriegsende alles bestens gelaufen. Seine Arbeit wurde geschätzt, niemand konnte ihm vorwerfen, nicht alles in seiner Macht Stehende für die Opfer des Nationalsozialismus zu tun. Sein Büro in Augsburg, in der Halderstraße 8, direkt neben der Synagoge, funktionierte reibungslos. Wer eine jüdische Herkunft nachweisen konnte, im Dritten Reich verfolgt worden war und nun bedürftig, konnte dort Soforthilfe aus einem Sonderfonds beantragen. Ein richtiges Entschädigungsgesetz war noch nicht verabschiedet, aber Scherwitz sah andere Möglichkeiten, um Härten zu mildern: Extrazuteilungen bei den Lebensmittelkarten, Bezugsscheine für Hemd und Hose, Medikamente, Einquartierungsscheine für eine Wohnung, vielleicht auch die Vermittlung einer Arbeitsstelle, wenigstens Freifahrscheine für die Straßenbahn. Auch in der Rechtsberatung versuchte er sich, obwohl nicht einmal studierte Juristen durch den Paragraphendschungel stiegen. Wer bekommt welche Entschädigung, wenn das Gesetz endlich einmal unter Dach und Fach ist? Welche Nachweise für die Verfolgung von welchen Ämtern und Dienststellen sind wo und bis wann vorzulegen? Wie berechnet man den Verlust einer Arbeitsstelle, die Zwangsemigration, die Jahre der Illegalität in einem Versteck, das verlorene Haus und die Möbel, die gesundheitlichen Schäden durch Ghetto und KZ? Und wie berechnet man gestohlene Jahre und das Wissen, als einziger einer Familie übriggeblieben zu sein?
     Die "Wiedergutmachungs"-Bürokratie war ein Sieb mit großen Löchern. Es brauchte viel Phantasie und Improvisationstalent, um damit umzugehen. Scherwitz hat viel Phantasie, und improvisieren ist sein Spezialtalent. Wer zu ihm in die Halderstraße 8 kam, wurde nicht hängengelassen. Auch nicht, wenn es Probleme mit der deutschen Polizei gab, die schon wieder einmal jüdische Schwarzmarkthändler aus München in der Nähe des alten Güterbahnhofs erwischt hatte. Dann wurde Scherwitz gerufen, obwohl er für die Staatenlosen, die in den Lagern für sogenannte Displaced Persons auf eine Weiterfahrt nach Palästina oder eine Ausreisegenehmigung nach Amerika warteten, offiziell nicht zuständig war. Erst recht nicht, wenn sie außerhalb seines Bezirks, in Oberbayern oder in der Oberpfalz, ihren provisorischen Wohnsitz hatten. Aber Scherwitz besaß einen Vorteil, den viele Verfolgtenbetreuer nicht hatten, auch nicht der Staatskommissar Philipp Auerbach: Er brauchte keinen Dolmetscher, um sich mit polnischen oder litauischen Juden zu unterhalten. Er sprach neben Russisch etwas Polnisch, auch Jiddisch. Er war mit Salomea L.(3), einer Holocaust-Überlebenden aus Litauen, verlobt und besaß Freunde in verschiedenen Lagern für Displaced Persons.
     Einer dieser Freunde heißt Josche Wysokotworsky, wurde in Kowno in Litauen geboren und ist zum Zeitpunkt von Scherwitz’ Verhaftung 25 Jahre alt. Er lebt in einem der größten jüdischen Flüchtlingslager in Bayern, in Föhrenwalde bei Wolfratshausen. Mit ihm und seiner Verlobten Salomea L. ist Scherwitz vor ein paar Tagen in der Israelitischen Kultusgemeinde in München gewesen, um wie so oft irgendwelche Papiere nachzureichen und Formalitäten zu erledigen.
     Als die drei aus seinem Auto, einem DKW-Dienstwagen, klettern, treffen sie einen Bekannten. Er heißt Abraham Schapiro, ist 24 Jahre alt, Musiker und stammt aus Riga. Man kennt sich von früher. Von damals. Es ist diese Begegnung, die Scherwitz eine Schrecksekunde beschert hat. Denn Schapiro erzählt von einem gewissen Max Kaufmann, der ein Buch geschrieben habe, in dem Scherwitz vorkomme. Die Nachricht scheint Scherwitz beunruhigt zu haben, er überlegt sich eine Präventionsmaßnahme. Noch am selben Abend setzt er sich zu Hause in seiner Villa in Wertingen hin und entwirft einen Brief an seinen Vorgesetzten Auerbach. Einen Brief für alle Fälle. Einen, der den Menschen Scherwitz erklären soll. In dem nicht zuviel, schon überhaupt nichts Genaues, aber genügend Gutes steht, um mögliche Verfolger oder Ankläger zum Schweigen zu bringen. Keinen Brief, der morgen in den Kasten geworfen wird, sondern einen, den man zufällig bei sich trägt, wenn es ernst werden sollte. Als Absender nennt er Josche Wysokotworsky in Wolfratshausen, der ihm versprochen hat, den Brief zu unterschreiben. Nur kann er sich in den folgenden Tagen um die Unterschrift seines Freundes nicht mehr kümmern. Die Zeit ist zu knapp. Denn schon am folgenden Freitag erreicht ihn ein Anruf aus München: dringende Besprechung, unaufschiebbar, der Herr Doktor Scherwitz solle am Montag in München erscheinen. Pünktlich um 14.30 Uhr, läßt Rita Schlieven ausrichten, die Sekretärin Auerbachs.
     Vielleicht hat Scherwitz an diesem Sabbat geahnt, daß die Sitzung unangenehm werden könnte. Der Besprechungstermin ist außergewöhnlich kurzfristig anberaumt worden. Gibt es womöglich einen Zusammenhang zu dem Buch, in dem er eine Rolle spielen sollte? Aber hat der Verfolgtenbetreuer auch gespürt, wie ernst die Lage ist? Daß die Zeit der Ausflüchte, der windigen Erklärungen, der Dokumentenfälschungen, der falschen eidesstattlichen Versicherungen, die Zeit des Lügens und Tricksens vorbei sein wird? Daß er ab Montag sechs Jahre im Gefängnis sitzen wird? Auf Diät, weil man in der Gefängnisküche nicht koscher kochen will?
     Mit Sicherheit nicht. Denn Scherwitz nutzt die drei Tage vor seiner spektakulären Verhaftung keineswegs, um sich nach Südtirol, in die französische Besatzungszone oder auch nur unter einem anderen Namen in die etwas entferntere Provinz abzusetzen. Nein, ans Untertauchen, ans Verstecken, an eine Flucht, an all das, woran Schuldige zuerst denken, wenn der Boden heiß wird, denkt er nicht.
     Allenfalls, daß er am Montag - aber auch nur eventuell - Erklärungen wird abgeben müssen, daß es Widersprüche auszuräumen gilt, Mißverständnisse zu entwirren, dunkle Punkte zu erhellen. Vielleicht wird es ein wenig unangenehmer als sonst, weil er es nicht mit leicht zu beeindruckenden Mitarbeitern der amerikanischen Besatzungsmacht zu tun hat, sondern mit dem cholerischen, unberechenbaren, aber hochintelligenten und einflußreichen Staatskommissar Auerbach. Ein Glück wenigstens, daß er sich mit ihm bestens verträgt, beinahe befreundet ist, daß sie am gleichen Strang ziehen, auf jeden Fall politisch einer Ansicht sind. Diesen Eindruck hat er jedenfalls bisher gewonnen, und diesen Eindruck haben auch alle, die beide kennen.
     Vielleicht hat Scherwitz so gedacht. So wie er immer denkt, wenn Schwierigkeiten ins Haus stehen: ruhig bleiben, nur nicht die Nerven verlieren. Selbstgewißheit verbreiten.
     Vielleicht hat er sich auch zurechtgelegt, daß wichtige dienstliche Angelegenheiten besprochen werden müssen. Etwa die neueste Finte des bayerischen Finanzministeriums, um das vom Länderrat schon ausgearbeitete Entschädigungsgesetz weiter auf die lange Bank zu schieben. Oder die neue Stiftung, die Auerbach unter eigener Leitung und Kontrolle gründen möchte, das Finanzministerium aber unter der seinen. Bei der gesamten "Wiedergutmachung" liegt so viel im argen, daß es ständig Gründe für Besprechungen gibt. Es ist gut möglich, daß Scherwitz sich so beschwichtigt hat, denn nach dem Anruf aus München verbringt er ein ganz normales Wochenende, so wie in den Jahren zuvor. Erkennbare Anstrengungen, aus seiner Privatwohnung in Wertingen etwas verschwinden zu lassen, etwas, was die Polizei besser nicht finden sollte, unternimmt er keine. Dies wird er später bereuen.
     Am Montag, dem Tag seiner Verhaftung, fährt er morgens zusammen mit seiner Braut Salomea L. nach München. Nach der Sitzung wolle er sie in Wolfratshausen abholen, verspricht er. Er hat nur eine Aktentasche dabei. In ihr liegt der Brief für alle Fälle, die Präventionsmaßnahme, der Brief ohne Unterschrift von Josche Wysokotworsky. Pünktlich um 14.30 Uhr betritt er Auerbachs Diensträume in der Holbeinstraße 11.
     Dort ist es ausnahmsweise ruhig. Ungewöhnlich ruhig. Kein einziger Bittsteller sitzt in den Gängen auf den langen Wartebänken, kein babylonisches Sprachgewirr ist zu hören, und niemand hat es eilig. Das Büro sei heute für den Publikumsverkehr geschlossen, informiert Auerbachs persönlicher Referent Ludwig Joelsen den Ankommenden, aber die Sitzung werde gleich beginnen.
     Als der Verfolgtenbetreuer Scherwitz endlich das vollgekramte Geschäftszimmer seines Vorgesetzten betritt, wird er den Schreck seines Lebens bekommen haben. Er blickt in die Gesichter von fünf Zeugen seines früheren Lebens. Da weiß er, daß es nicht um die Stiftung oder um die Entschädigungsgesetze gehen wird, sondern ausschließlich um seine Vergangenheit.
     Der Sitzungsverlauf ist gut dokumentiert. Auerbach und sein Referent Joelsen haben die wichtigsten Punkte mitgeschrieben. Die Protokolle finden sich in den Gerichtsakten. Anwesend sind neben den fünf Zeugen auch der Leiter der juristischen Abteilung, Dr. Berthold Kornich, und der Außenbeamte Wolf Dietrich. Die vier Beamten Auerbach, Joelsen, Kornich und Dietrich gehören zu den wichtigsten Entscheidungsträgern im Staatskommissariat.
     Wolf Dietrich stammt aus dem kommunistischen Widerstand und ist der einzige Anwesende nichtjüdischer Herkunft. Mit ihm hatte Scherwitz in den vergangenen Wochen viel zu tun, man kennt sich gut und duzt sich. Berthold Kornich, tschechischer Herkunft, ist mit 61 Jahren der älteste in der Runde. Nur weil er mit einer Frau christlichen Glaubens verheiratet war, konnte er dem KZ entkommen. Ludwig Joelsen ist von Auerbach aus seiner früheren Stellung in Düsseldorf mitgebracht worden und ihm loyal ergeben. Und Auerbach ist Auerbach. 42 Jahre alt, massiv, arbeitswütig und besessen von der Mission Wiedergutmachung, mit einer nie ganz geklärten Vergangenheit, aber von außergewöhnlichem Selbstbewußtsein. Er hat mit Scherwitz gut zusammengearbeitet und dessen Kreativität im Umgang mit Gesetzen und Gesetzeslücken zu schätzen gewußt. Doch jetzt steht der Ruf der Wiedergutmachungsbehörde auf dem Spiel, die Arbeit von Monaten und Jahren.
     Wahrscheinlich ist Scherwitz selbst in dieser hochnotpeinlichen Situation das Selbstbewußtsein nicht abhanden gekommen, jedenfalls fürs erste nicht. Alle Zeugnisse, die es von ihm oder über ihn gibt, vermitteln den Eindruck, er sei immer so überzeugend dahergekommen, daß bei weniger selbstsicheren Menschen ein Mißtrauen erst gar nicht aufkommen konnte. Und daß Menschen, die es trotzdem wagten, ihm nicht zu trauen, ihren Mut bald bereuten.
     An diesem 26. April 1948 aber dreht sich der Wind. Scherwitz sieht sich mit Zeugen seines früheren Lebens konfrontiert, die seine gesamte neue Existenz zerstören können, die er nach dem Krieg aufgebaut hat. Es sind fünf Juden aus Litauen und Lettland, die verschiedene Konzentrationslager überlebt haben und nun in Lagern für "Displaced Persons" (DP) in München leben: der Automechaniker Leo B., der Filmregisseur Eugen B., der Schneider Moses Ratz und der Kulturreferent Chaim Smitzkowicz. Der fünfte Zeuge ist ihm persönlich nicht bekannt, er stellt sich vor als Max Kaufmann, Leiter des "Kriegsverbrecherreferates des lettischjüdischen Komitees".
     Scherwitz muß es durchfahren haben wie ein Blitz: Von diesem Max Kaufmann hat Schapiro vor einer knappen Woche in München erzählt. Kaufmann habe ein Buch über die Shoa in Lettland geschrieben, mit Spenden von Lagerkameraden im Selbstverlag veröffentlicht und darin auch Scherwitz erwähnt.(4)
     Schapiro hat ihn damals zu beruhigen versucht: Er brauche sich keine Sorgen zu machen, der frühere Lagerleiter Scherwitz komme in dem Buch gut weg. Außerdem werde der Buchautor schon sehr bald, Anfang Mai, nach Amerika ausreisen, seine Schiffspassage habe er schon in der Hand. Er, Schapiro, werde ihm das Buch schicken, wenn er ihm seine Adresse gebe. Und Scherwitz hat ihm die Adresse gegeben, weil er sich nicht vorstellen konnte, daß ihn dieser Abraham Schapiro hereinreißen werde. Er konnte ihm doch vertrauen. Er hat im Rigaer Lager seine Hand über ihn gehalten, ihn in der Küche beschäftigt, obwohl da schon so viele andere Kartoffeln schälten. "Pimpelchen", so hatten Schapiro damals alle genannt, weil er so klein und so jung war, nicht einmal 17 Jahre alt. Auch Scherwitz kannte Schapiros Kindernamen, er kannte ja auch seine Tante und seinen Onkel gut.
     Abraham Schapiro wird dies alles 14 Tage nach Scherwitz’ Verhaftung dem Kriminalwachtmeister berichten, der den Fall Scherwitz untersucht. 1949 wird er es in der Hauptverhandlung gegen Scherwitz noch einmal berichten, und 50 Jahre später mir auf ein Tonband erzählen(5). Schapiro ist heute noch überzeugt, daß er es gewesen ist, der Scherwitz’ Verhaftung ausgelöst hat, und wahrscheinlich hat er recht. Denn er sei noch am selben Abend zu dem Buchautor Max Kaufmann ins DP-Lager Neufreimann bei München gelaufen und habe ihm erzählt, wen er getroffen hatte. Scherwitz habe behauptet, in Wahrheit ein Jude zu sein und jetzt als Verfolgtenbetreuer in Augsburg zu arbeiten, er habe sogar die Adresse. Und Max Kaufmann tat genau das, was Scherwitz sich nach der zufälligen Begegnung als schlimmste Möglichkeit vorgestellt haben mag. Er zeigte Scherwitz bei Philipp Auerbach an. Und jetzt befindet sich Max Kaufmann, der Buchautor, in Auerbachs Büro und nicht auf einem Schiff nach New York.
 

 

 

Anita Kugler: Scherwitz, Teil 2

 

Auerbach eröffnet die Sitzung. In den Händen hält er ein Schreiben des "Public Relations Sub-Committee of the Association of Baltic Jews in Great Britain", das ihm Max Kaufmann zuvor überreicht hat. Mit Datum vom 15. April 1948 informiert das Komitee, es suche Beweismaterial für einen Prozeß gegen "Kriegsverbrecher", "Massenmörder" und "Kriminelle", der demnächst in der britischen Zone eingeleitet werden solle. Das Komitee bitte um Hilfe bei der Zeugensuche, denn "wir sind es den vielen unschuldigen Menschen, die ermordet sind, schuldig, nichts unversucht zu lassen, um diese Verbrecher ihrer gerechten Strafe zuzuführen".(6)
     Dem Schreiben sind zwei Dokumente beigelegt, die Auerbach den Schlaf geraubt haben müssen. Das erste ist die Abschrift einer Suchanfrage, die die War Crimes Group (North West Europe) - dies ist die juristische Abteilung der britischen Armee in Bad Oeynhausen bei Minden - schon vor Monaten an die "Vereinigung der baltischen Juden in London" geschickt hat. In dem Schreiben vom 26. November 1947 heißt es, man habe inzwischen sechs in Riga tätig gewesene Kriegsverbrecher festgenommen. Drei weitere suche man dringend, darunter Fritz Scherwitz.(7)
     Das zweite Dokument ist ein Schreiben der Association of Baltic Jews in London an den britischen Ermittler der War Crimes Group, Captain Lock. Dieser Brief ist in den Archiven nicht mehr auffindbar. Er befindet sich, obwohl er in Auerbachs Sitzungsprotokoll erwähnt wird, auch nicht in den Gerichtsunterlagen. Irgend jemand muß dieses peinliche Dokument aus den Akten entfernt haben, denn die Gerichtsunterlagen sind fortlaufend numeriert, und genau diese Nummer fehlt. Sein Inhalt aber läßt sich durch verschiedene Brieffragmente, die in der "Wiener Library" der Universität Tel Aviv archiviert sind, erschließen. Danach ist der britische Ermittler schon Anfang des Jahres 1948 darüber informiert worden, daß sich Fritz Scherwitz wahrscheinlich in der amerikanischen Zone aufhalte, man habe entsprechende Hinweise von Lagerkameraden aus München erhalten. Deshalb bitte man die britische Militärregierung, ein "Auslieferungsersuchen" an die Amerikaner zu stellen, damit bei dem bevorstehenden britischen Prozeß gegen die bereits festgenommenen lettischen Hauptkriegsverbrecher in Herford auch gegen ihn verhandelt werden könne. Inzwischen habe das Londoner Komitee auch Zeugen gefunden, die bereit seien, gegen ihn auszusagen. Die konkreten Vorwürfe der Zeugen lauteten: Fritz Scherwitz sei "SS-Untersturmführer" gewesen, habe in Riga das Konzentrationslager Lenta geleitet und dort zwei Menschen ermordet.(8)
     Die schwarz auf weiß dokumentierten Beschuldigungen müssen eine Katastrophe für Auerbach gewesen sein. Der von ihm protegierte Verfolgtenbetreuer, der Regionalleiter für Schwaben, der Glaubensbruder Eleke Scherwitz - ein Kriegsverbrecher. Ein SS-Untersturmführer. Ein Judenmörder. Ein Mann, den die Briten schon seit Monaten suchen, während er zur selben Zeit Probleme der "Wiedergutmachung" mit ihm erörtert. Wenn die Presse davon erfährt, gibt es einen Skandal. Auerbach mag schon die Schlagzeilen geahnt haben: "Jüdischer SS-Offizier", "Wiedergutmachungsbeamter als KZ-Kommandant entlarvt", "Wolf im Schafspelz", "Hochstapler im Staatskommissariat". Alles Schlagzeilen, die tatsächlich am 4. Mai 1948 so in den Zeitungen stehen werden, acht Tage nach Scherwitz' Verhaftung. So lange hat Auerbach gezögert, hat sich erst mit der amerikanischen Militärbehörde und dem Staatsministerium für Inneres beraten, bevor er eine karge 12-Zeilen-Meldung an die Nachrichtenagentur Reuters herausgibt. Und dies auch nur, weil Max Kaufmann droht, seinerseits an die Presse zu gehen.
     Dem Protokoll zum 26. April 1948 ist nicht zu entnehmen, ob die Sitzung in den Geschäftsräumen des Staatskommissariats dramatisch oder sachlich unterkühlt verlaufen ist. Auerbach ist berüchtigt für seine Wutanfälle, aber es ist zu vermuten, daß er an diesem Tag seine Emotionen in den Eisschrank verbannt hat. "Wie erklären Sie sich die Anklage der englischen Behörde und das Auslieferungsbegehren?" fragt er Scherwitz. "Es ist mir völlig unerklärlich", antwortet dieser. "Sind Sie Jude?" lautet Auerbachs nächste Frage. "Ich bin Volljude, ich habe eine Schwester hier wohnen und habe Tausende von Menschen, die das bezeugen können", erwidert Scherwitz.(9) Und dann will er ausholen, will weiterreden, will sagen, daß er unschuldig ist, alles ein großes Mißverständnis, daß die Wahrheit immer ganz anders ist, als man denkt, und er holt den Brief aus der Aktentasche, den Brief ohne Unterschrift über den Menschen Scherwitz, will ihn Auerbach zum Lesen geben. Aber Auerbach will ihn nicht lesen, sondern legt ihn zu den Dokumenten, die er später der Polizei übergeben wird.
     Jetzt haben die baltischen Juden das Wort, allen voran Max Kaufmann. "Ich erkenne Scherwitz wieder als den Mann, der zwischen dem 15. und 25. Oktober 1941 im Großen Ghetto von Riga als Vertreter des SD [denjenigen] Wohnungen besorgte, die für die Gestapo arbeiteten", berichtet Kaufmann. "Das Große Ghetto existierte nur 35 Tage, am 30. November wurde es liquidiert. Bei dieser Aktion sind 27.500 jüdische Frauen, Männer und Kinder umgebracht worden. Ich habe Scherwitz bei dieser Gelegenheit in Begleitung des Ghettokommandanten Krause wiederholt gesehen. Ich sah ihn in Uniform mit dem Totenkopf, soweit ich mich erinnern kann."
     Nach Kaufmann kommen die vier anderen Augenzeugen zu Wort. Sie alle berichten, daß der Mann, den sie vor sich sehen, 1941/ 1942 in der Uniform eines Polizeiwachtmeisters für die Gestapo ein geschlossenes Arbeitskommando in der Innenstadt von Riga, eine sogenannte Kasernierung, geleitet und später die Fabrik "Lenta" kommandiert habe, ein KZ-Außenlager außerhalb der Stadt. Während dieser Zeit, etwa 1943, sei er zum SS-Untersturmführer befördert worden.
     Der Schneider Moses Ratz eröffnet die Runde. Er kennt Scherwitz am besten, er hat mehrere Monate unter seiner Ägide gearbeitet. Mit der Kompetenz eines direkt Betroffenen gibt er an, daß Scherwitz bestechlich gewesen sei und sich persönlich bereichert habe: "Als ich von dem Oberjuden [dem jüdischen Werkstattleiter] Rudow forderte, daß mein Sohn aus dem Ghetto zu mir nach Lenta kommen soll, antwortete er, daß Scherwitz Bezahlung fordere. Ich gab dann fünfzig Rubel in Gold, die der Oberjude für Scherwitz wollte. Nach drei Tagen kam mein Sohn zu mir. Es ist sicher, daß Scherwitz das Gold bekommen hat."
     Der Filmregisseur Eugen B. und der Automechaniker Leo B. bezichtigen Scherwitz des Mordes. Sie können ihre Vorwürfe freilich nicht konkretisieren, weil beide zum Zeitpunkt der behaupteten Morde nicht mehr am angegebenen Tatort, der Fabrik Lenta, gearbeitet haben. Sie sind beide Zeugen dritter Hand, Zeugen vom Hörensagen, und von wem sie es gehört haben, geben sie nicht an. Auch die Identität und die genauen Namen der Toten kennen sie nicht."
     Mir ist von Erzählungen der in Lenta Arbeitenden bekannt", führt Eugen B. aus, "daß Scherwitz zwei jüdische Handwerker erschossen habe, darunter Harry Schenker, den ich kenne, und einen anderen, den ich nicht kenne. Diese Mitteilung ist mir von lettischen Juden gemacht worden, die ich nicht kenne." Und Leo B. sekundiert: "Mir ist von Leuten, die bis zum Schluß dabei waren, erzählt worden, daß Scherwitz während der Auflösung des Lagers, bei einem Fluchtversuch, einen [Mann namens] Scheinker und einen Chait [Heit] erschossen habe."
     Die vageste Beschuldigung kommt von Chaim Smitzkowicz. Er ist Vizepräsident der "Föderation der befreiten lettischen Juden in der US-Zone Deutschlands". Smitzkowicz sagt aus, daß er nicht zu Scherwitz' Kasernierung gehört habe, sondern zu einem Arbeitskommando im Haus nebenan. Er habe nur öfters über den Hof in die "Gestapo-Judenkasernierung" am Washington Platz gehen müssen, um von dort Essen zu holen. Aber: "Ich konnte mein Ziel öfters nicht erreichen, da die Schreckparole war, 1geh nicht, Scherwitz ist dai."
     Keine dieser Beschuldigungen ist, in der vagen Form, in der die Zeugen sie vortragen, substantiell genug, um die britischen Vorwürfe, Scherwitz sei ein Kriegsverbrecher, KZ-Kommandant und Mörder, zu erhärten. Scherwitz wehrt sich, fühlt sich verleumdet, will die Vorwürfe entkräften. Er behauptet, er sei 1941 noch nicht in Riga gewesen, könne daher auch nicht vom Hauptbelastungszeugen Kaufmann kurz vor der Liquidierung des Ghettos in Totenkopfuniform gesehen worden sein. Aber dann räumt er ein: "Es sind vier Leute erschossen worden. Der Lagergärtner Heit, Scheinker und zwei andere; sie kamen zu mir und fragten, ob sie türmen können. Daraufhin habe ich gesagt - Zeugen sind vorhanden: 'Geht herauf, nehmt euch Uniformen und verschwindet.' Nachher kam Obersturmführer Nickel und erzählte, daß vier getürmt seien und ich solle sie verfolgen lassen. Inzwischen jedoch telefonierte ich, um ihnen Zeit zu geben; sie wurden jedoch auf der Straße von Letten erschossen." Damit hat Scherwitz ohne Not eine Korrektur eingeführt, die ihn mit einem Schlag schwer belastet. Er konkretisiert Eugen B.s und Leo B.s Zeugnis vom Hörensagen. Indem er die Ereignisse bestätigt und aus seiner Sicht geraderückt, gibt er ihren Aussagen ein Gewicht, das sie ohne seine Intervention nicht bekommen hätten. Fortan gilt es nicht mehr das Schicksal von zwei, sondern von vier Toten aufzuklären. Und Scherwitz hat sich selbst in die Bredouille gebracht, weil er zugegeben hat, im Lager Lenta ein Entscheidungsträger gewesen zu sein.
     Jetzt ist die Sitzung schnell zu Ende. Scherwitz' Erklärungen reichen aus, um den Kriminalwachtmeister aus dem Wartezimmer zu rufen. Der drückt ihm ein Formular in die Hand. Darauf sind die Vorwürfe gegen ihn vermerkt: "Verdacht auf Kriegsverbrechen" und "SS-Uniformträger". Er habe sich vor einem Gerichtshof der Militärregierung zu verantworten, dürfe sich aber einen Verteidiger nehmen.
     Es ist genau 18.20 Uhr, als der Regionalleiter für die Opfer des Nationalsozialismus in Schwaben, Dr. Eleke Scherwitz, verhaftet wird. Den vorsorglichen Brief, den er seinem Vorgesetzten schon überreicht hat, schaut Auerbach nicht einmal flüchtig an. Er läßt den Brief am nächsten Tag ins Polizeipräsidium bringen, zusammen mit der fristlosen Kündigung, der Kriegsverbrecherliste der britischen Militärregierung, dem Sitzungsprotokoll und der "Bitte, über den Verlauf der Verhandlungen unterrichtet zu werden".
     Der Brief für alle Fälle, der mit Herzblut verfaßte Brief, der angeblich von Josche Wysokotworsky stammt, in Wirklichkeit aber von Scherwitz in die Maschine diktiert worden ist, lautet in Auszügen folgendermaßen:

"Sehr geehrter Herr Doktor Auerbach.
     Nachdem ich meinen besten Freund und Lebensretter durch Zufall traf, den ich seit der Befreiung suchte, war meine erste Frage, ob er Sie von seinem Leben im Lager unterrichtet hatte, damit Sie Bescheid wissen, wer Dr. Scherwitz ist und was er in der schwersten Not für Unmenschliches geleistet hat.
     Da ich wiederum feststellen mußte, daß Scherwitz durch seine Bescheidenheit sich nicht in den Vordergrund drängt, um Lorbeeren zu ernten, und zu keinem Menschen von seiner Person und seinen ungeheuren Leistungen, die er vollbracht hat, spricht, möchte ich als Überlebender Ihnen, sehr geehrter Herr Staatskommissar, berichten, um was für einen edlen Menschen aus unserem Volke es sich handelt, der auch als einer der großen jüdischen Kämpfer zu bezeichnen ist.
     Seit dem Jahre 1942 führte ich speziell Tagebuch über den Kampf und Scherwitz' Leistungen im KZ Riga. Ich glaube behaupten zu können, an Hand von Beweisen, daß Scherwitz in der Geschichte der Konzentrationslager in den Vordergrund gestellt werden müßte. Um nur ein paar Beispiele zu geben, möchte ich folgendes sagen: So unglaublich es klingen mag, daß ein Jude Juden befreit hat, hat er nach meiner Schätzung 400 bis 600 jüdischen Menschen aller Nationen das Leben gerettet. Er hat jüdische Menschen arisieren lassen, Pässe verschafft und sie in Sicherheit gebracht. (. . .) Bei einer persönlichen Aussprache mit Ihnen könnte ich Ihnen viele solcher Beispiele geben. Scherwitz hat gekämpft, aber nicht für sich, sondern um seine Eltern und Geschwister unter allen Umständen zu befreien und darüber hinaus seine jüdischen Schwestern und Brüder. Ich weiß genau, daß Tausende von unseren jüdischen Menschen, soweit sie noch unter den Lebenden sind (. . .), für ihn durchs Feuer gehen würden, denn im Lager war das seinerzeit so, wenn es hieß, Scherwitz kommt, so hatten wir das Gefühl, daß ein Sonnenstrahl zu uns dringen würde. (. . .) Um eines möchte ich Sie noch bitten, Dr. Scherwitz von meinem Brief nicht in Kenntnis zu setzen, denn ich weiß, er wird darüber sehr ärgerlich sein, denn soweit ich und meine Kameraden ihn kennen, ist er nicht für eine Hervorhebung seiner Person."(10)


(....) Seite 31 ff

     Am Morgen nach der Verhaftung von Scherwitz erhält er die von Auerbach zusammengestellten Dokumente. Viel ist das nicht, und auch das Manuskript von Max Kaufmann, das er auf dem Schreibtisch liegen hat, liefert zu dieser Frage der jüdischen Herkunft nichts Erhellendes. Der Kriminalkommissar muß ganz von vorne anfangen. Wie heißt Scherwitz wirklich? Wo und wann ist er geboren? Wer sind seine Eltern? Alles Routinefragen, glaubt Hüffel zumindest anfangs, alles nur Fragen, die schnell nachzuprüfen sind, wenn der Beschuldigte eine Kennkarte vorlegen kann. Und die besitzt Scherwitz.
     Nachname Scherwitz, Vorname Eleke. Geboren am 21. August 1909 in Buscheruni in Litauen. Die Mutter heiße Sore, geborene Segel, und stamme aus Odessa, ergänzt Scherwitz bereitwillig. Der Vater heiße Jankel, sei in Litauen Fabrikant gewesen und 1867 in Suwalki geboren. Er, Scherwitz, sei Witwer, und Kinder habe keine. Er habe Werkzeugmaschinenbauer gelernt und habe promoviert. Er besitze die deutsche Nationalität und sei Jude wie seine Eltern.
     Die Angaben decken sich mit den Informationen in dem Personalausweis, der im April 1946 vom Meldeamt in Scherwitz' Wohnort Wertingen ausgestellt wurde. Die gleichen Angaben stehen auch in seinem Verfolgtenausweis, in den eidesstattlichen Erklärungen gegenüber der Militärregierung sowie in dem Einstellungsfragebogen des Staatskommissariats für politisch Verfolgte in Bayern aus dem Jahre 1947. Eine kleine Irritation gibt es, als Scherwitz seinen Führerschein von Ende 1945 vorlegt. Denn dort steht ein anderes Geburtsdatum, der 10. April 1908. Ein Tippfehler vielleicht? "Ich kann mir die Sache nicht erklären", sagt Scherwitz, und Hüffel insistiert nicht weiter. Er möchte lieber zur Sache kommen, will wissen, wie Dr. Eleke Scherwitz, jetzt 39 oder vielleicht auch 40 Jahre alt, trotz jüdischer Religionszugehörigkeit in die SS geraten und nach Riga gekommen ist.
     Und Scherwitz erzählt seine Geschichte, ganz anders, als er sie bisher erzählt hat. Bis zum Vorabend seiner Verhaftung galt er jedermann als ein Opfer des Faschismus, als einer, der im KZ in Riga um sein Leben hatte kämpfen müssen. Jetzt, unter dem Druck der Beschuldigungen, muß er den Seitenwechsel erklären. Diese Rolle hat er noch nicht geübt. In diese Rolle muß er erst hineinwachsen. Es ist das Recht jedes Beschuldigten, sich zu verteidigen, wie er will, er kann lügen, darf auslassen, er kann sich auch mit einem Anwalt beraten und ihn etwas erklären lassen. Scherwitz aber beantragt keinen Anwalt, er vertritt sich selbst. Er schildert die Wahrheit so, wie er sie sich in der unkomfortablen Nacht auf dem Polizeipräsidium zurechtgelegt hat. Sechs Tage später wird er seine Geschichte dramatisieren, plötzlich doch ein Kind haben, das ihm aber die Gestapo entzogen habe und das jetzt vermißt werde. Er wird erklären, daß die jüdische Ehefrau am Hochzeitstage gerade 16 Jahre alt gewesen sei. Und er fühle sich schuldig, wird er ergänzen, weil er sie nicht "beschützen" konnte.
     An diesem ersten Befragungstag, am 27. April 1948, darf Scherwitz zweimal sein Leben erzählen. Einmal am Vormittag und einmal am Nachmittag. Am Vormittag liefert Scherwitz das Gerüst und am Nachmittag baut er es aus. Seine zwei Aussagen protokolliert Hüffel jede für sich, und beide unterschreibt Scherwitz schwungvoll mit großen Buchstaben. Später wird seine Unterschrift zittriger werden und nur noch halb soviel Platz beanspruchen. Die beiden Aussagen widersprechen sich nicht, sondern ergänzen einander.

"Ich bin in Schaulen, Litauen, aufgewachsen und habe dort die Volksschule besucht. Ich blieb dort bis 1921. Ich kam dann nach Gerlesheim bei Hirschberg nach Deutschland. Anschließend besuchte ich das Gymnasium in Lauban. Von dort ging ich in die Lehre zu Siemens nach Berlin. Ich machte mein Abitur und meinen Ingenieur. Dies war ca. 1928/29. Hierauf kam ich zu Professor Fritz Werner in Marienfelde bei Berlin als Ingenieur. Dort bekam ich von ihm den Doktortitel verliehen. Bis 1933 hielt ich mich in Berlin auf. Nach der Machtübernahme begannen die Verfolgungen. Ich wechselte meinen Wohnsitz in Berlin öfters. Ich reiste kreuz und quer durch Deutschland, um den Verfolgungen zu entgehen. Ich arbeitete bei verschiedenen Firmen als Hilfsarbeiter. 1937 habe ich in Berlin-Lichtenrade meine jüdische Ehefrau Jenny Goldberg geheiratet. Sie war eine Schauspielerin aus Wien. 1938 kam ich von Frankfurt/ Oder nach Berlin zurück und wurde dort von der Gestapo verhaftet. Meine Papiere und Unterlagen über meine Vergangenheit wurden mir abgenommen. Ich wurde bis 1940 in dem Gestapogefängnis 'Herrenhaus' in Haft gehalten. Die Begründung war meine Tätigkeit bei der 'Sozialistischen Jugend' und meine jüdische Abstammung. Meine Ehefrau wurde während meiner Gestapohaft unbekannten Aufenthalts verschleppt. Ich habe später gehört, daß sie in Auschwitz umgekommen ist.
     Meine Eltern sind Juden gewesen, und ich wurde ebenfalls im jüdischen Glauben erzogen und bin auch beschnitten. Meine Stiefschwester Bella R., verheiratete F., wohnt im [DP-]Lager Feldafing und kann meine Abstammung bestätigen.
     Ab Juli 1940 kam ich in das Ghetto Litzmannstadt. Ich lernte dort einen Polizeihauptmann Jäger kennen, bei dem ich privat arbeitete. Dieser war den Juden sehr gut gesonnen. Meine Eltern waren mittlerweile in das Ghetto Schaulen eingeliefert worden. Ich erzählte dies Jäger und fragte ihn, ob es eine Möglichkeit gebe, mit meinen Eltern zusammenzukommen. Jäger erklärte wörtlich: Ich sehe nichts. Ich verschaffte mir mit Hilfe von Jäger eine Polizeiwachtmeisteruniform. An einem Abend verschwand ich und ging in Richtung Warschau. Ich kam dann nach Litauen. Den Namen Fritz habe ich mir zugelegt, um nicht aufzufallen.
     Ende 1941 kam ich dann mit einem Polizeiwagen nach Riga. Ich wurde dann einer Polizeieinheit zugeteilt, da man mir glaubte, daß ich meine Einheit verloren hätte. Ich machte als Kraftfahrer Dienst. Ich wurde dann mit drei Polizisten zusammen nach Reval [heute Tallinn, Estland] geschickt, um Schnaps zu holen. Dort erfror ich mir die Füße. Ich bekam dann, wieder in Riga, eine neue Beschäftigung, indem mir befohlen wurde, die Leute des Ghettos täglich zur Arbeit zu führen. Dies tat ich, bekleidet mit einer Polizeiuniform. Dann wurden die Werkstätten am Washington Platz eingerichtet, wo Handwerker aus dem Ghetto arbeiteten. Auf Vorhalt erkläre ich, daß ich die Leitung der Werkstatt nur deshalb bekam, weil ich erfrorene Füße hatte und mich dazu drängte. Der Grund war, um unseren Leuten helfen zu können. Als es hieß, daß die Leute aus dem Ghetto weg sollten [allmähliche Auflösung des Ghettos durch Errichtung des KZ Kaiserwald], wandte ich mich an den Obersturmführer Heier und fragte ihn, ob wir nicht die Schneiderund Schusterwerkstatt aufrechterhalten und ein Gebäude bekommen könnten, wo wir die Leute unterbringen. (. . .) Ich bekam nun die Fabrik 1Lentai zugewiesen. (. . .) Mein Ziel war, die Juden nicht ins KZ zu bringen. Die Juden [aus den Werkstätten am Washington Platz] wurden dorthin gebracht, und ich war als einziger mit Uniform ihnen vorgesetzt. (. . .) Ich habe meine Eltern 1942 auch tatsächlich in Schaulen mehrmals besucht. Diese forderten mich auf, zu sehen, daß ich mich retten könne. (. . .)
     Ich muß hier betonen, daß ich als Sonderführer der SS eingekleidet wurde, im Rang eines SS-Untersturmführers. Ich hatte geflochtene Achselstücke ohne Sterne. Auf den Spiegeln hatte ich keinen Totenkopf, nur auf der Mütze. Irgendwelche Abzeichen auf den Ärmeln trug ich nicht. Ich war daher nicht Angehöriger der SS. Auch eine Blutgruppe wurde nicht eintätowiert. Ich war nur als SS-Sonderführer eingekleidet, weil ich mit Behörden zu tun hatte. Das war, glaube ich, um Weihnachten 1942. (. . .) Ich weise entschieden zurück, daß ich beim SD [Sicherheitsdienst] war oder im Rahmen des SD eingesetzt worden bin."
(16)

 

 

Anita Kugler: Scherwitz, Teil 3

(....) Seite 40 bis 51

     Unter der Überschrift "Bock zum Gärtner" erscheint am 4. Mai 1948 im Berliner "Nachtexpress" folgende Meldung: "Der bisherige Beauftragte für jüdische Flüchtlinge in Schwaben, Scherwitz, ist gestern [sic!] auf Veranlassung des bayerischen Ministers für politisch, religiös und rassisch Verfolgte, Dr. Philipp Auerbach, von amerikanischen Behörden in Haft genommen worden. Dr. Auerbach gab bekannt, daß Scherwitz, obwohl er Jude ist, von 1941 bis 1945 [sic!] als SS-Untersturmführer Kommandant eines deutschen Konzentrationslagers in Riga gewesen ist. Verschiedene Überlebende des Lagers hätten Scherwitz erkannt und angezeigt. Scherwitz habe erklärt, er hätte die Leitung des Konzentrationslagers übernommen, um seine Eltern vor Verfolgungen schützen und vor dem Tode retten zu können."(20)
     Es wird fast ein Jahr vergehen, bis die nächsten Berichte über den "jüdischen KZ-Kommandanten" erscheinen. Auerbach scheint sich in der Folge nicht nur selbst den Maulkorb umgehängt zu haben, sondern, dank seines Einflusses bei der Militärregierung, der Lizenzpresse auch gleich mit. Es ist nicht das erste und wird auch nicht das letzte Mal bleiben, daß er unliebsame, weil seine Behörde tangierende Berichte unterdrückt.
     Die knappe, aber von den Zeitungen durch eine große Überschrift skandalisierte Meldung leitet eine überraschende Wende in den Ermittlungen ein. Denn in einem kleinen Dorf im Westfälischen liest eine Frau, die ihren Augen nicht trauen mag, die wenigen Zeilen. Tage später wird sie Scherwitz’ jüdische Identität als "Lügengespinst" zerreißen. Bertha Scherwitz, die heute einen ganz anderen Namen trägt, aber aus Datenschutzgründen hier so genannt werden soll, schickt ohne genaue Adresse an "Herrn Dr. Auerbach in München" einen äußerst sorgfältig mit der Hand geschriebenen Brief. Jeder einzelne Buchstabe füllt ein Karo des Briefpapiers aus, die mit Schwüngen verzierten Großbuchstaben zwei.
     "Durch eine Pressemitteilung habe ich Kenntnis von dem Fall Scherwitz erhalten", schreibt sie. "Da ich von meinem Mann seit Anfang März 1945 noch nichts gehört habe und er SS-Untersturmführer in Riga war, möchte ich Sie höflichst bitten, [mir mitzuteilen], ob es sich um meinen Mann Fritz Scherwitz handeln könnte, der am 21. 8. 1903 geboren ist. Sollte es sich wirklich um meinen Mann handeln, was ich nicht glauben kann, so würde ich bereit sein, nach München zu kommen."(21)
     Dem Brief ist ein datiertes Hochzeitsfoto beigelegt - kein Zweifel, es zeigt Dr. Eleke Scherwitz. So sah er 1938 aus, und so sah er immer noch aus, als Auerbach ihn vor drei Wochen das letzte Mal gesehen hat. Volle dunkle Haare, dichte und geschwungene Augenbrauen, große ausdrucksvolle und dunkle Augen mit langen Wimpern, mandelförmig, dabei leicht unterschiedlich, gerade Nase, die Spitze leicht abgeflacht, und auffallend üppige Lippen. Ein freundliches, Vertrauen weckendes Gesicht. Die Augen verraten einen Hauch von Humor, die Wangen sind weich, und der Ansatz eines Doppelkinns ist deutlich zu erkennen. Nicht anmaßend, sondern stolz sieht er aus. Wie jemand, der Autorität besitzt, ohne sich groß anstrengen zu müssen. Nicht wie ein deutscher Untertan oder aufgeblasener Burschenschaftler, sondern wie ein bodenständiger Handwerksmeister, der den Wert seiner Arbeit kennt, der einen Eigensinn entwickelt hat und seine eigenen Regeln aufgestellt. Mit dem man lieber nicht um den Preis feilschen sollte. Scherwitz wirkt, als sei er sich seiner selbst sicher. Unangefochten. Männlich. Selbstbewußt steht er da, auf diesem Hochzeitsfoto aus dem Jahre 1938. Kerzengerade, die Schultern leicht nach hinten gezogen, die Brust wie Schild und Panzer dem Leben entgegengedrückt.
     Neben ihm Bertha, ungleich bescheidener, aber härter und älter aussehend als der Ehemann mit seiner geballten Präsenz. Das Studio-Arrangement unterstreicht die männliche Dominanz. Sie sitzt auf einem Stuhl, ihr Kopf befindet sich in Taillenhöhe des auf diese Weise überragend wirkenden Gatten. Während sie die Knie fest zusammen und die Arme dicht am Körper hält, hat er sich seinen Platz erobert. Ein Bein vor, das andere leicht zurück, locker die Arme, die linke Hand souverän auf der Stuhllehne.
      Dennoch kann das Arrangement nicht verbergen, daß ihm das Gardemaß fehlt. Der Oberkörper ist länger als seine Beine, und gut gefüttert ist er auch. Seine Finger sind kurz und rund. Es ist nicht zu übersehen, trotz des gutsitzenden schwarzen Anzugs: Der Mann ist etwas pummelig. Oder besser: stämmig. Robust. Am Revers trägt er ein Sport- oder Vereinsabzeichen, auch unter der Lupe wird kein Hakenkreuz daraus. Die Schuhe sind glänzend gewienert, sie strahlen wie nichts sonst auf diesem Bild.
     Fünfzig Jahre später zeige ich dieses Hochzeitsfoto dem Leiter des "Jüdischen Archivs und Museums" in Riga. Margers Vestermanis hat das Rigaer Ghetto überlebt, auch das KZ Kaiserwald und die Zwangsarbeit im SS-Seelager Dondangen. Nach seiner Flucht sogar die Partisanenzeit in den kurländischen Wäldern. "Wie kann man im entferntesten an seiner Herkunft zweifeln?" fragt er. "Das sieht doch jeder Blinde, daß er ein Jude ist."
     Der Brief und das Foto alarmieren den Staatskommissar. Ohne Verzug schreibt Auerbach an den Kriminalwachtmeister Hüffel, Bertha Scherwitz sei "eine für uns außerordentlich wichtige Zeugin (. . .), aus der wir allerhand herausholen können". Vorher müsse allerdings noch eine Peinlichkeit bewältigt werden: Scherwitz’ jüdischer Braut, Salomea L., müsse "schonend" beigebracht werden, daß ihr Verlobter schon verehelicht sei und einen "schlechten Charakter" habe.(22)
     Am 26. Mai 1948 erscheint Bertha Scherwitz im Münchner Polizeipräsidium. Am Vormittag befragt Philipp Auerbach sie höchstpersönlich, aber das Gespräch scheint kurz gewesen zu sein, denn seine Protokollnotiz beträgt gerade fünf Zeilen, darin die Bitte an Hüffel: bitte ausführlich protokollieren.
     Die Befragung des Polizeibeamten Hüffel am Nachmittag ist ergiebiger. Bertha Scherwitz, notiert er, ist 38 Jahre alt. Als Beruf gibt sie "verheiratete Hausfrau" an, als Religion Evangelisch. Sie ist offenbar eine bodenständige, resolute Frau, eine, die ihr ganzes Leben lang hat hart arbeiten müssen, die streng geworden ist, die sich um Ordnung bemüht und auch weiß, wie sie durchzusetzen ist. Nur vor ihrem Ehemann mußte sie kapitulieren. Da ihr Gatte sich seit drei Jahren nicht mehr bei ihr gemeldet hat, besitzt sie allen Grund der Welt, sich dafür zu rächen.
     Aber sie tut es nicht. Ihre von Hüffel protokollierte Aussage klingt erstaunlich ausgewogen, trotz der nicht zu verbergenden Bitterkeit über die Einsicht, betrogen worden zu sein. Auf Hüffel macht sie einen hervorragenden Eindruck. Noch am selben Abend schreibt er an Auerbach: "eine absolut glaubwürdige Zeugin, (. . .) trotz ihrer Schicksalsschläge (. . .) aufrichtig um die Erforschung der Wahrheit bemüht".
     Ein paar Wochen nach der Befragung reicht sie die Scheidung ein, zwei Jahre später wird diese rechtskräftig. Sie hat Scherwitz in München nicht gesehen, und, weil das Landgericht darauf verzichten wird, sie während des Prozesses als Zeugin der Anklage zu vernehmen, auch nie mehr in ihrem Leben. Sie will auch nie wieder an ihn erinnert werden. Als ich 1998 Bertha Scherwitz’ Tochter finde, höre ich von ihr: "Ich will meine Mutter mit dieser Vergangenheit nicht konfrontieren. Sie hat genug gelitten." Dem Kriminalkommissar Hüffel berichtet Bertha Scherwitz:

"Ich bin in Berlin aufgewachsen. Ca. im Jahre 1928 lernte ich Scherwitz kennen. Er war damals Werkzeugmacher und Feinmechaniker bei der Firma Siemens. Er hieß Fritz mit Vornamen und war am 21. August 1903 in Buscheruni/Ostpreußen geboren. Er gab sich nie als Jude aus und war freireligiös. Er wohnte eine Zeitlang in der Bornemannstraße 7. In weiterer Folge war ich mit ihm in Berlin laufend zusammen. Er war immer bis 1937 in Berlin beschäftigt. Er hat dann auch in der Krisenzeit auf dem Bau gearbeitet. Er kam dann im Jahre 1937 zu der Berliner Firma Westphal, Hartbetongesellschaft in Hennersdorf, Niederlausitz. Dort war er ab Mai 1937 Betriebsleiter. Das blieb er bis zu Beginn des Krieges. Scherwitz war deutscher Staatsangehöriger. Er erzählte mir schon immer, daß er von seinen Eltern während des Ersten Weltkrieges getrennt worden wäre. Er hätte dann seine Eltern gefunden und war auch verschiedene Jahre vor unserer Ehe in Litauen. Es war nur kurze Zeit. Er war weder Doktor noch Ingenieur. Er hat nach seinen Erzählungen nur die Volksschule besucht. Und die nicht einmal durchgehend. In Berlin hat er meines Wissens keine Schulen besucht.
     Ich habe mich im Jahre 1932 zu Weihnachten mit ihm verlobt und habe ihn am 2. April 1938 in Berlin-Lichtenrade geheiratet. Als Beleg zeige ich das Stammbuch vor. Die Heirat zog sich deswegen in die Länge, da er vorgab, keine Papiere zu haben. Er hatte ungefähr siebzig Reichsmark in der Woche. Er war bei seiner Firma (. . .) sehr angesehen und sehr beliebt. Ich bin sogenannte Arierin, und Scherwitz war nie als Jude bekannt. Das hätte ich doch merken müssen. Über Vorstrafen ist mir nichts bekannt. Er war ca. ab 1934 oder 35 bei der SS, Sturm 75. Er hat in Berlin Uniform getragen. Einen Rang hat er nicht bekleidet. Er sprach sich aber immer gegen die Judenaktionen aus. Wir wohnten nach unserer Heirat bis November 1938 in Berlin, Lichtenrade (. . .). Mein Mann kam immer nur am Wochenende nach Haus. Dann zog ich nach Hennersdorf, wo wir ein Haus bezogen.
     Bei Kriegsbeginn wurde Scherwitz zur Luftschutzpolizei eingezogen. Er trug die Polizeiuniform. Am 22. Februar 1940 kam meine Tochter R (. . .) zur Welt. Scherwitz wurde in Berlin eingesetzt. Ich arbeitete an seinem Arbeitsplatz in seiner Firma. Später kam er nach Polen als Luftschutzpolizist der Reservepolizei (. . .) und dann nach Riga. Soviel mir erinnerlich ist, wurden alle gesamt zur SS übernommen. Erst im Jahre 1943 oder 1944 lautete die Anschrift SS-Untersturmführer Scherwitz.
     Er war ab 1942 nicht mehr im Urlaub. Er war dazwischen nur kurz über einen Tag bei uns gewesen. Er trug die Uniform der SS als Oberscharführer oder Scharführer. Es soll der entsprechende Dienstgrad bei der Wehrmacht eines Feldwebels gewesen sein. Er schrieb nur sehr selten. Auf meine Vorwürfe ging er nicht ein. Ich schrieb dann an die Dienststelle 15119 und fragte an, warum mein Mann nicht auf Urlaub käme. Ich bekam als Antwort, dass es stimme, daß mein Mann seit 1942 keinen Urlaub gehabt hätte. Ich wußte nur von meinem Mann, daß er so eine hohe Stellung bekleidete. Ich habe sein Gehalt bekommen und ab und zu mal einen Kleiderstoff. Ich habe ihn 1942 in Riga besucht und war kurz dort. Ich hatte das Gefühl, daß mit den Frauen etwas nicht stimmen würde. Gold und Schmuck habe ich nie erhalten. Pelze auch nicht. Im Jahre 1942, als ich ihn besuchte, wohnte er in einer Soldatenunterkunft. Nach 1944 kam er immer nur auf einen Tag und ging jeder Aussprache aus dem Weg. Im Februar 45 kam er mit einem Transport der SS nach Hennersdorf. Ich hatte vorher schon Funde von Mädchenbildern gemacht, und es war daher eine sehr gespannte Situation. Ich machte ihm dann den Vorschlag zur Scheidung, den er ablehnte. Ein Herr hat mir später alles bestätigt. Er ging dann im März 1945 wieder fort und erklärte, er werde sich nach Thüringen wenden. Er nahm auch von mir Sachen mit. (. . .) Von da an hörte ich nichts mehr von ihm und nahm an, daß er tot sei. Meine Tochter hat sehr an ihm gehangen."(23)
     Die Aussage von Bertha Scherwitz ist substantiell. Das sind endlich Fakten, mit denen Hüffel etwas anfangen kann. Die Promotion: Hochstapelei. Die Heirat mit der in Auschwitz umgebrachten jüdischen Schauspielerin: ein Märchen. Das gemeinsame, von der Gestapo fortgebrachte Kind: eine zynische Erfindung. Die politischen Verfolgungen ab 1933 und die Gestapohaft: eine Schutzbehauptung. Statt Mitgliedschaft in der Sozialistischen Jugend: SS-Mitglied seit 1934 oder 1935. Statt Ghetto in Lodz: Polizeieinsatz in Polen und Lettland. Und statt, wie behauptet, am 21. August 1909 in Litauen geboren, Geburt am 21. August 1903 in Ostpreußen. Beweis: Bertha Scherwitz’ Stammbuch.
     Ermittler Hüffel dürfte nach der Vernehmung von Bertha Scherwitz wohl kaum mehr einen Zweifel daran gehabt haben, dass Scherwitz ein ausgekochter Betrüger ist. Jemand, der sich nach dem Kriege ein paar Jahre jünger gelogen hat, um eventuelle Nachforschungen ins Leere laufen zu lassen. Der sich zum Juden ohne Papiere erklärt hat, weil Juden aus Osteuropa fast nie Papiere haben. Der sich ausgerechnet bei Auerbach versteckt hat, damit niemand dem früheren SS-Offizier auf die Spur kommt.
     Er wäre nicht der erste Verfolger, der sich bei den Verfolgten am sichersten fühlte. Vielleicht hat er ja auch die Meldung gelesen, die im November 1947 durch die Presse ging: In Palästina war eine Frau verhaftet worden, die zwei Jahre zuvor mit einem illegalen Einwandererschiff nach Haifa gekommen war. Ex-Häftlinge eines Konzentrationslagers in Polen erkannten auf der Straße die 26jährige als ihre frühere KZ-Kommandantin wieder. Die Ermittlungen der Polizei ergaben, daß die junge Frau den Namen einer in ihrem Konzentrationslager ermordeten Jüdin angenommen hatte, um so aus Deutschland fliehen zu können.(24) Diese Geschichte wird dreißig Jahre später den Schriftsteller Edgar Hilsenrath zu seinem Roman "Der Nazi und der Friseur" inspirieren, zu einer bitterbösen Groteske über Vergangenheitsbewältigung durch Identitätswechsel.(25)
     Scherwitz muß ein Kriegsverbrecher sein, warum sollte er sich sonst eine neue Biographie erfinden? So wird Hüffel gedacht haben. Die Post vom Polizeipräsidium Berlin, die er irgendwann im Zuge der Amtshilfe in den Händen hält, ist eine neue Bestätigung für diesen Verdacht. Das Standesamt Tempelhof, vor dem Kriege auch zuständig für den Bezirk Berlin-Lichtenrade, schickt ihm die Abschrift eines Lebenslaufes, den Scherwitz am 3. Dezember 1936 bei der Behörde eingereicht hatte, um den Verlust seiner Geburtsurkunde zu erklären und dennoch heiraten zu dürfen: 

"Ich, Fritz Scherwitz, geboren am 21. August 1903 in Buscheruni in Ostpreußen, als Sohn des katholischen Tischlermeisters Johann Scherwitz, besuchte von meinem 6. bis 11. Lebensjahr die Volksschule. Dann brach der Krieg aus, und dadurch wurde meine Schulzeit beendet. Durch Einbruch der Russen in meine Heimat verlor ich meine Eltern und wurde von den ersten deutschen Truppen mitgenommen und machte dadurch den ganzen russischen Feldzug mit, und blieb, da ich ja keine Eltern hatte, bis zu meinem 15. Lebensjahr bei den 16’er 1Landstürmern Küstrini, die mich bei sich behielten, und von da ab, bis zu meinem 17. Lebensjahr, trat ich dem Grenzschutz 1Freikorps Diebitschi bei. Nach meiner Entlassung 1920 vom Militär ging ich nach Gerlachsheim (Schlesien) zu Herrn Friedrich Erler in Stellung. Von dort wanderte ich nach Berlin. Zwischendurch nahm ich verschiedene Beschäftigungen an. Seit 1925 bin ich in Berlin und habe hier ununterbrochen in Berlin gearbeitet. Im Mai 1933 trat ich in die SS der NSDAP ein. Jetzt bin ich als Unterscharführer dem Sturm 5/75 Berlin-Lankwitz zugeteilt. Ich war stets bemüht, meine Geburtsurkunde zu bekommen. Das Rasseund Siedlungshauptamt und das Sippenamt haben mich sogar unterstützt, doch nur mit dem Erfolg, daß ich statt der Geburtsurkunde einen Abstammungsbescheid bekam. Von dem Reichsführer der SS wurde mir im Juli 1936 die Genehmigung zur Heirat erteilt. Ich arbeite jetzt als Betriebsleiter der Firma Westphal-Hartbeton."(26) 

Fritz Scherwitz’ Lebenslauf aus dem Jahre 1936 bestätigt - wenn auch mit kleinen zeitlichen Unstimmigkeiten - seinen Eintritt in die SS in den frühen dreißiger Jahren. Dieses Selbstbekenntnis ist ein gerichtsverwertbares Beweisstück. Hüffel ist ein gutes Stück weitergekommen, endlich hat er etwas Licht in Scherwitz’ Vergangenheit gebracht. Vor diesem Hintergrund hören sich Scherwitz’ Ausflüchte, er sei in Riga "nur eingekleideter Sonderführer im Range eines SS-Untersturmführers" gewesen, aber niemals Mitglied der SS und auch nicht des Sicherheitsdienstes (SD) oder der Gestapo, geradezu absurd an.
     Ermittler Hüffel erinnert sich wahrscheinlich nur mit Groll an all die Luftnummern, die ihm Scherwitz vorgeführt hat: Er sei Jude, habe in Gestapohaft gesessen, sei zur SS nur gegangen, um die Behörden zu beeindrucken, sei verheiratet mit Jenny Goldberg, das Kind sei 1938 geboren, den Vornamen Fritz habe er sich zu seinem Schutz erst in Lettland zugelegt. Ab jetzt werden andere Saiten aufgezogen, wird er womöglich beschlossen haben. Solche wie in Dachau. Die gehen mit ihren Untersuchungshäftlingen nicht so zimperlich um wie die neuerdings überkorrekt gewordenen Deutschen auf dem Münchner Polizeipräsidium.
     Am 2. Juni 1948 bestellt Hüffel den verstockten Untersuchungshäftling aus Dachau zum dritten Mal zum Verhör nach München. Ohne Umschweife konfrontiert er den angeblichen Herrn Doktor Eleke Scherwitz mit den Aussagen seiner Ehefrau und den Angaben aus seinem Lebenslauf von 1936. Die dann folgende Szene hält Hüffel in einer dürren Aktennotiz fest: "Die Vernehmung wurde für zwei Stunden unterbrochen, weil Eleke Scherwitz nicht vernehmungsfähig war. Erst nachdem ein herbeigerufener Arzt seine Vernehmungsfähigkeit feststellte, konnte die Vernehmung fortgesetzt werden."(27)
     Es ist die längste und letzte Befragung, die Hüffel in eigener Regie mit Scherwitz durchführt, das letzte Gespräch, das er überhaupt mit ihm führt. Mitte August faßt er die bis dahin gewonnenen Erkenntnisse in einem "Ermittlungsschlußbericht" zusammen und schickt ihn an die Münchner Generalstaatsanwaltschaft. "Eine Schlußeinvernahme von Scherwitz konnte nicht stattfinden", schreibt er darin. "Denn im Juni wurde er als Zeuge in das Gerichtsgefängnis Nürnberg überführt, wo er sich bis zum heutigen Tage befindet."(28)
     Erst am 18. November 1948 wird Scherwitz das nächste Mal von einer deutschen Instanz verhört. Es ist die Staatsanwaltschaft beim Amtsgericht Dachau. Und er heißt dann nicht mehr Fritz Scherwitz, sondern Eleke, manchmal auch Elke Sirewitz. Die Verwandlung von Scherwitz zu Sirewitz hat Hüffel selbst noch miterlebt, an jenem Juni-Sommertag im Münchner Polizeipräsidium. Hüffels Protokoll ist hier um Details zu Riga, um Scherwitz’ Ausführungen zu den Beschuldigungen und um die Nachkriegsgeschichte gekürzt. Hüffels kurze Ergänzungen, die im Protokoll als Nachtrag enthalten sind, sind in den folgenden Text eingearbeitet:

"Ich heiße in Wirklichkeit Sirewitz, Elias, Eleken, geboren am 8. August 1910 in Wilna, israelitischer Religionszugehörigkeit, staatenlos, früher litauisch. Meine Eltern sind Jankel und Sore Sirewitz. Mein Vater ist wahrscheinlich im Ghetto gestorben, meine Mutter in Stutthof ermordet.
     Mein Vater war in Wilna Inhaber einer Möbelfabrik. Ich hatte vier Schwestern. Chana, (. . .)ler [Auslassung im Original], Riva und eine, deren Namen ich nicht mehr weiß. Ich war bei meinen Eltern bis zum zehnten Lebensjahr. Meine Eltern hielten sich zu der Zeit in Schaulen auf. Wann diese dort hingezogen sind, weiß ich nicht mehr. Zu dieser Zeit hatten die Eltern keine Beschäftigung mehr. Sie wohnten zuletzt in Schaulen, Tilsiterstraße, neben der Lederfabrik. Meine Schwestern sind umgekommen. Zeugin hierfür ist Bella R. Meine Eltern waren Juden. Ich habe Bella R. bei meinen Eltern nie gesehen. Aber als ich mich [nach dem Krieg] beim jüdischen Komitee nach meinen Eltern erkundigte, sagte mir ein Herr, daß ein angenommenes Kind der Familie Sirewitz in Feldafing [im DP-Lager] wohnen würde. So fand ich sie dann dort. Ich betrachtete sie von da ab als Stiefschwester. Meine Mutter war zuletzt auf dem Markt tätig, um sich ihren Unterhalt zu verdienen. Mein Vater war klein und trug einen langen weißen Bart.
     Herr Friedrich Erler, ehemaliger Fliegeroffizier, ein Bekannter meiner Eltern, nahm mich dann im Jahre 1920 mit nach Gerlachsheim bei Lauban, Schlesien. Erler hatte dort ein Gut. Dort blieb ich bis ca. 1924. Dann kam ich alleine nach Berlin. Ich meldete mich mit meinem richtigen Namen an und wohnte zuerst im Osten Berlins. Ich suchte mir Arbeit bei der Firma Siemens, Jungfernheide, im Werner-Werk F. Ich lernte Werkzeugmacher und Feinmechaniker. Dann nach einem Jahr kamen die großen Entlassungen wegen der Wirtschaftskrise. Ich arbeitete dann bei Baufirmen in Berlin. (. . .) Ich war lange Zeit arbeitslos. Ich lebte von Gelegenheitsarbeiten, da ich leben mußte. Ich war dann ca. 1930 oder 1931 auf einem kurzen Besuch bei meinen Eltern in Schaulen. Ich habe damals meine Frau schon gekannt. Ich war vorher schon Mitglied der KJ [Kommunistische Jugend] und der SAJ [Sozialistische Arbeiterjugend]. Ungefähr 1931 oder 1932 sollte ich von der Polizei wegen unbefugter Propaganda für die Parteien festgenommen werden. Jedenfalls war es ein politischer Grund. Ich habe mich durch die SAJ als Sirewitz, litauischer Staatsangehöriger polizeilich abmelden lassen, und als Fritz Scherwitz, geb. 21. August 1903, deutscher Staatsangehöriger wieder anmelden lassen. (. . .) Für die Religion gab ich keine Angabe. Ich hatte keine Veranlassung, mich in Berlin als Jude anzumelden. Ich habe dann aufgrund der polizeilichen Anmeldung in Berlin einen Reisepaß erhalten, mit dem ich auch nach Schaulen fuhr. Ich habe später nie einen arischen Nachweis erbringen müssen. Auch später nie bei der Polizei.
     Ich habe dann in Berlin Hilfsschulen besucht, da ich vorher nicht lesen und schreiben konnte. Ich habe dann mit meiner Frau eine Waschund Plättanstalt eröffnet. Das war ungefähr 1932/33. Das Geschäft ging nicht, und wir eröffneten ein anderes in Berlin-Lichtenrade.
     In Lichtenrade war ein Bäckermeister P. Der kannte mich sehr gut und wußte, wer ich bin. Dieser warnte mich, daß die Gestapo auf mich aufmerksam sei. Er sagte mir, daß ich mich nur retten könnte, wenn er mich als SS-Mann einkleiden würde. Er selber war SS-Mann von früher. Er gab mir ein Hemd und eine Mütze. Mit dem ging ich immer mit. Er gehörte dem Sportlehrersturm 75 an. Es war ein Sportklub der SS. Ich wurde einmal von der Gestapo zu einer Vernehmung geholt. Ich sollte über Franz F. von der SAJ Auskunft geben. Ich arbeitete dann bei der Fritz Werner AG in Marienfelde als Werkzeugmacher und später im Maschinenbau. Das war ungefähr 1937/38. Von da aus ging ich als Betriebsleiter der Firma Westphal, Hartbeton, nach Hennersdorf. Im Jahre 1938 habe ich geheiratet. Ich ging ab dieser Zeit nur sehr selten oder gar nicht mehr in den Sportlehrgang, da ich durch den Bäckermeister P. erfuhr, daß eine ärztliche Untersuchung bevorstehe. In Hennersdorf war ich bis Kriegsbeginn.
     Ich habe nie einen Aufnahmeantrag zur SS unterschrieben und war nie Mitglied der SS.
     Bei Kriegsbeginn wurde ich zur Luftschutzpolizei nach Berlin dienstverpflichtet. Dort blieb ich ca. bis Ende 1940. Dann wurde ich als Polizeihilfswachtmeister eingekleidet. Wir kamen dann als Kraftfahrer nach Riga. Wir waren allerdings kurzfristig in Warschau und Litzmannstadt [Lodz]. Waren dann wieder zurückgekommen nach Berlin und von dort aus nach Riga als Kraftfahrer gekommen. Das war Ende 1941 im September/Oktober. Dann kam ich nach Reval, Estland. Dort mußte ich Alkohol holen. Dabei erfror ich mir die Füße. Hierauf kam ich nach Riga zurück und mir wurde eine andere Aufgabe aufgetragen. Ich mußte die Juden zur Arbeit aus dem Ghetto holen und wieder zurückbringen. Ich habe mit der Liquidierung des Ghettos nichts zu tun gehabt. Ich habe die Juden im Lager vor den Letten geschützt, indem ich ihnen mit einer Wehrmachtslampe Zeichen gab. Rot war für Gefahr, grün war das Zeichen für ungefährlich.
     In der Washingtonstraße befand sich eine kleine Werkstatt. Dorthin führte ich die Juden zur Arbeit. Anfang 1942 übernahm [der Höhere SSund Polizeiführer Friedrich] Jeckeln die Werkstätten. Ich wurde umuniformiert und bekam eine graue Uniform mit Unteroffizierstressen. Ich wurde von da ab mit der technischen Leitung der Werkstätten betraut, da bekannt war, daß ich Betriebsleiter einer großen Firma gewesen war. (. . .) Plötzlich erklärte Jeckeln, daß die Juden wegmüßten aus der Stadt. Ich machte den Vorschlag, ein Gelände oder eine Fabrik zu beschlagnahmen, wo wir die Leute dann unterbringen können. Das wurde genehmigt. Die Sache wurde Lenta. Die Juden waren alle Feuer und Flamme dafür, da sie jetzt nicht nach Kaiserwald [in das KZ] mußten. Die Fabrik wurde ausgebaut. Dort wurden die Werkstätten und Schlafräume eingerichtet. Es wurde dann gearbeitet. Es wurde nicht nur für die Wehrmacht, sondern auch für andere Formationen, darunter natürlich auch für die SS, gearbeitet.
     Erst in Lenta bekam ich SS-Distinktionen. Ich hatte einen kleinen Stern auf der Achselklappe (Oberwachtmeister). Ich wurde nie als Scharführer bezeichnet. (. . .) Später wurde ich als SS-Untersturmführer (. . .) eingekleidet. Dies kann ca. 1943 gewesen sein. Dieser Zustand blieb bis Ende 1944, Anfang 1945. (. . .)
     Ich habe angenommen, daß meine Frau nicht mehr lebt, da ich persönlich in Berlin Bescheid bekommen habe, daß die Familie Scherwitz tot sei.
     Meine Angaben hier bei der Polizei über meine Person mußte ich aufrechterhalten, da ich hier ja immer unter dem Namen Scherwitz gelebt habe. Weil meine Frau auftauchte, entschloß ich mich, die ganze Wahrheit zu sagen, da ich nun einen Menschen hatte, der meine Angaben bestätigen konnte. Vorher wäre alles als ein Märchen angesehen worden."
(29)

Also Sirewitz, geboren in Wilna 1910. Von treuen Genossen eingedeutscht, und von einem braven Nazi in die SS eingeschleust. Kein "Märchen", sondern die "ganze Wahrheit". Es ist schlecht vorstellbar, daß sich Hüffel von Scherwitz’ neuester Vergangenheitskorrektur besonders beeindrucken ließ. Nur den Doktortitel wird Hüffel in Zukunft gern weggelassen haben. In seiner Aktennotiz heißt es dazu, daß sich Scherwitz "der wiederholten, wissentlich falschen Angaben schuldig gemacht und die Behörden getäuscht" habe, er müsse deshalb nach "§ 156 des Strafgesetzbuches bestraft" werden.
     Auch an die jüdischen Eltern und Geschwister will Hüffel nicht so recht glauben, obwohl sich in einem Punkt die Erinnerungen der soliden Zeugin Bertha Scherwitz mit denen des phantasievollen Ehemanns decken: bei dessen Besuch in Litauen Anfang der dreißiger Jahre und den dort wiedergefundenen Eltern. Aber vielleicht waren es christliche Eltern, die er gesucht und gefunden haben will? Bertha Scherwitz hat ausgesagt, daß sie, wenn ihr Mann Jude gewesen wäre, es doch hätte "merken müssen". In dem Mitte August geschriebenen Schlußbericht formuliert Hüffel sein Mißtrauen überdeutlich: "Die Person des Beschuldigten konnte nicht eindeutig geklärt werden. (. . .) Seine Herkunft bleibt im dunklen. (. . .) Er hat während der Untersuchung nicht davon abgelassen, ständig irrezuführen, und laufend falsche Angaben gemacht. Seine Angaben sind daher mit größtem Vorbehalt aufzunehmen."(30)
     Hüffels Vorbehalte wird das Gericht später ignorieren. Es wird akzeptieren, was Scherwitz am 2. Juni 1948, konfrontiert mit dem unerwarteten Bericht der Ehefrau und seinem früheren Lebenslauf, nach der ärztlich verordneten zweistündigen Vernehmungspause, zum erstenmal zu den Akten gegeben hat. Atemlos und aufgewühlt, von Hüffel zur Wahrheit ermahnt und deshalb auch als "ganze Wahrheit" von Scherwitz gelesen und unterschrieben.

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Anmerkungen:

 

(1) Regierung von Schwaben, Schreiben vom 6. April 1948 an die Regierungshauptkasse Augsburg, in: Staatsarchiv Augsburg, Regierung 17603.

(2) Bayerisches Staatsministerium des Inneren, Staatskommissariat für rassisch, religiös und politisch Verfolgte, Protokoll von Philipp Auerbach 27.April 1948. In: Ermittlungsverfahren gegen Elke Sirewitz (Fritz Scherwitz), Staatsarchiv München, Staatsanwaltschaften NSG 17434, Bd. 1, Bl. 4. Die Verfahren wurden unter den Aktenzeichen 12 Js 1640/48, 1 Ss 70/49, 1 Ks26/40 und III 16/50 geführt. Die Urteile sind abgedruckt in: Justiz und NS Verbrechen, Sammlung deutscher Strafurteile wegen nationalsozialistischer Tötungsverbrechen 19451966, hrsg. v. Adelheid Rüter Ehlermann u. a., Amsterdam 1972 ff., hier Lfd. 227. Der Aktenbestand im Staatsarchiv umfaßt: Band 1 und 2 (Ermittlungs- und Prozeßunterlagen), Band 3 (Wiederaufnahme) und Band 4 (hier Handakte Staatsanwaltschaften sowie Beiakte Gefängnis). Die Bände 1 bis 3 sind mit wenigen Ausnahmen durchnumeriert, der Band 4 besitzt eigene Zählungen. Band 1 bis 3 umfassen 420 doppelseitig beschriebene Blätter nebst Anlagen, die mit Buchstaben gekennzeichnet sind. Im folgenden kürze ich die Unterlagen aus Band 1 und 2 mit "Scherwitz-Akte" ab, die aus Band 3 mit "Scherwitz Akte (Wiederaufnahme)" und aus Band 4 mit "Scherwitz-Akte (Handakte Staatsanwaltschaften)" oder "Scherwitz-Akte (Beiakte Gefängnis)".

(3) Namen, die nur in den Gerichtsunterlagen genannt werden und nicht ebenfalls in Autobiographien oder in den Erinnerungen von Zeitzeugen, werden hier aus Gründen des Datenschutzes abgekürzt.

(4) Max Kaufmann, Churbn Lettland, Die Vernichtung der Juden Lettlands, Selbstverlag, München 1947. "Churbn" ist ein jiddisches Wort und kann mit "verbrannt" oder "Katastrophe" übersetzt werden. Das Buch stützt sich in erster Linie auf eigene Erinnerungen, aber auch die seiner lettischen Schicksalsgenossen, die er im DP-Lager in München befragte. Dokumente standen ihm nicht zur Verfügung. Viele Namen sind falsch geschrieben, auch Daten und Ereignisse verwechselt. Dennoch besitzt das Buch, die erste und für fast vierzig Jahre einzige Darstellung über den Holocaust in Lettland, einen großen zeitgeschichtlichen Wert. Im Jahre 1959 wurde es von der Staatsanwaltschaft Hamburg nach Hinweisen für strafbares Verhalten von SS-Leuten und lettischen Bewachungsmannschaften im Ghetto von Riga und den Konzentrationslagern Kaiserwald und Jungfernhof ausgewertet. Einige neue Vorermittlungsverfahren wurden daraufhin eingeleitet. Ein unkommentierter Nachdruck, herausgegeben von Erhard Roy Wiehn, erschien 1999 im Hartung Gorre Verlag, Konstanz.

(5) Gespräch mit Abraham Schapiro, Las Vegas, USA, 1. August 1998.

 

(6) Abschrift eines Rundschreibens der Association of Baltic Jews in Great Britain an Max Kaufmann, 15. April 1948, in: Scherwitz-Akte, Bl. 4.

(7) War Crimes Group North-West Europe, Section Legal, Nr.
WCG/15228/2/C2087. Archiv der Wiener Library (im folgenden WL), Universität Tel Aviv, Diaspora-Museum, WL 539-5-26.

(8) Die Britische Militärregierung plante ab Sommer 1945, nachdem sie in ihrer Zone mehrere lettische und deutsche Kriegsverbrecher festgenommen hat, einen Sammelprozeß. Der Arbeitstitel dieses geplanten Prozesses lautete "The Riga-Ghetto-Case", sollte sich aber mit allen nationalsozialistischen Gewalttaten im Baltikum beschäftigen. Die Energie der Ermittler erlahmte ab Herbst 1948, als sich abzeichnete, daß das britische Außenministerium den Fall der deutschen Justiz überlassen wollte. Gesetzliche Grundlage dafür war die britische Verordnung 47, die die deutsche Justiz ermächtigte, auf Grundlage des Alliierten Kontrollratsgesetzes Nr. 10, Kriegsverbrechen selbst abzuurteilen. Diese Verordnung stieß auf heftigsten Widerstand der verschiedenen Kriegsverbrecher-Verfolgungskomitees in Europa und in den USA, die den Briten bis dahin zugearbeitet hatten. Vgl. Teil 8, Kapitel "Die Zeugen", S. 553 ff. Die Unterlagen der britischen Ermittler befinden sich unter der Nummer 701069 im Public Record Office in Kew bei London. Der Briefwechsel mit den Kriegsverbrecherkomitees befindet sich in sechs ungeordneten Mappen in der Wiener Library in der Universität Tel Aviv, WL 532-2-23 bis 532-6-27. Hier sind die ersten Beschuldigungen gegen Scherwitz nachzulesen. Die Information, daß Scherwitz sich wahrscheinlich in Bayern aufhält, befindet sich in zwei Zeugenaussagen vom 28. Dezember 1947 und 11. Februar 1948, in: WL 532-2-23 und WL 532-6-27.

(9) Dieses und alle folgenden Zitate stammen aus dem Protokoll Auerbachs vom 27. April 1948, in: Scherwitz-Akte, Bl. 1-4.

(10) Brief von Josche Wysokotworsky, in: Scherwitz-Akte, Bl. 6 (Rechtschreibung behutsam korrigiert).

(16) Etwas gekürzte und umgestellte Erklärung des Vorgeführten Dr. Eleke Scherwitz vom 27. April 1948, in: Scherwitz-Akte, Bl. 7-11. In der protokollierten Aussage sind die erwähnten Namen durchweg falsch geschrieben, sie wurden hier korrigiert.

 

 



(20) Ein fast identischer Artikel erschien am nächsten Tag in der Schwäbischen Landeszeitung - Augsburger Zeitung unter dem Titel "Verfolgtenbeauftragter enttarnt". Am 7. Mai 1948 titelte die Stuttgarter Zeitung Schwäbische Nachrichten "Jüdischer KZ-Kommandant in Haft" und am 10. Mai der Kölner Express "Wolf im Schafspelz".

(21) Berta (Name geändert) Scherwitz an Philipp Auerbach vom 17. Mai 1948, in: Scherwitz-Akte, Bl. 43.

(22) Schreiben von Philipp Auerbach an Clemens Hüffel vom 21. Mai 1948, ebenda, Bl. 44.

(23) Vernehmungsniederschrift B. Scherwitz vom 26. Mai 1948, ebenda, Bl. 49a, b

(24) Der Weg, 28. November 1947. Den Hinweis auf diese in der Emigrantenpresse erschienene Meldung verdanke ich Herman Simon.

(25) Edgar Hilsenrath, Der Nazi und der Friseur, Köln 1977.

(26) Lebenslauf vom 3. Dezember 1936 für das Standesamt Berlin-Lichtenfelde. Auf der Abschrift des Standesamts Tempelhof für die Kriminalpolizei München vom 24. Mai 1948 wird der Lebenslauf auf den 3. Dezember 1939 datiert. Das ist ein Tippfehler. In: Zentralarchiv des Ministeriums für
Staatssicherheit, heute Bundesarchiv Dahlwitz-Hoppegarten, ZA 1/7370, Akte 6, Bl. 2.

(27) Aktennotiz Hüffel o.D., in: Scherwitz-Akte, Bl. 65d

(28) Emittlungsschlußbericht Hüffel vom 18. August 1948, ebenda, Bl. 92-95, hier Bl. 95.

(29) Vernehmungsniederschrift vom 2. Juni 1948, Tgb. 1716/48, ebenda, Bl. 64-65b.

(30) Schlußbericht Hüffel vom 18. August 1948, Bl. 92.