22-8-2005
Dschungelkind, von Sabine Kuegler
Sites: http://www.dschungelkind.de
erschienen am 30. März 2005 in Norddeutschland
Heimweh nach dem Urwald
Hausbesuch: Als ehemaliges
Dschungelkind in West-Papua schaffte es Sabine Kuegler auf Platz 1 der "Spiegel"-Bestseller-Liste.
Das Abendblatt besuchte sie in Horneburg.
Von Jens Meyer-Odewald
Sabine Kuegler
Dschungelkind
Droemer Knaur, 2005, 352 S.
ISBN 3-426-27361-6 --
19,90 Euro
Im Urwald West-Papuas war die Freiheit für Sabine Kuegler grenzenlos. Gemeinsam mit den Kindern des Fayu-Stammes durchstreifte sie den Regenwald, beherrschte spielend Pfeil und Bogen, pirschte auf den Pfaden exotischer Geschöpfe, aß Schlangenfleisch und wußte beim Wasserspaß im See, daß Krokodile unter Wasser nicht beißen können. Zwar ließ sie sich nicht wie die anderen Straußenknochen durch die Nasenflügel bohren und trug auch keine tierischen Schrumpfköpfe am Lendenschurz, dennoch stand sie mit den Eingeborenen auf freundschaftlichem Barfuß. Auch dank der kindlichen Gabe, die Singsang-Sprache der Fayu natürlich zu erlernen. |
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Daß die westliche Zivilisation ganz andere, bisweilen
schwerer zu verdauende Hinterhalte offenbart als die Tücken im Reich der
Kannibalen, spürte Sabine schon als Kind. Als es während einer längeren
Zwischenstation in Deutschland alltägliche Restriktionen gab, als die
Freundschaft bisweilen am nachbarlichen Gartenzaun Grenzen hatte. Auf der Suche
nach der Großzügigkeit des Dschungels wurde sie mit dem Fahrrad auf der Autobahn
von der Polizei eingeholt. Und auch der Drang der kleinen Sabine, sich selbst im
Winter der Kleidung zu entledigen und nackt in Pfützen planschen zu wollen,
endete, na klar, mit einem Verbot.
"Das waren nur die äußerlichen Probleme", sagt Sabine Kuegler
(33) heute im Schneidersitz auf ihrem blauen Wohnzimmersofa kauernd. "Die
inneren Zwiespälte wiegen weit schwerer."
Die Heimkehrerin, inzwischen Mutter von vier Kindern, fühlte
sich hilflos, nutzlos, orientierungslos im Spagat zwischen Papua und Horneburg.
Stationen eines Lebens in Unruhe: Geburt in Nepal, mit drei Jahren Bad Segeberg,
Djakarta, West-Papua, zwischendurch Deutschland und USA, mit 17 Internat in der
Schweiz, Japan, schließlich Horneburg, ein Dorf bei Buxtehude.
Im vergangenen Jahr keimte die Idee, sich den Lebensfrust
eines Wechselbades zwischen Urwald im Westen Indonesiens und deutschem
Stadtleben von der Seele zu schreiben. Ursprünglich als eine Form der
Selbsttherapie gedacht, entwickelten sich die Kindheitserinnerungen aus der
Steinzeit zum Bestseller: Seit dem Verkaufsstart am 18. Februar dieses Jahres
wurde Sabine Kueglers Buch "Dschungelkind" (Droemer Verlag, 19,90 Euro) mehr als
100 000mal verkauft. Auch in dieser Woche belegt die 352 Seiten starke
Teil-Biographie Platz eins der "Spiegel"-Bestenliste.
In Horneburg weiß das kaum ein Mensch. "Als meine Cousine
spaßeshalber in der örtlichen Bücherstube nach dem Titel fragte, mußte die
Verkäuferin passen", sagt Sabine Kuegler amüsiert. Als sie beim Bummel an der
Seite der Abendblatt-Reporter durch die Kleinstadt an der B 73 das
"Dschungelkind" nun doch im Schaufenster entdeckte, reagierte sie mit kindlicher
Freude. Zumal ihre beiden Kinder, Vanessa (3) und Julian (5), lauthals über die
Marktstraße riefen: "Mami, das bist doch du!"
Wegen der Kinder will die Autorin ihre Zukunft in Deutschland
bauen: Im Sommer soll es nach München gehen. Dort hat sie mit einer Freundin
eine Produktionsgesellschaft gegründet, die Filme über exotische Regionen auf
der Erde herstellen soll. Dann soll ein unstetes Leben zwischen verschiedenen
Welten, das bis auf das Dschungel-Jahrzehnt ausschließlich Rastlosigkeit mit
sich brachte, einem familiengerechten Alltag weichen. Dem nicht nur die
alleinerziehende Mutter Tribut zollen muß: Der fünfjährige Julian, ebenso wie
seine kleine Schwester ein fröhliches, quicklebendiges Kind, leidet an einer Art
Autismus, spricht erst seit ein paar Monaten und ist erst seit kurzem trocken.
Der Vater, ein Kanadier, arbeitet für die Computerfirma Intel
in Tokio, zahlt den Lebensunterhalt; die Buchtantiemen werden erst nach und nach
fällig. Die beiden älteren Kinder, Sophia (13) und Lawrence (11), leben mit
Sabine Kueglers erstem Ehemann, einem Holländer, in der Schweiz. Da ist München
natürlich näher.
Der Wohnsitz Horneburg ergab sich durch die Nähe zu einer
hilfsbereiten Cousine am Ort, die sich während der München-Termine und diverser
Lesungen in ganz Deutschland um die Kinder kümmert, gemeinsam mit einem
Au-pair-Mädchen aus der Mongolei. Sabine Kueglers Vater (65) liegt nach einer
Bypass-Operation in einem Krankenhaus in seinem Heimatort Bad Segeberg.
Seine Heimat aber ist der tiefe Regenwald West-Papuas. Dort
verbrachte der Sprachforscher und Missionar gemeinsam mit seiner Frau, einer
Krankenschwester, den Großteil seines Lebens. Anfangs im Auftrag einer
amerikanischen, später einer indonesischen Hilfsorganisation. Beide gingen mit
ihren drei Kindern in den Busch, auch um Frieden zu stiften zwischen
blutrünstigen Naturvölkern, die eine urwüchsige Existenz weitab jeglicher
Zivilisation führen. Berichte über Kannibalismus und andere grausame
Stammesrituale sind belegt, wurden von den Kueglers aber nicht beobachtet.
Glücklicherweise.
In der Isoliertheit des Fayu-Gebietes südlich des Äquators,
zwei Flugstunden und etliche Helikopterminuten von West-Papuas Provinzhauptstadt
entfernt, genoß Sabine zwischen ihrem siebten und siebzehnten Lebensjahr,
unterbrochen nur von einigen Monaten in Deutschland und in den USA,
paradiesische Abenteuer, von denen andere nur träumen: "Es waren herrliche
Zeiten, voller natürlicher Pracht und Spannung, aber auch voller Wärme und
Geborgenheit."
Inmitten der Ureinwohner wohnten die Weißen in einem
hölzernen Pfahlhaus, umgeben von undurchdringlichem Regenwald in sicherer
Entfernung von den Rebellen der Region und kriegslüsternen Stämmen. "Wir hatten
das Paradies auf Erden", erinnert sich die Autorin. Mogli, das Zeichentrickkind
aus dem "Dschungelbuch", läßt grüßen.
Sabine Kueglers Buch verleiht der Phantasie Flügel. Es liest
sich wie eine Kombination aus Robinson Crusoe und Pippi Langstrumpf,
angereichert mit Überlebenstricks, Dschungel-Fauna und phantastischen Details
aus einem der letzten Urreviere der Erde. Wer möchte nicht auch einmal so leben?
Zumindest eine Zeitlang. Oder im Traum?
Kritik an einer naiven Darstellung exotischer Lebensformen
weist die Bestseller-Autorin mit einem entwaffnenden Argument zurück: "Ich habe
meine Kindheit aufgeschrieben genauso wie es war." Und zu Vorwürfen der
Gesellschaft für bedrohte Völker meint sie: "Es ist eine Tatsachenschilderung,
frei von politischer Einordnung."
Letztlich könne sich jeder Leser sein eigenes Urteil bilden.
Zumal Sabine Kuegler die Kehrseite ihrer abenteuerlichen Jugend frank und frei
bekennt: Als rast- und ruhelos zwischen den Welten Irrende hat sie den Fixpunkt
ihres Lebens noch nicht gefunden. "Die westliche Welt erscheint mir viel fremder
als der Urwald", sagt sie. Anfangs habe sie auf der Straße jeden freundlich
begrüßt. Das ist vorbei. Ebenso wie totale Arglosigkeit fremden Menschen
gegenüber. "Durchsetzungsvermögen habe ich durchaus gelernt, nicht aber
Ellenbogendenken, Egoismus und Intrigen." Im Urwald laufe alles wie in Zeitlupe
ab; die Schreie der Großstadt tun ihr weh.
Die junge Autorin wirkt für deutsche Empfindungen trotz ihrer
zwei Ehen, vier Kindern und der kosmopolitischen Erfahrungen wenig wehrhaft,
eher jugendhaft, spontan, fröhlich-agil, einen Hauch chaotisch. In jedem Fall
optimistisch. Sie ist vertrauensselig, fast gutgläubig. Ihr gemietetes
Rotklinker-Reihenhäuschen in einem wenig markanten Viertel Horneburgs mit
geleckten Vordergärten, Osterglocken, geschrubbten Gehwegen und autowaschenden
Anwohnern ist wenig häuslich eingerichtet. So wohnt jemand, der auf dem Sprung
ist. Eine, die nach einem Fixpunkt in ihren widerstreitenden Gefühlen strebt.
"Im August möchte ich zurück nach Papua, zurück zu den Fayu",
sagt sie bei einem Schluck Kaffee aus dem Pappbecher von McDonald's. Einen
Monat, am liebsten drei, am allerallerliebsten für immer. Aber da sind die
geliebten Kinder, die Pläne in München, die Sehnsucht nach Einhalt. "Bald haben
wir Ruhe", sagt Sabine Kuegler. Mit Schalk im Blick.
Als könnte sie es selbst nicht glauben.
Text: F.A.Z.,
14.03.2005, Nr. 61 / Seite 35
Bücher
Buchen Sie ein
Dschungelkind
Von
Eberhard Rathgeb
14. März 2005 Sie
- ja, Sie: "Sie suchen einen neuen, unverbrauchten und sympathischen wie
authentischen Werbeträger? Buchen Sie das Dschungelkind Sabine Kuegler." Mensch,
das ist aber zuvorkommend! Das Angebot steht wörtlich auf der Website von Sabine
Kuegler. Liebe Dschungelkinder, sagen wir da nur, laßt euch nicht hängen, aus
euch kann was werden.
Sabine Kuegler ist die blonde junge Frau, die als Kind für einige Jahre mit ihren Eltern und Geschwistern im Regenwald war. Kommt sie deswegen in der westlichen Zivilisation nicht mehr vom Fleck? Sabine Kuegler ist Geschäftsführerin der Film- und Verlagsgesellschaft "Earth of Dreams". Ihr Buch "Dschungelkind" steht auf Platz eins der Bestsellerliste. Was hat sie zu erzählen? Das Leben unter den Bäumen war grün, und aus den Ureinwohnern ist mit Papa Kueglers Hilfe noch etwas geworden - ihr Papa war ein Held. Auch aus Sabine Kuegler ist noch etwas geworden. Was der Vater dort wirklich wollte, erfahren wir in dem Buch nicht.
Eine Menge Kohle aus dünnem Holz
Sabine Kuegler wurde 1972 in Nepal geboren, wo die Eltern die Sprache eines Volkes lernten, das Danuwar Rai genannt wurde. Warum die Eltern das machten, erfahren wir aus dem Buch nicht. Als Sabine drei Jahre alt war, gingen die Eltern wieder nach Deutschland zurück. Wir erfahren nicht, warum. Dort blieb die Familie bis zum 23. April 1978. Wir wissen nicht, wo.
Sabine Kuegler lebt heute in Buxtehude, das liegt in Schleswig-Holstein. Sie fuhr 1979 mit ihren Eltern nach Westpapua. Mit siebzehn Jahren, also im Jahr 1989, ging sie endgültig wieder nach Deutschland zurück. Sie besuchte ein Internat in der Schweiz, studierte offensichtlich Wirtschaftswissenschaften und arbeitete darauf im Hotelfach und in der Marktforschung, was auch immer man sich darunter vorstellen mag. Sie hat dazugelernt, und irgendwann wird sie sich gedacht haben, daß sich doch auch aus dem dünnen Holz ihrer frühen Dschungeljahre eine Menge Kohle machen lassen muß.
Der Traum von der schönen Steinzeit
Vor einem Jahr gründete sie die Film- und Verlagsgesellschaft "Earth of Dreams". Sabine Kuegler bietet dort an, persönliche Lebensgeschichten vollständig zu vermarkten. Das geschieht unter dem Motto: "Emotionale Erlebnisunterhaltung". Die erste Lebensgeschichte, die Sabine Kuegler vollständig vermarktet, ist ihre eigene. Jetzt träumen die Deutschen mit dem gewieften Dschungelkind von der schönen Steinzeit: eine kleine Hütte für ein Huhn und ein Ei und rundum Nachbarn, die man nur zu nehmen wissen muß. Einer träumt nicht mit: Ulrich Delius von der Gesellschaft für bedrohte Völker. Er sieht die Verlierer der ganzen Geschichte - die Ureinwohner Westpapuas. Im Mai dieses Jahres möchte Sabine Kuegler ihre Geschichte vom deutschen Kind im Urland verfilmen.
Was aber wollte Vater Kuegler in Westpapua? Siebzig Jahre bevor Familie Kuegler aus Deutschland in Westpapua auftauchte, packte der Amerikaner William Cameron Townsend, geboren 1896 in Kalifornien, seine Koffer und fuhr nach Guatemala. Auch Townsend hatte einen Traum. In Guatemala angekommen, mußte er feststellen, daß es den Indianern dort unten sehr schwer fiel, die Bibel in Spanisch zu lesen. Townsend überlegte - und lernte die Sprache der Cakchiquel-Indianer.
Darauf machte er sich daran, das Neue Testament in diese Indianersprache zu übersetzen. Er ging in die Vereinigten Staaten zurück und gründete im Jahr 1934 einen Ausbildungskurs für Missionare, wo er seine Erfahrungen beim Lernen der Indianersprache weitergab. Zwei Jahre darauf wurde die Organisation "Summer Institute of Linguistics" (SIL) in die Welt des umtriebigen Gottes von Amerika gerufen. Die wissenschaftlichen Erkenntnisse der damals aufblühenden Strukturellen Linguistik wurden vom SIL mit klopfendem Herzen aufgenommen.
Erstmal die Bibel übersetzen
Sechs Jahre später, das heißt also im Jahr 1942, gründete William Cameron Townsend die Gesellschaft der "Wycliff Bible Translators". Die Gesellschaft besteht heute noch und rumort gegenwärtig in rund siebzig Staaten. Die Aufgabe der Gesellschaft liegt darin, die Übersetzung der Bibel in alle Sprachen der Welt zu fördern. Das Problem: In 2700 Sprachen wurde die Bibel noch nicht übersetzt. Das Ziel: Bis zum Jahr 2025, das sind nur noch zwanzig Jahre, soll mit der Übersetzung der Bibel in all diese 2700 Sprachen begonnen worden sein. Das heißt: Viel Glück und viel Segen können sich die Mitglieder der Organisation da nur wünschen.
Schließlich taten sich Wycliff und SIL zusammen. Ihr Hauptsitz liegt heute in Texas. Bei Wycliff weltweit arbeiten rund fünftausend Mitglieder für ihren Traum, aus Wycliff Deutschland stehen allein 140 Mitglieder bereit. Sie sind in aller Welt im Einsatz. Der Name der Organisation stammt von John Wycliff, der im vierzehnten Jahrhundert die Bibel zum ersten Mal ins Englische übersetzte. Das Ziel von "Wycliff" besteht darin, allen Völkern der Erde die Bibel in ihrer Sprache zugänglich zu machen, damit die vielen Völker endlich zum christlichen Gott finden.
Eine Urform der „emotionalen Erlebnisunterhaltung”
Die Wycliff-Gesellschaft arbeitete bis in die Mitte der siebziger Jahre gerne und vor allem in Südamerika. Das lag ja auch nahe. Als die Gesellschaft damals immer stärker in die Kritik geriet - ihr wurde vorgeworfen, die Ausbeutung der Länder durch ihre missionarische Tätigkeit vorzubereiten -, da wandte sie sich dem asiatischen Raum zu und schickte ihre Mitarbeiter unter anderem nach Westpapua. Das war die Stunde von Klaus-Peter Kuegler.
Sabine Kuegler erzählt in ihrem Buch, daß die Ureinwohner Westpapuas sich gerne gegenseitig die Köpfe einschlugen, weil sie nur den bösen Geist und nicht den guten Geist kannten. Das wurde im Falle jenes Stammes, bei dem Familie Kuegler für einige Jahre wohnte, erst anders, als Sabines Vater ihnen tätige Nächstenliebe vorlebte. Ein Beispiel: Ihr Vater sprang einmal mitten zwischen zwei sich bekriegende Stämme auf den Platz und zerschnitt mit einem Buschmesser - zack hier, zack dort - die Bogensehnen, bis die verdutzten Krieger ein Einsehen hatten und mit dem blutigen Streiten aufhörten.
Solche Vorkommnisse müssen für die kleine Sabine eine Urform der "emotionalen Erlebnisunterhaltung" gewesen sein. Dem grünen Gott von Westpapua wird das Eingreifen des weißen Mannes gefallen haben. Denn wenigstens gehe es nun, schreibt Sabine Kuegler, einem Teil der Ureinwohnern viel besser, nachdem Vater Kuebler dort gewesen ist, um die Sprache zu erforschen - zu welchem Zweck, das wir erfahren wir nicht.
Auch in Buxtehude steht noch ein Bogen in der Ecke
Im Jahr 1963 gaben die Niederländer Westpapua auf, und Westpapua kam unter die Kontrolle Indonesiens - mit der Auflage, daß in Westpapua nach sechs Jahren über den Status des Landes abgestimmt werden sollte. Die Abstimmung war in den Augen vieler Kritiker Indonesiens ein großer Witz: 1969 wurden 1025 Papuas nach ihrer Meinung befragt, wie es nun mit Westpapua weitergehen sollte. Sie stimmten nach langer Vorbereitung dafür, daß Westpapua weiterhin zu Indonesien gehören sollte. Über den Wert dieses "Act of Free Choice" gehen die Ansichten in Indonesien und Westpapua selbstredend stark auseinander. Die Indonesier waren mit dem Ergebnis, wie man sich vorstellen kann, sehr zufrieden. Doch die Befreiungsbewegung OPM (Organisasi Papua Merdeka), die sich Mitte der sechziger Jahre gegründet hatte, hielt die Abstimmung für eine Farce.
Die OPM kämpft seitdem für eine freies selbstbestimmtes Westpapua. Das indonesische Militär kämpft seitdem gegen die OPM für ein indonesisches Westpapua. Massaker und Mißhandlungen durch das Militär kennzeichnen den ungleichen Kampf, in dem eine gutausgerüstete indonesische Armee den Ureinwohnern gegenübersteht, die vor allem mit Pfeil und Bogen angetreten sind. Sabine Kuegler erzählt, daß sie als Regenwaldmädchen lernte, mit Pfeil und Bogen zu schießen und daß sie daheim in Buxtehude einen Bogen und Pfeile in der Ecke stehen hat. Kein Wort aber fällt bei ihr über indonesische Soldaten. Auch der Name der Wycliff Organisation taucht in ihrem Buch nicht auf.
Stärkerer Kahlschlag als am Amazonas
Die indonesische Regierung siedelte in Westpapua Indonesier an. Im Jahr 1980, als die Familie Kuegler sich entschloß, mehr ins Innere des Landes zu ziehen, das die Tochter fünfzehn Jahre später in regenwaldgrünes Papier einwickelte und an die Deutschen verkaufen würde, wurden zahlreiche Ureinwohner von der indonesischen Armee getötet.
Westpapua ist ein riesiges Land, es ist so groß wie ganz Westeuropa, und in diesem Land wächst ein gigantischer Regenwald und liegen enorme Bodenschätze herum und warten darauf, daß einer kommt, sie zu heben. Kein Mensch, der das liebe Geld liebt, kann soviel unberührte Natur einfach unberührt vegetieren lassen. Die indonesische Regierung ist nicht untätig und läßt den Regenwald abholzen, und zwar läßt sie ihn so effektiv abholzen, daß schon heute ohne Zweifel gesagt werden kann, daß in Westpapua mehr Regenwald als im Amazonasgebiet kahlgeschlagen wird. Die Wycliff-Missionare bauten damals in Westpapua ein kleines Verkehrsnetz für ihre eigenwilligen Zwecke auf.
Noch fehlte die einfachste Infrastruktur
In Westpapua leben sehr viele Völker, und hier werden sehr viele Sprachen gesprochen: Es ist ein wahres Arbeitsparadies für die Linguisten im Namen Gottes. Im Süden Westpapuas redet die amerikanische Firma Freeport nur noch in der Sprache des Geldes. Sie hat eine riesige Kupfermine unter ihren Fittichen.
Als Bacharuddin Jussuf Habibie, der heute in einem Dorf bei Stade wohnt, 1978 in Indonesien zum Staatsminister für Forschung und Technologie ernannt worden war, hatte die Regierung die Ausbeutung Westpapuas schon auf die Wege gebracht, aber richtig befriedigend konnte für einen, der nicht untätig herumsitzen mochte, nicht sein, was in Westpapua geschah. Noch fehlte ja die einfachste Infrastruktur für eine solche Industrie. Während Habibie in Indonesien den Rüstungskomplex aufbaute, dachte er über Westpapua mach. Habibie hatte in den fünfziger Jahren Luft- und Raumfahrt in Aachen studiert und als Ingenieur beim Luft- und Raumfahrtkonzern Messerschmitt-Bölkow-Blohm gearbeitet.
Die Vision: ein gewaltiger Industriekomplex
Mamberamo heißt ein großer Fluß, der durch Westpapua fließt. Davon kann man sich auch auf einer Karte in Sabine Kueglers Buch überzeugen. Der Fluß fließt im weiten Umfeld des Gebietes der Fayu. Die Fayu sind der Stamm, bei dem die Kueglers ihr Lager aufschlugen und der Vater seine Sprachforschungen in Angriff nahm.
Schon in den achtziger Jahren, die Kueglers waren also seit zwei, drei Jahren im Land, plante die indonesische Staatliche Gesellschaft für Elektrizität, ein paar Staudämme und Wasserkraftwerke an diesem Fluß zu bauen. Habibie ließ in den neunziger Jahren seiner Phantasie völlig freien Lauf und konstruierte in Gedanken einen gewaltigen Industriekomplex, in dem Nickel, Kobalt, Chrom, Kupfer, Gold, Silber, Eisen, Aluminium, Holz, Papier sowie die Verarbeitung von Wasserstoff und Sauerstoff eine Rolle spielten. Es heißt, daß Deutschland einen Gesamtplan für dieses Mammutprojekt erstellen sollte. Die Deutschen aber hielten sich bedeckt. Dann wurde offensichtlich das Geld knapp, und so verschwand der Plan erst einmal in der Schublade.
Ob sie nun wollten oder nicht
Die Kueglers waren fünf: Mama, Papa, Judith, Sabines ältere Schwester, Sabine und Christian, der kleine Bruder. Heute lebt Klaus-Peter Kuegler das halbe Jahr in Deutschland und in den Vereinigten Staaten, die andere Hälfte des Jahres lebt er in Westpapua. Das berichtet Ulrich Delius. Vater Kuegler hat den Kontakt zu "Wycliff" nach einer Weile abgebrochen. Sabine Kuegler schreibt, daß er und ihre Mutter, nach einigen Jahren in Westpapua, für eine neue indonesische Vereinigung zu arbeiten anfingen. In Deutschland und in den Vereinigten Staaten sammelt Herr Kuegler heute Geld für eine Stiftung, die er gegründet hat und die den Namen Stiftung Marembrano trägt und eine Schule und ein Kinderheim umfaßt.
Ulrich Delius schickte sofort nach Erscheinen des Buches von Sabine Kuegler eine Presseerklärung in die Welt hinaus, in der sich die Gesellschaft für bedrohte Völker gegen die Kueglersche "romantische Verklärung" der Ureinwohner Westpapuas wandte, durch die auf fatale Weise verdrängt werde, wie es in Westpapua unter indonesischer Kontrolle aussehe. Ulrich Delius ist auch der Hinweis auf die Wycliff-Gesellschaft zu verdanken, in deren Auftrag Vater Kuegler zusammen mit anderen Missionaren in den Urwald marschierte, um den Menschen dort das Wort Gottes zu bringen - ob diese nun wollten oder nicht.
Frau Kuegler, Sie haben es geschafft!
Auch am 21. Februar in der Sendung von Reinhold Beckmann erzählte Sabine Kuegler wieder ihre Geschichte und erklärte, wie schwierig es für sie gewesen sei, von einer intakten ruhigen Steinzeitkultur in die hektische westliche Zivilisation hineinzufinden.
Frau Kuegler, rufen wir, Sie haben es als großes Dschungelkind geschafft. Der lustige Gott Deutschlands freut sich. Die Deutschen sitzen auf ihren Erlebniskoffern und wackeln mit den Ohren. In Westpapua soll es eine unberührte Natur und von Steuererklärungen und nicht zurückgezahlten Krediten unberührte Menschen geben. Über die zusammengekniffen Lippen der Deutschen huscht das Lächeln der Aufsteiger. "Wir bringen Sie groß raus", ruft Sabine Kuegler in die Runde. Da lachen die Deutschen. Die Ureinwohner verstehen Spaß.
Frankfurter Allgemeine --- Buchshop
Rezensionen und Kritiken
Manuela Haselberger
Die
Kindheit von Sabine Kuegler liest sich wie ein Märchen. Geboren in Nepal, reist
sie mit sechs Jahren zusammen mit ihren Eltern, die als Entwicklungshelfer tätig
sind, und ihren beiden Geschwistern nach Indonesien, auf die Inselwelt West -
Papuas.
¿Anstatt zum höchsten Platz der Welt ging es diesmal zum tiefsten Punkt der
Erde, vom Himalaja ins Sumpfgebiet von Irian Jaya, Indonesien, das heute bekannt
ist als West-Papua.¿
Ihr Vater entdeckte dort mitten im unwegsamen Dschungel einen bis dahin noch
unbekannten Stamm, die Fayus. Diese Menschen hatten noch nie Kontakt mit Weißen
und stehen im ständigen Krieg mit anderen Stämmen. Ihre Welt besteht nur aus
Feinden. Freunde kennen sie nicht.
Zunächst gestaltet sich die Kontaktaufnahme schwierig, doch die Familie Kuegler
schafft es, das Vertrauen der Fayus zu gewinnen und sie leben jahrelang Seite an
Seite. Während Sabines Vater die Stammessprache erforscht, freundet sich seine
Tochter mit den Kindern an. Sie lernt mit dem Bogen zu schießen, weiß schnell,
welche Pflanzen und Tiere des Dschungels essbar sind und tollt meist barfuss und
völlig sorglos am nahe gelegenen Fluss herum. Sie lebt mit den Jahreszeiten
fernab jeder Zivilisation und verbringt eine glückliche und unbeschwerte
Kindheit.
Der Kulturschock ist immens, als sie 1989, mit siebzehn Jahren nach Genf in ein
Schweizer Internat reist, um dort ihr Abitur zu machen. Ihre Mitschülerinnen
lachen sie aus, als sie jedes Mal, bevor sie die Schuhe anzieht, diese kräftig
schüttelt, damit sich ganz gewiss kein Tier darin versteckt. Ebenso befremdlich
finden sie, dass Sabine anfangs jeden Passanten auf der Straße grüßt. Im
Dschungel ist das so üblich.
Sabine Kuegler beschreibt das Leben mit den Fayus sehr liebevoll und warmherzig,
auch wenn viele Handlungen dieses Stammes zunächst unverständlich scheinen. So
wird die Leiche eines Angehörigen in der Hütte aufbewahrt, bis nur noch die
Knochen übrig sind. Nicht unbedingt eine hygienische und gesundheitsfördernde
Angelegenheit.
Die Zeit in der Wildnis, das Leben mit den Fayus, die in ihrer Entwicklung in
der Steinzeit verharrt sind, haben Sabine Kuegler tief geprägt. ¿Ich war doch
eine Deutsche, ein weißes Mädchen von weißen Eltern. Äußerlich war ich weiß,
doch was war ich innerlich? Wer war ich wirklich?¿
Ein Buch, das nicht beschönigt und die Zerrissenheit nicht ausspart, die durch
diese ungewöhnliche Kindheit entstanden ist.
Sehr lesenswert.
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Mo.21.02.2005
Sabine Kuegler
Sie wurde im Dschungel groß - bei Ureinwohnern in West-Papua. Die Missionarstochter Sabine Kuegler lebte neun Jahre bei den Fayu mit ihren Eltern und Geschwistern.
"Im Urwald lebt man sehr eng mit der Natur verbunden", erklärt Kuegler. "Man ist sehr aufeinander angewiesen zu Überleben und das Leben ist auch sehr viel langsamer. Das ist eine Sache, mit der ich sehr viel zu kämpfen gehabt habe. Wenn man hier ist, hat man so viele Eindrücke. Die Geräusche im Hintergrund, die Autos, die Bewegungen, die Farben und die Termine. Hier muss man hin, da muss man hin. Und im Urwald war das Leben viel ruhiger und viel langsamer. Man hatte das Gefühl, man hatte alle Zeit der Welt."
1980 gehen die Kueglers zu den Fayu nach West-Papua, einer Insel Indonesiens. Sie sind die ersten Weißen, die mit diesen Ureinwohnern leben. Ihre Mission: Das Licht Jesu zu den Fayu zu bringen. Ihren Vater feiert das "Dschungelkind" in seinen Erinnerungen als mutigen Entdecker und Abenteurer. Begeistert schildert sie, wie sie lernte mit Pfeil und Bogen zu schießen und wie sie selbst sagt "eine Eingeborene wurde".
Doch sie lernte auch die grausamen Seiten ihres Urwald-Paradieses kennen. Sabine Kuegler stellt die Dschungel-Bewohner als ein Volk dar, das in ständiger Blutrache lebte und im Begriff war, sich selbst auszurotten. Bis heute ist sie davon überzeugt, dass ihre Familie dem archaischen Volk den Frieden brachte.
Parallel zur Buchpräsentation von "Dschungelkind" erscheint auch ein Hörbuch; ein Dokumentarfilm ist geplant. Der Markt braucht solche Geschichten, so scheint es, so wie Sabine Kuegler dieses Buch für sich selbst braucht. "Jemand hatte mir mal gesagt, Sabine, wenn du wirklich wieder zu dir selbst finden willst, dann schreib es auf. Das zweite war, es ist noch nie so ein Fall dokumentiert worden von einem Kind, das im Dschungel aufwächst. Und es gibt viele Aufzeichnungen von Stämmen, von Forschern und so etwas. Aber es gibt nichts von einem Kind, das da aufgewachsen ist."
So schön war es im Dschungel? Menschenrechtler kritisieren Stil und Aussage des Buches, so etwa Ulrich Delius von der Gesellschaft für bedrohte Völker: "Das ist ja das Absurde, dass sie das Leben auch wieder romantisiert im Dschungel. Dass sie wieder den Eindruck versucht zu erwecken, dass man so leben könnte wie angeblich in der Steinzeit. Und für die Menschen dort im Mambarano, wo sie war, für die Fayu hat die Steinzeit schon lange, lange aufgehört, wenn sie jemals überhaupt bestanden hat. Weil sie eben seit Jahren konfrontiert sind mit unserer sogenannten Zivilisation, mit Industrie, die (dort) hinkommen will."
Aber die Boulevardpresse bedient gern reißerische Klischees: "Ich wuchs bei den Kannibalen auf". Die Fayu sollen damals tatsächlich noch kannibalische Rituale praktiziert haben, doch Sabine Kuegler schildert das nur am Rande. Selbst hat sie es offenbar gar nicht erlebt. Der Effekt ist dennoch eine Super-Publicity, aber eben auch ein veraltetes Bild von den Ureinwohnern. "Weil das eben immer wieder diese Assoziationen, diese Vorstellungen bei uns normalen Europäern weckt: Naja, da laufen sie eben im Lendenschurz rum, um den Kochtopf und gleich bin ich der nächste, der in diesem Kochtopf landet", sagt Delius.
Mit 17 Jahren kehrte Sabine Kuegler nach Europa zurück - nach eigenen Angaben ein Kulturschock für sie. Auf ihre Kindheit blickt sie heute mit Stolz zurück. Sie ist überzeugt: Ihre Familie hat den Fayu geholfen, die Blutrache zu überwinden und dadurch als Volk zu überleben. Sabine Kuegler: "Sie wären heute nicht mehr da. Und das ist nicht von mir gesagt worden, das ist von ihnen selbst gesagt worden."
"Dschungelkind" ist ohne Frage ein exotisches Frauenschicksal, aber leider auch ein naiv geschriebenes Buch voller Urwaldromantik. Sabine Kuegler mag es geholfen haben, mit sich selbst ins Reine zu kommen. Aber wem hilft es sonst noch?
http://www.worldguide.de
Sabine Kuegler
Dschungelkind
Droemer Knaur, 2005, 352 S.
ISBN 3-426-27361-6 --
19,90 Euro
Was uns unvorstellbar erscheint - Sabine Kuegler hat es erlebt. Unter
archaischen Bedingungen wuchs sie im Dschungel West-Papuas auf. Heute lebt sie
in Deutschland. »Angst habe ich erst hier kennen gelernt«, sagt sie. Und sie
weiß, dass sie zurückkehren wird.
Sabine Kueglers Geschichte beginnt, als sie mit fünf Jahren als Tochter
deutscher Sprachforscher und Missionare nach West Papua kommt. Mitten im Urwald
lebt die Familie mit dem Fayu-Stamm, der für Kannibalismus und unvorstellbare
Brutalität steht und dessen Menschen erst langsam lernen, zu lieben statt zu
hassen, zu vergeben statt zu töten.
Für die heranwachsende Sabine wird der Stamm jedoch zum Teil ihrer selbst, der
Dschungel zur Liebe ihres Lebens: Sie ist keine Deutsche mehr, kein weißes
Mädchen aus Europa, sie wird eine Eingeborene, die schwimmt und jagt, fühlt und
handelt wie eine Fayu.
Mit 17 Jahren wird Sabine auf ein Schweizer Internat geschickt, um ihren
Schulabschluss zu machen - ein katastrophaler Einschnitt für sie. »Angst habe
ich erst hier gelernt«, sagt sie. Und immer spürt sie Heimweh, eine Sehnsucht,
die ständig in ihr brennt. Sie wird zurückkehren in den Dschungel, um für sich
herauszufinden: Wo gehöre ich hin? Wer bin ich eigentlich, Fayu oder Europäerin?
Die Autorin
Geboren 1972 in Nepal, kam Sabine Kuegler mit fünf Jahren in den Dschungel von
West Papua, wo ihre Eltern, deutsche Sprachwissenschaftler und Missionare, einen
neuen Wirkungskreis gefunden hatten. Zusammen mit ihren beiden Geschwistern
verlebte sie dort ihre Kindheit und Jugend fernab der Zivilisation. Mit 17
Jahren kehrte Sabine Kuegler nach Europa zurück. Die Sehnsucht nach dem
Dschungel und seinen Menschen lässt sie seither nicht mehr los.
Pressestimmen
"Das persönliche Schicksal von Sabine Kuegler ist anrührend, und ihr
ausdrücklicher Wunsch, allen Leserinnen und Lesern "Einblicke in eine andere
Welt zu gewähren" hat sie mit dem vorliegenden "Dschungelkind" voll erfüllt."
(brikada, 19.02.2005)
"Das Buch "Dschungelkind" ist beeindruckend."
(ZDF Aspekte, 18.02.2005)
"Ungewöhnlich, interessant und lebendig erzählt."
(Freundin, 02.03.2005)
"Exotisch, ein bisschen Mogli, ein bisschen Tippi - ein Quell für die Sehnsucht
der gestressten Arbeits-Menschen nach einem ursprünglicheren Leben, nach dem
Abenteuer Wildnis."
(Buchreport Magazin, 02/2005)
"Eine unglaubliche Story über eine einzigartige Odysee zwischen den Kulturen."
(TV Hören und Sehen, 18.02.2005)
young |
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miss.de |
interview
"Heimat ist für mich ein Gefühl"
Das Dschungelkind gibt es wirklich. Aber es heißt nicht Mogli, sondern Sabine Kuegler. Mit fünf Jahren zog sie als Tochter deutscher Sprachforscher und Missionare in den Urwald von West-Papua (Indonesien). Dort lebte sie mit dem Fayu-Stamm, der für Kannibalismus und unvorstellbare Brutalität bekannt ist
Maike Dugaro
Sabine Kuegler selbst beschreibt diese Zeit jedoch als die glücklichste ihres Lebens. Erst mit 17, als sie auf ein Schweizer Internat geschickt wird, lernt sie zum ersten Mal Angst kennen. Im Interview spricht die 32-Jährige über ihr Leben im Dschungel und wie schwierig es ist, heute in der westlichen Welt zu Recht zu kommen.
ym.de: Als Ihre
Eltern sich 1980 entschieden, mit Ihnen in den Dschungel zu ziehen - wie haben
sie Ihnen erklärt, was sie dort machen werden?
Sabine Kuegler: Eigentlich gar nicht. Wir haben aber auch nie gefragt.
Ich glaube, wenn man Kinder fragt "Möchtest du im Urwald leben oder in einer
Großstadt?" dann würden sich die meisten für den Urwald entscheiden. Davon
träumt doch jedes Kind. Man kann den ganzen Tag draußen spielen, schwimmen gehen
und auf Bäume klettern.
Das ist einfach eine schöne Kindheit.
ym.de: Wie muss man sich
Missionarsarbeit vorstellen?
Sabine Kuegler:
Heute arbeiten Missionare ja nicht mehr so wie früher, als man die Bibel
hochhielt und alle vom rechten Glauben überzeugen wollte. Missionare sind sehr
gebildete Menschen: Ärzte, Anthropologen, Sprachforscher, die noch zusätzlich
einen Glauben haben. Die Fayu zum Beispiel glauben nur an böse Geister. Die
Vorstellung von einem guten Geist oder Gott existierte nicht. Da hat mein Vater
ihnen erzählt, dass wir glauben, dass es auch einen guten Geist gibt. Das fanden
sie interessant. Heute gibt es Fayu, die daran glauben, und welche, die nicht
daran glauben.
ym.de:
Der Stamm, bei dem Sie aufgewachsen sind, gilt als sehr gewalttätig und ist
sogar als kannibalistisch bekannt. Hatten Sie nie Angst vor diesen Menschen?
Sabine Kuegler:
Nein, interessanterweise hat mir das keine Angst gemacht. Ich hatte immer
das Gefühl, dass ich sicher bin. Ich wusste, dass die Fayu uns Kinder sehr
mochten und auf jeden Fall beschützt hätten und ich kann mich nicht erinnern,
dass ich jemals bedroht wurde. Untereinander waren die Fayu natürlich schon
brutal, denn zwischen den Stämmen herrschte ein Blutrachesystem, das einem
befahl, jeden Tod des eigenen Stammes durch einen Toten eines verfeindeten
Stammes zu rächen. Aber da unsere Familie nicht unter dieses System fiel, hatten
wir nichts zu befürchten. Ich habe später mit anderen Menschen geredet, die
ähnlich aufgewachsen sind. Sie haben mir bestätigt, dass man solche Dinge als
Kind nicht hinterfragt. Es ist Teil der Natur. Erst als Erwachsener beginnt man,
sich darüber genauer Gedanken zu machen. Die meisten Ängste entwickeln sich ja
erst viel später im Leben.
ym.de:
Was hat Ihnen denn Angst gemacht?
Sabine Kuegler:
Das einzige, was uns regelmäßig Sorgen gemacht hat, waren die
Wildschweine, die oft aus dem Dschungel herauskamen. Weil sie sehr schnell und
gefährlich waren, haben wir uns immer in der Nähe von Bäumen aufgehalten, auf
die wir dann schnell klettern konnten. Vielleicht hatten wir aber auch insgesamt
so wenig Angst, weil meine Eltern keine Angst hatten. Ich kann mich nicht
erinnern, dass meine Mutter uns jemals vor einem Tier gewarnt hätte.
Ich glaube, wir wussten da mehr als unsere Eltern.
ym.de:
Sie
beschreiben sich selbst ja auch als unglaublich tierlieb und haben sogar
Insekten und Spinnen gesammelt. Wie viele Tiere haben Sie heute?
Sabine Kuegler:
Leider keins. Ich wünsche mir so sehr einen Bauernhof, aber im Moment
wohne ich noch in einer kleinen Wohnung in einem Dorf in der Nähe von Buxtehude.
Aber meine Wohnung ist
nicht für Tiere geeignet ist.
ym.de: Bei den Fayu lebten Sie vollkommen abseits der Zivilisation. Gibt es trotzdem deutsche
Traditionen, die Ihre Eltern im Dschungel gepflegt haben?
Sabine Kuegler: Hauptsächlich die deutsche Sprache, auch in Form von
alten Volksliedern wie "Der Mond ist aufgegangen". Ein bisschen haben sie auch
versucht, uns Manieren beizubringen. Zum Beispiel, dass wir mit Messer und Gabel
essen konnten, oder dass wir am Tisch sitzen. Aber irgendwann haben sie es
aufgegeben.
ym.de:
Gibt es
umgekehrt Bräuche, die Sie von den Fayu übernommen und bis heute beibehalten
haben?
Sabine Kuegler: Nur sehr wenige. Ich esse noch immer gerne auf dem Boden
mit meinen Kindern, einfach, weil es bequemer ist. Wir haben auch keine
regulären Mahlzeiten. Wir essen, wenn wir Hunger haben. Das ist ja auch nicht
sehr deutsch, habe ich gehört.
ym.de:
Als Sie
zwölf waren, sind Sie mit Ihrer Familie für einige Zeit nach Deutschland
zurückgekehrt. Wie haben Sie die Zeit empfunden?
Sabine Kuegler:
Wir wollten eigentlich nur für ein Jahr auf Heimaturlaub gehen, um
Freunde und Familie zu treffen. Aber dann haben sich meine Eltern entschieden,
die Organisation zu wechseln und es war sehr schwierig, ein neues Arbeitsvisum
zu bekommen. So mussten wir noch ein weiteres Jahr warten. Wir haben wirklich
nur dagesessen und gewartet. Jeden Tag. Das war sehr schwer für uns. Meine
Eltern haben außerdem darauf geachtet, dass wir uns nicht zu sehr integrieren.
Wir wussten ja, dass wir zurückgehen würden, und sie wollten uns den
Abschiedsschmerz ersparen.
ym.de:
Nach der Zeit in Deutschland - zurück in Indonesien - haben Sie den Weg
zurück ins Dschungelleben nicht mehr so richtig gefunden.
Sabine Kuegler:
Die erste Zeit ging es noch, aber dann mit sechzehn fing es an. Ich
glaube, es hing viel mit der Pubertät zusammen, in die ich erst spät kam. Da
fühlt man sich ja sowieso sehr verloren. Ich wusste nicht mehr genau, wo ich
hingehörte. Ich musste monatelang in der Hauptstadt bleiben, um zur Schule zu
gehen, und war nur noch in den Ferien im Dschungel. Damals lebte ich zwischen
zwei Welten und hatte immer mehr das Gefühl, dass ich etwas mit meinem Leben
machen musste. Ich begann, vieles in Frage zu stellen und habe mich zum ersten
Mal als Fremde gefühlt. Mir wurde immer mehr bewusst, dass ich weiße Haut habe
und eigentlich nicht in den Dschungel gehöre.
Ich habe erst später erkannt, dass das eigentlich eine typische Teenagersache
war, durch die man einfach durch muss.
ym.de:
Mit 17
schickten Ihre Eltern Sie zurück nach Europa, in ein Schweizer Internat. Wie kam
es dazu?
Sabine Kuegler:
Ich war sehr zerrissen in dieser Zeit. Das merkten auch meine Eltern.
Natürlich musste ich mich irgendwann an die Zivilisation gewöhnen. Ich konnte ja
nicht ewig im Dschungel leben. Mein Onkel machte dann den Vorschlag, mich auf
ein Schweizer Internat zu schicken. Also habe ich mir eins ausgesucht und bin
dann nach Montreux gegangen. Meine ältere Schwester hatte den Dschungel schon
ein Jahr zuvor verlassen und auch mein jüngerer Bruder ging bald fort. Es war
der richtige Zeitpunkt zu gehen, aber das Leben in Europa war nicht gerade
einfach für mich.
ym.de:
Was war so schlimm hier?
Sabine Kuegler: Es war eine andere Kultur mit anderen Menschen. Hier ging
man durch die Straßen und sah niemanden an. Neben den Nachbarn lebte man
jahrelang und sagte nur hallo und tschüss. Das kannte ich nicht. Ich bin ja in
einer Welt aufgewachsen, in der die Türen nie abgeschlossen waren. Es herrschte
eine wahnsinnige Gastfreundschaft und man teilte alles. Die Welt hier war für
mich sehr verschlossen und unheimlich.
ym.de: Was empfinden Sie denn als besonders verstörend in der westlichen Welt?
Sabine Kuegler:
Die
Hektik. Ich vermisse die Ruhe. Außerdem habe ich große Probleme mit der
Aggressivität der Menschen. Natürlich waren die Fayu auch ein gewalttätiges
Volk, aber anders. Hier ist die psychische Gewalt viel größer. Man sagt mir
immer, ich solle mir eine dickere Haut anschaffen, aber ich weiß nicht wie. Man
wird angegriffen und kritisiert. Was man macht, wird niedergeschmettert. Ich
verstehe nicht, wie Menschen mich angreifen können, die ich gar nicht kenne.
ym.de:
Sie hatten ja im Internat ein paar gute Trainerinnen, die Sie auf das Leben
hier vorbereitet haben. Was haben die Ihnen beigebracht?
Sabine Kuegler:
Eigentlich alles: Wer ist wer, was tut man nicht, was sagt man nicht. Zum
Beispiel, dass man nicht alle Leute auf der Straße grüßt oder, dass man
skeptisch sein muss. Sabine, du bist zu freundlich, haben sie mir immer gesagt.
ym.de:
Wann
haben Sie sich dann entschieden, in Deutschland zu leben?
Sabine Kuegler:
Ich habe lange in der Schweiz gelebt und auch zwei Jahre in Japan. In
Deutschland bin ich aus verschiedenen privaten Gründen erst seit zwei Jahren.
Ich war zweimal verheiratet und habe vier Kinder. Meine ältesten sind 13 und 11
und leben bei ihrem Vater in der Schweiz. Die kleinen sind vier und drei und
leben bei mir.
ym.de:
Würden sie ihre Kinder im Dschungel aufwachsen lassen?
Sabine Kuegler:
Ich würde sie auf jeden Fall dort aufziehen. Die Großen natürlich nicht.
Die sind schon zu alt, um sich umzustellen. Ob ich es tue, weiß ich noch nicht.
Wenn meine Kinder mal aus dem Haus sind, könnte es schon sein, dass ich
zurückgehe. Vielleicht nicht in den richtig tiefen Urwald, aber zumindest in die
Gegend. Aber das ist natürlich alles nur eine Wunschvorstellung. In Europa bin
ich nur meiner Kinder wegen.
ym.de:
Was ist das Wichtigste, das Sie im Dschungel gelernt haben?
Sabine Kuegler:
Toleranz und offenes Denken.
ym.de:
Gibt es irgendetwas, das jeder von uns dort lernen könnte?
Sabine Kuegler:
Mehr Ruhe zu finden. Man fühlt sich hier immer verpflichtet, irgendetwas
zu machen. Es wäre gut zu lernen, sich hinzusetzen und einfach mal nichts zu
tun. Die Menschen sind unfähig, nichts zu tun. Durch die Fayu habe ich das
gelernt. Ich kann mich bis heute hinsetzen und problemlos vier Stunden auf einen
Zug warten oder ein Flugzeug. In Amerika musste ich mal acht Stunden auf meinen
Flug warten. Da hab ich mich hingesetzt und nichts getan. Acht Stunden lang. Für
mich ist das wie Meditation.
ym.de:
Wenn Sie nach West-Papua zurückgehen würden, was würden Sie dort machen?
Sabine Kuegler:
Ich würde gerne unterrichten. Es gibt dort viel zu tun. Ich war seit 15
Jahren nicht mehr dort. Wenn ich im Sommer für einen Monat zurückgehe, werde ich
mir alles noch einmal ansehen. Dann werde ich sicher endlich wissen, ob ich dort
hingehöre oder mit der Sache abschließen kann. Außerdem möchte ich einen
Dokumentarfilm über dieses Gebiet drehen. Als Anschluss an dieses Buch möchte
ich zeigen, wie es ist, wenn ich dahin zurückkehre. Ich habe eine eigene
Produktionsfirma gegründet, weil ich die Kontrolle haben möchte über all das,
was dort geschieht. Ich will die Menschen und das Gebiet schützen.
MEIN LEBEN IM DSCHUNGEL
Die ersten Jahre
Als meine Mutter, Doris Klueger, zwölf Jahre alt war, besuchte sie einen Vortrag über die Arbeit von Albert Schweitzer, den Berühmten Arzt und Missionar. Schon während des Vortrags wurde meine Mutter bewusst, dass auch sie eines Tages in die Mission und Entwicklungshilfe gehen wollte.
Später machte sie eine Ausbildung zur Krankenschwester. Achtzehn Jahre nach diesem Vortrag lernte sie meinen Vater Klaus-Peter Klueger kennen, der zu dieser Zeit noch bei der Lufthansa arbeitete. Er teilte ihren Traum. Sie heirateten und absolvierten gemeinsam eine Ausbildung in Linguistik. Nach der Geburt meiner Schwester Judith begann ihre Arbeit als Sprachforscher in Nepal bei einem Stamm namens Danuwar Rai I. Ich, Sabine Kuegler, wurde 1972 in Patan, Nepal geboren. Zwei Jahre später kam dann auch mein Bruder Christian zu Welt. Unsere Familie lebte bei den Danuwa Rai, bis wir 1976 aus politischen Gründen das Land verlassen mussten.
Nach einen Aufenthalt in Deutschland begann unsere Reise erneut. Diesmal ging es nicht in die Hochlagen des Himalaja, sondern in das tief gelegene Sumpfgebiet von Irian Jaya, Indonesien (West Papua). Und dort begann ein neues Leben für uns.
Die erste Expedition
Mein Vater sollte einen Stamm suchen, der bis zu diesem Zeitpunkt völlig abgeschnitten von der Außenwelt gelebt hatte. Mit einem Team, das aus einem amerikanischen Sprachforscher und zwei Eingeborenen von Stamm der Dani bestand, machte er sich zur abenteuerlichsten Reise seines Lebens auf. Mit viel Mut und Glauben na das, was er tat, fand mein Vater den Stamm, der als brutal und kriegerisch galt und auch für Kannibalismus bekannt war.
Trotzdem gelang es ihm, das Vertrauen der Eingeborenen zu gewinnen, und mit der Erlaubnis des ältesten Häuptlings brachte er unsere Familie ein Jahr später in unser neues Zuhause. Ein Zuhause, das tief im Dschungel von West Papua lag - in einem Gebiet, das man als das "verlorene Tal" bezeichnete. Und hier, inmitten des neu entdeckten Stammes, begann meine Kindheit erneut. Unter einem Stamm, der eines Tages lernen würden zu lieben, statt zu hassen, zu vergeben statt zu toten. Ein Stamm, der ein Teil von mir wurde, so wie ich ein Teil von ihm... ein Stamm mit dem Namen Fayu.
Wir lebten dort abgeschnitten von der Außenwelt. Ohne Elektrizität und fließendes Wasser. Umgeben von tausend Kilometern undurchdringlichen Urwalds, abseits jeglicher Zivilisation, verbrachten wir die nächsten Jahre damit, Sprache und Kultur der Fayu kennen zu lernen. Mein Vater konzentrierte sich darauf, die Fayu-Sprache zu erlernen und zu analysieren, während meine Mutter viel Zeit damit verbrachte, die vielen Insekten und Tiere aus unserem kleinen Holzhaus heraus zu halten und uns so gut wie möglich zu erziehen. Als gelernte Krankenschwester kümmerte sie sich auch um die medizinische Versorgung der Fayu, half bei Geburten und brachte den Frauen das Anpflanzen von Gemüse und Obst bei. Jahre später eröffnete sie eine Schule, um den Fayu-Kindern das Lesen und Schreiben beizubringen.
Eine Tat, die sogar von der indonesischen Regierung ausgezeichnet wurde. Uns Kinder kümmerte das alles nicht. Wir verbrachten eine glückliche Kindheit, umgeben von der unbeschreiblichen Schönheit des Dschungels, weit weg von Straßenverkehr, Menschenmengen, Lärm und Hektik. Eine Kindheit, die weitgehend von den Regeln der Natur bestimmt war. Inmitten des neu entdeckten Stammes der Fayu lernten wir eine Abgeschnitten von der immer schneller werdenden modernen Welt lebten wir wie vor Tausenden von Jahren - fast wie in der Steinzeit.
Ein Tag im Dschungel
Das Leben im Dschungel wird vom Rhythmus der Natur bestimmt. Wir standen bei Sonnenaufgang auf und gingen bei Sonnenuntergang zu Bett. Wenn es regnete, saßen wir in unserer kleinen Holzhütte und lasen zum hundertsten Mal die wenigen Bücher, die wir aus Deutschland mitgebracht hatten, spielten Spiele oder erzahlten uns frei erfundene Geschichten. Bei Sonnenschein waren wir von Morgens bis Abends draußen und spielten mit den Fayu-Kindern. Wir brachten ihnen Spiele wie Fußball, Verstecken
oder Fangen bei. Sie zeigten uns, wie man Pfeil und Bogen baut, ein Messer herstellt oder ohne Streichhölzer anzündet.
Manchmal verbrachten wir den ganzen Tag im Fluss, schwammen im kühlen Wasser und stellten uns vor, wir wären Krokodile, die kraftvoll und geschickt gegen die Strömung ankämpfen mussten. Doch unser Lieblingsspiel war "Das Überleben im Dschungel". Wir stellten uns vor, dass wir gestrandet waren und jetzt ums Überleben kampfen müssten. Wir bauten kleine Hütten, gingen Jagen mit Pfeil und Bogen, um danach die erlegte Beute über einem Feuer zu "grillen". Von Kaffern und Würmern über kleine Fische bis hin zu kleinen Nagetieren. Anstatt Kaugummi hatten wir Fledermausfluge, anstatt Pommes gegrillte Spinnen, anstatt Chicken Nuggets weiße Würmer, die wir auf einen Pfeil spießten und über den Flammen, goldbraun rösteten. Ich glaube, wenn meine Mutter gewusst hätte, was wir alles gegessen haben, hätte sie eine Krise bekommen. Denn Zuhause gab es unserer Meinung nach nur langweiliges Essen Jeden Morgen dasselbe, Pfannkuchen mit Zucker oder Haferflocken mit Milchpulver and Wasser. Ab und zu gab es aber auch leckere Straußeneier, die so groß waren, dass ein Ei uns alle satt machte. Mittags gab es entweder Wildschein, Strauß, Schlange Krokodil oder Fisch mit Reis oder Süßkartoffeln.
In der Abenddämmerung saßen wir zusammen mit den Fayu um das Lagerfeuer, aßen geräuchertes Fleisch und lauschten den stark übertriebenen Jagd - und Kriegsgeschichten. In ihrer wunderschönen, fast singenden Sprache erzählten die Fayu-Krieger, wie sie ein Wildschwein gejagt haben, das so groß wie unser Holzhaus, oder ein Krokodil, das so war weit wie der Fluss war, und wie sie doch die unglaublichen Tiere überlisten konnten. Und so, mit der untergehende Sonne, die den Himmel wie ein gigantisches Feuerwerk mit Farben bemalte, saßen wir gemeinsam zusammen und verloren uns in einer Welt der Fantasie.
Was war mit der Schule? Wir haben sie gehasst, doch meine Mutter war immun gegen alle Argumente. Jeden Morgen nach den Frühstuck saßen wir and unseren Holztisch und lernten anhand eines amerikanischen Korrespondenzsystems.
Mathe, Geographie, Geschichte und Englisch waren in verschiedene Hefte aufgeteilt.
Selbständig mussten wir das Material durcharbeiten und am Ende jeder Einheit einen Test absolvieren. Wenn wir bestanden, durften wir mit dem nächsten Heft beginnen, wenn nicht, mussten wir den gesamten Stoff wiederholen. Um die Mittagszeit waren wir meistens fertig und konnten uns wieder dem Jagen, Schwimmen oder Spielen widmen. Und so verstrichen die Tage in gleich bleibenden Rhythmus. Bald vergaßen wir, welcher Wochentag oder welcher Monate gerade war. Denn die Zeit im Dschungel vergeht langsam, wie langsamer als der "modernen" Welt. Ein wenig monoton, und doch mit einer gewissen Ruhe und Sorglosigkeit... ein Leben, das einzigartig war.
Die Schöpfungsgeschichte der Fayu
"Es war einmal ein großes Dorf mit vielen Menschen, die alle nur eine Sprache hatten", erzählte uns Kloru im Schein des Abendfeuers. "Diese Menschen lebten in Frieden. Doch eines Tages kam ein großes Feuer vom Himmel, und plötzlich sprachen alle eine andere Sprache.
Nur jeweils ein Mann und eine Frau sprachen dieselbe Sprache. Doch mit den anderen konnten sie nicht mehr verständigen. Unter ihnen waren ein Mann und eine Frau, die Bisa (w) und Beisa (m) hießen. Sie sprachen die Sprache der Fayu.
Tagelang sind sie gelaufen, um ein neues Heim zu finden. Eines Tages kamen sie in den Urwald und es begann zu regnen. Es hörte nicht auf zu regnen, und das Wasser stieg immer höher. Bisa und Beisa bauten sich ein Kanu. Rücken na Rücken saßen sie in diesem Kanu und paddelten. In dem Kanu saßen auch viele Tiere, die ebenfalls dem Wasser entfliehen wollten.
"Regen, hör auf, Donner hör auf, wir haben Angst!" flehten Bisa und Beisa immer wieder. Doch der Regen hörte nicht auf. Das Wasser stieg, und bald waren alle Bäume verschwunden. Sie waren die einzigen, die noch da waren. Alle kamen in den Fluten um, nur Bisa und Beisa und die Tiere, die sie in ihrem Kanu hatten, waren noch am Leben. Nach vielen Tagen, als sie die Hoffnung schon fast aufgegeben hatten, stießen sie plötzlich auf Land. Sie stiegen mit den Tieren aus und befanden sich auf einem kleinen Hügel. Vor sich sahen sie den Eingang einer Höhle. Erleichtert krochen sie hinein und fanden den lang ersehnten Schutz.
Bald darauf hörte es auf zu regnen, und das Wasser ging zurück. Die Tiere kehrten in den Urwald zurück, dock Bisa und Beisa blieben in der Höhle und bauten sich ein Heim. Sie bekamen Kinder, die wiederum Kinder bekamen, bis sie zu einem großen Stamm herangewachsen waren - dem Stamm der Fayu.
Noch heute leben Bisa und Beisa in der Höhle. Jedoch nicht in menschlicher Gestakt. Sie haben sich verewigt, indem sie Rücken and Rücken sitzend zu Stein wurden. Und wenn wir ein Problem haben, gehen wir zu ihnen, setzen uns daneben und erzählen ihnen unsere Sorgen."
Erzählt von dem Fayu Krieger Kloru, 1988