10-12-2004
"Wie viel Vögel", von Franziska Gerstenberg
taz Magazin Nr. 7290 vom 21.2.2004, 127 Zeilen, JAN BRANDT
JAN BRANDT
Franziska
Gerstenberg: "Wie viel Vögel".
Erzählungen, Schöffling, Frankfurt am Main
2004, 230 Seiten, 18,90 Euro
Carlos Santana geht auf die Sonderschule. Er ist 16 Jahre alt, trägt einen Jogginganzug mit glänzenden Streifen und wird ziemlich schnell wütend. Natürlich handelt es sich hier nicht um den echten Carlos Santana, sondern um einen autistischen Jungen, der sich für den mexikanischen Musiker hält und ausflippt, wenn man ihn mit seinem bürgerlichen Namen Anton anspricht. Alles läuft prima, bis die Eltern mit Anton nach Ostdeutschland in eine Reihenhaushälfte ziehen und im Vorgarten ihren Grill aufbauen. Zunächst wird die grillfreundliche Jogginganzugfamilie argwöhnisch von der benachbarten grillfeindlichen beobachtet. Schon bald erkennen sie aber Gemeinsamkeiten: Die Väter streichen sich über ihre Schnurrbärte und die Mütter fachsimpeln über Hochsteckfrisuren und Kochrezepte. Abends tischen sie sich gegenseitig Schweinebraten und Bratwürste auf, machen auf Kulturaustausch und zelebrieren ihr Spießertum. Irgendwann hat Anton genug von der Verbrüderung zwischen Ost und West und haut ab. |
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Er wird nicht weit kommen, wie alle Figuren in Franziska Gerstenbergs Erzählband "Wie viel Vögel." Die Flüchtenden, die durch ihre Geschichten stolpern, können sich noch so sehr anstrengen, immer bleiben sie irgendwo stecken. Obwohl Anton der einzige offizielle Autist ist, wirkt das Personal leicht gestört. Sie heißen Jorinde und Konz, Marthe, Marianna und Merten, zeichnen sich durch eine starke Ichbezogenheit aus und scheinen mit ihren Gedanken immer woanders zu sein. Sie trennen sich von Freunden, Gewissheiten und überholten Lebensvorstellungen, ohne eine echte Alternative parat zu haben.
Anstatt ihre Probleme zu lösen, laufen sie davon: Sie steigen zu Fremden ins Auto, flüchten auf Kinderfahrrädern und versuchen unangenehmen Situationen zu entkommen, indem sie Luftgitarre spielen oder sich vom Fernsehen in andere Welten entführen lassen. Es sind Reisende ohne Ziel, immer auf der Suche nach einem großen Glück, das sie nicht artikulieren können. Und wenn sie doch einmal etwas sagen, dann Sachen wie: "Du erzählst gar nichts!", oder: "Ich kann es dir nicht erklären."
Franziska Gerstenberg, 1979 in Dresden geboren, hat am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig studiert und zwei Jahre lang als Redakteurin die Literaturzeitschrift Edit betreut. Ihre Geschichten sind in Anthologien wie "20 unter 30 - Junge deutsche Autoren" oder "Der wilde Osten" erschienen und mit mehreren Preisen und Stipendien ausgezeichnet worden. Sie ist das, was Jana Hensel ein "Zonenkind" genannt hat, jemand, der wenige Erinnerungen an die DDR hat, dafür aber umso mehr an die Zeit danach.
Subtil fängt sie das Lebensgefühl der Menschen ein, die in der neuen Freiheit auf alte Grenzen stoßen. Ihre Figuren wollen sich alle Möglichkeiten offen halten und trauen sich deshalb nicht, Bindungen einzugehen. Das ist gut und treffend beobachtet. Die märchenhaften Namen und die Sprachlosigkeit ihrer Figuren erzeugen mitunter aber auch eine Distanz. Manchmal möchte man die Darjas, Violettas und Bjarnes schütteln, dass wenigstens etwas aus ihnen herauskommt, ein paar Worte nur, die Klarheit schaffen, oder eine Regung, die sie menschlicher erscheinen lässt.
In jeder der 15 Erzählungen entwickelt Franziska Gerstenberg eine beklemmende, klaustrophobische Atmosphäre. Ihr Thema ist die soziale Enge, die Tyrannei der Intimität, die sich in unterschiedlichen Ausprägungen zeigt: Hecken werden zu Mauern, Wohnungen zu Gefängnissen, Stulpen zu schlanken Fesseln. Hinter einem scheinbar geordneten Alltag tun sich albtraumhafte Abgründe auf. Die Figuren haben Geheimnisse, die sich erst allmählich entfalten. Sie sind gehemmt, verdrängen ihre Trauer ebenso wie ihre Leidenschaften, bis sich die aufgestauten Gefühle gewaltsam entladen.
Beschrieben wird oft nur die Oberfläche. "Man sieht nicht hin, wenn etwas selbstverständlich ist", heißt es einmal. Franziska Gerstenberg versucht, mit einer verstörenden Präzision und Detailverliebtheit das Selbstverständliche wieder sichtbar zu machen. Und sie hat die richtige Stimmung gefunden, um die Brüche und Widersprüche ihrer Figuren authentisch darzustellen. Es sind kühle, sachliche Geschichten, die trotz mancher Komik ein Unbehagen provozieren und einen auch nach dem Lesen nicht zur Ruhe kommen lassen.
25. Februar 2004, 02:10, Neue Zürcher
Zeitung
Poetische Momentaufnahmen
Franziska Gerstenbergs exzellentes Erzähldébut
Franz Haas
Franziska Gerstenberg: Wie viel Vögel. Erzählungen. Schöffling-Verlag, Frankfurt am Main 2004. 230 S., Fr. 34.30.
Vielleicht sind die neuen deutschen Bundesländer doch nicht so heillos von der Ostalgie befallen, wie es im letzten «Merkur» diagnostiziert wird. Es gibt immerhin Autoren wie Wolfgang Hilbig und Reinhard Jirgl. Es gibt nicht nur die kuscheligen Erinnerungen der «Zonenkinder», das zartbittere Gedenken an das Leben «Am kürzeren Ende der Sonnenallee», die süss-saure Nostalgie nach Spreewaldgurken. Und es gibt zum Glück für die neue deutsche Literatur eine Generation, für die die Schrecken und Wonnen der DDR nicht mehr erstes Pflichtthema sind.
Franziska Gerstenberg, die 1979 in Dresden geboren wurde und in Leipzig und Hannover lebt, ist jung genug, um nicht einmal zu jener «Millenniumsgeneration» zu gehören, deren intellektueller Marktwert im letzten «Kursbuch» taxiert wird. Ihr Erzählungsband «Wie viel Vögel» ist ein exzellentes Début mit poetisch genauen Momentaufnahmen aus dem neuesten Deutschland, aus jenen dürftigen Lebenszonen, in denen die Grenzen zwischen Ost und West bereits verwischt sind.
Die Alltagsmisere ins Bild gesetzt
Die meisten Figuren in Franziska Gerstenbergs Erzählungen haben etwa dasselbe Alter wie die Autorin. Doch mitunter schlüpft sie gekonnt in eine andere Rolle, etwa in die des 14-jährigen Daniel, der über die Hecke hinweg die Ankunft der neuen Nachbarn im gemeinsamen Doppelhaus beobachtet. Diese haben einen italienischen Namen, kommen aber aus Wiesbaden, was in dem geographisch nicht näher bestimmten Kaff schon exotisch genug ist. Sie haben sogar einen Sohn, der nur wenig älter ist als der Ich-Erzähler, doch wird das kein rechter Spielgefährte. Der Neue heisst Anton, er sagt jedoch «Ich bin der Carlos, der Carlos Santana, der echte, der aus Mexiko!». Der Autismus des Knaben bringt die Familien einander näher, sie freunden sich an, in all ihrer kleinbürgerlichen Steifheit, die sowieso keine Zonengrenzen kennt.
Die Herkunft und der Wohnort dieser Figuren sind nie genau zu eruieren, denn in ihren sozialen Breiten ist die deutsche Wiedervereinigung perfekt gelungen, in der brüderlichen Verteilung der Lebensnöte. Überall zwischen Rhein und Oder könnte jener mickrige Wildpark sein, in dem eine junge Frau und ein Mann feiertags ihren Kummer spazieren führen. «Sie haben mir gestern gekündigt», sagt sie und meint, so «können wir doch jetzt ein Kind bekommen». Sie spinne, sagt er in diesem dürren Dialog, der überall in der global verunsicherten Welt zu hören sein könnte. Dieses Paar trägt seine private Tragödie in die Öffentlichkeit der Ausflügler, lautstark platzt das Unglück aus der jungen Frau: «Stellen Sie sich vor, sagt sie zu den Umstehenden, dieser Mann will kein Kind von mir.» Franziska Gerstenberg hat die menschlichen Antennen und das sprachliche Zeug, um die Alltagsmisere literarisch in beeindruckende Bilder zu fassen, die kurz vor dem Abgrund zu stehen kommen.
Diese Erzählungen reiten nicht auf der Welle des Hauptstadtbooms und sind vom Prenzlauer Berg so weit entfernt wie von jeglichem modischen Schnickschnack. Sie handeln vom tagtäglichen Strampeln um den Luxus einer kleinen Anstellung oder einer erwiderten Liebe. Ihre Protagonisten sind (wie die Autorin) zu jung, um in FDJ-seligen Erinnerungen schwelgen zu können, ihr Gedächtnis reicht gerade noch zurück zum Singen von «Frieden ist schön» im DDR-Kindergarten. In einer der Geschichten waren Vater und Mutter «schon kurz nach der Wende» in eine Partei eingetreten, egal in welche. Und zwei halbwüchsige Mädchen hatten damals gewettet, «wessen Eltern sich eher scheiden liessen». Nun hört man im Radio ein Geplapper, das keine Grenzen mehr kennt, auch keine Zonen des Anstands: Der Moderator fragt die kleine Nina aus Bochum, wo der Vater das Auto wasche. «Wir haben kein Auto, sagt Nina aus Bochum, und nach einer Weile fügt sie hinzu: Wir haben keinen Papa.» Das kleine Unglück ist grenzenlos gleich, von Aachen bis Zwickau.
Das brillante Kernstück dieser Sammlung ist die Erzählung «Gott ist gross». Da erzählt eine junge Frau in erster Person von ihrer provisorischen Arbeit in einer öffentlichen Suppenküche in einer anonymen deutschen Stadt, von ihrer vergeblichen Hoffnung auf einen fixen Platz als Praktikantin. Da diskutieren gestrandete Zwanzigjährige, ob ein fester Wohnsitz zu bürgerlich sei, aber «sie wussten noch nicht, wie kalt und zugig im Herbst die Bushaltestellen wurden». Die junge Frau sieht einen verwahrlosten alten Mann auf einer Parkbank, lädt ihn ein, in die Suppenanstalt zu kommen, zu essen und seine Kleider zu wechseln. Nur widerstrebend nimmt er die Barmherzigkeit an. Feierlich lobt er dann Gott und Jesus mitten im vulgären Getümmel der Elenden. Franziska Gerstenberg beschreibt das in einem fabelhaften Gleichgewicht zwischen moralischer Haltung und künstlerischer Gewandtheit, ganz ohne den Zungenschlag des Weihevollen, aber doch mit einem wachen Misstrauen gegenüber der Elterngeneration, deren Atheismus «etwas beängstigend Religiöses» hat.
Das Lebensgefühl einer Generation
Die jungen Leute in diesen Erzählungen sind meist gar nicht konventionell, aber ihr neues Deutschland tragen sie immer mit sich, auch wenn sie verreisen in einen mediterranen Süden, nach Frankreich oder Holland. Im Geschrei der Zikaden kann eine Protagonistin ihre Geliebte nicht vergessen, die nicht mitgekommen ist in die Ferien. Und in einem anderen Text ist ein junger Autostopper mit Herz und Kopf bei seinem daheim gebliebenen Freund, während er beim Camping freudlose Gesellschaft findet. Jener Frau werden die Hitze und die Zikaden zum Albtraum in der Fremde, unter «zwei Olivenbäumen, die eng umschlungen an einer staubigen Kreuzung stehen». Diesen Mann schaudert bei dem Gedanken, dass in demselben Zelt schon seine Eltern schliefen. «Auf Tramperurlauben durch Bulgarien und Rumänien, siebzig bis dreiundsiebzig, selbst wenn es wahr wäre, wäre es dreissig Jahre her.» Auch auf fremdem Terrain gelingen Franziska Gerstenberg leuchtende Bilder und funkelnde Wendungen, originelle Zeichen vom Lebensgefühl einer Generation - und von einem grossen Talent.
Artikel erschienen am 20. März 2004
Franziska Gerstenberg: Wie viel Vögel. Schöffling & Co., Frankfurt/M. 229 S., 18,90 EUR.
Vieles in diesem Buch ist wirklich außerordentlich schön und gelungen. Der Anfang der Geschichte "Glückskekse" zum Beispiel: "Marianna zu küssen war das eine. Marianna hatte einen blonden Zopf, dunkle Brauen und dunklen Flaum auf der Oberlippe. Ihr Körper war schwer und fest wie mit Puderzucker bestäubter Stollen."
Drei einfache Sätze, und sofort hat man als Leser nicht nur eine Figur vor Augen, blond und kräftig, mit Zopf und Flaum, sondern man glaubt den Körper dieses Mädchens unter den Händen zu spüren, verführerisch wie ein Kuchenleib zur Weihnachtszeit. Und als spannungssteigernde Zugabe klingt außerdem an, dass diese Geschichte von mehr handeln wird als von einer erotischen Begegnung: "Marianna zu küssen war das eine." Neben diesem einen muss man sich noch auf etwas anderes gefasst machen. Und die Erwartung trügt nicht.
Ein solcher Auftakt ist wirklich sehr schön, ist gekonnt, ist handwerklich perfekt. Franziska Gerstenberg, gerade mal 25 Jahre alt, legt ihr erstes Buch vor "Wie viel Vögel", einen Band mit 15 Erzählungen, doch keine der Geschichten wirkt wie die einer Anfängerin. Die Autorin weiß genau, was sie tut, sie ist nicht naiv, sie setzt ihre Mittel sehr bewusst und zielsicher ein. Ihre Geschichten sind immer klar und gut gebaut, schlank und durchdacht, und manchmal sind sie noch mehr als das: Manchmal entfalten sie, wie jene drei Anfangssätze, einen eigenen Zauber. Dann zieht man beim Lesen im Geiste den Hut vor Franziska Gerstenberg und beglückwünscht sie zu ihrem prächtigen Talent.
Sie erzählt fast ausschließlich von jungen, unsicheren, noch unfertigen Menschen. Von einem Paar beispielsweise, das drauf und dran ist, getrennte Wege zu gehen, sich zuvor aber noch eine Frist von fünf Tagen in Amsterdam gibt. Oder von zwei Freundinnen, die halb ängstlich, halb mitleidlos beobachten, wie die Ehen ihrer Eltern zu zerbröckeln beginnen, und die eine Wette abschließen, welche zuerst geschieden werden wird. Oder von einer zurückgezogen lebenden Frau, die gelegentlich mit den Handwerkern schläft, die in ihre Wohnung Rohre und Waschmaschinen reparieren, die aber mit ihrer Verführungskunst an jenem Handwerker scheitert, der sehr symbolträchtig ihre Wohnung zur Außenwelt hin aufbricht, um eine neue Tür zum Balkon einzusetzen.
Schon allein, weil sich Franziska Gerstenberg auf solche schwankenden, noch unentschiedenen Menschen konzentriert, wirkt die Welt in ihrem Buch wie durchdrungen von diffuser Unruhe und Ratlosigkeit. So etwas wird in Rezensionen gern als literarisches Psychogramm einer orientierungslosen Jugend hingestellt, als Porträt einer gefährdeten Generation. Doch die Erzählungen sind, was sehr sympathisch ist, viel bescheidener. Sie spüren einzelnen Menschen nach, nicht der Haltung ganzer Jahrgänge, Menschen, die sich an die ersten wichtigen Weggabelungen ihres Lebens herantasten, und die einfach noch nicht wissen, welche Richtung sie dort einschlagen werden.
Eine Schwäche scheint diese kühl und klug kalkulierende Autorin bislang noch zu haben: Ihre Geschichten sind nicht sonderlich stimmungsstark. Sie entwickeln bei aller Anschaulichkeit und Lebendigkeit wenig Atmosphäre. Es macht Spaß, sie zu lesen, aber es bleibt wenig von ihnen in Erinnerung, sie richten sich eher an den Verstand als an die Sinne. Doch dann stolpert man beim Lesen plötzlich wieder über einen dieser Sätze, bei dem einfach alles stimmt, einer wie die drei zu Anfang der Geschichte "Glückskekse", und man denkt, Hut ab, was für ein Talent, was für ein Versprechen.
Text: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24.03.2004, Nr. 71 / Seite L1
Franziska Gerstenberg
Der
Himmel über Leipzig ist nicht mehr geteilt
Von Hubert Spiegel
Franziska Gerstenberg: "Wie viel Vögel". Erzählungen. Verlag Schöffling & Co., Frankfurt am Main 2004. 230 S., geb., 18,90 [Euro].
23. März 2004 Leipzig,
so weiß man nach der Lektüre dieses Buches, ist eine Stadt mitten in
Deutschland. Der Unterschied zwischen den alten und den neuen Bundesländern, den
seit der Wende zahllose literarische Werke beschrieben und vermessen, verflucht
und beschworen haben, spielt in Franziska Gerstenbergs erstem Erzählungsband
keine Rolle mehr. Das liegt weniger daran, dass diese Autorin in Leipzig gelebt
und studiert hat, sondern hängt vor allem mit dem Zeitpunkt ihrer Geburt
zusammen. Als die DDR in sich zusammenstürzte, war Franziska Gerstenberg zehn
Jahre alt: zu jung, um zu verstehen, was vor sich ging, aber alt genug, um es zu
erahnen. Alt genug, um den Unterschied zwischen Ost und West zu kennen, aber zu
jung, um ihn als ewige Bürde mit in die Zukunft schleppen zu müssen. Während
vielen Älteren das Jahr 1989 heute erscheinen mag, als wäre es erst gestern
gewesen, meldet sich hier die Vertreterin einer neuen literarischen Generation
zu Wort. Wenn 1989 erst gestern war, dann waren die Angehörigen dieser
Generation gestern noch Kinder.
Die meisten
Figuren in den fünfzehn Geschichten, die dieser Band versammelt, haben ungefähr
das Alter der Erzählerin, aber einige sind auch deutlich jünger. Daniel etwa,
vierzehnjähriges Einzelkind, bewohnt mit seinen Eltern eine Doppelhaushälfte,
deren Gegenstück lange Zeit unbewohnt war. Die Lage an der Hauptstraße sei
schuld am Leerstand, sagt die Mutter und deutet auf den Garten, in dem blasse
Salatköpfe wachsen, deren Blätter nach Benzin schmecken. Der Vater hält die
fehlende Garage für ausschlaggebend. Irgendwann muss sich das Fehlen der Nachbarn
als sozialer Makel bemerkbar gemacht haben, und mit kleinsten Andeutungen gibt
Franziska Gerstenberg zu verstehen, dass es nicht der einzige war, der dieser
Familie zu schaffen macht. Jetzt ziehen endlich neue Nachbarn ein, Menschen mit
italienisch klingendem Namen aus einem fernen Ort namens Wiesbaden. Das
Seltsamste aber an den Donellas ist ihr Sohn Anton, ein großer, reichlich
ungeschlachter Junge in Daniels Alter, der beim Grillen Brot und Gemüse links
liegenläßt und lieber Fleischberge vertilgt. Anton ist ausgesprochen wortkarg,
nur ab und zu macht er überhaupt den Mund auf: "Ich bin der Carlos, sagt er dann
laut und mit Nachdruck, der Carlos Santana bin ich. Er schwingt sein weißes
Taschentuch, bevor er hinzufügt: Der echte, der aus Mexiko!"
Wie Anton sind die meisten
Figuren in diesem Buch nicht ganz von dieser Welt. Oder besser gesagt: Sie leben
mehr oder weniger eingesponnen in ihren Mikrokosmos. Die zwanzigjährige
Praktikantin, die in der Suppenküche für Obdachlose arbeitet, die grobknochige
Schwester der kleinen Ballerina, die heimlich Ballettunterricht nimmt, obwohl
sie zu alt und zu schwer dafür ist, die siebzehnjährige Lisa, die sich im Chaos
ihres Kinderzimmers vor dem Gefühlschaos in ihrem Inneren versteckt oder die nur
wenig ältere Hannah, die sich fast alles vorzustellen vermag, aber im Lexikon
unter dem Stichwort "Realismus" nachschlagen muß, wenn sie wissen will, worin
eigentlich der Unterschied zwischen Imagination und Wirklichkeit besteht - sie
alle sind Geschwister jenes geistig behinderten Anton Donella, der auf einem
gestohlenen Kinderfahrrad ausbüxt und sich auch den Polizisten, die ihn
aufgreifen, als Carlos Santana vorstellt, der echte, der aus Mexiko.
Auch Daniel, der mit dem
Opernglas seines Großvaters am Fenster die Nachbarn beobachtet, fühlt sich Anton
viel näher, als seine Eltern ahnen: "Ich ziehe die Schuhe aus und laufe durchs
Grünkohlbeet. Wenn sich meine Zehen in die feuchte Erde eingraben, entstehen
schmatzende Geräusche. Vielleicht stehen Vater und Mutter am Fenster und sehen
auf mich herunter. Dann wird Vater fragen, woran es liegt, daß ich keine Freunde
habe. Ich trete einen Strunk Grünkohl um, ohne den Blick zu heben, aber das
Fenster bleibt geschlossen. Ich überlege, was geschieht, wenn ich so, mit diesen
Füßen, zu Vater und Mutter hinaufgehe und ihnen sage, daß Anton Donella mein
bester Freund ist. Ich könnte sagen: Ich gehe ihn suchen. Ich könnte den
Stadtplan mitnehmen oder Vaters Kompaß. Ohne Anton Donella, könnte ich sagen,
komme ich nicht zurück."
Daniel
bricht nicht auf, um seinen Freund zu suchen. Er bleibt, wenn man so will, mit
beiden Füßen im Grünkohl stecken. Der Ausbruchsversuch ist nur ein
Gedankenexperiment, das in der Wirklichkeit keine größeren Folgen als einen
trotzig, ängstlich, mißmutig zertretenen Grünkohlstrunk. Wenn Daniel älter sein
wird, zwischen zwanzig und fünfundzwanzig vielleicht, wird er wohl ebensooft und
leichthin aufbrechen und reisen wie die anderen Figuren dieses Bandes. Oft sind
sie allein unterwegs, wie etwa der Tramper, der sich einem trostlosen Trio
anschließt, aber in Gedanken ganz bei seinem daheimgebliebenen Freund ist, oder
die Urlauberin aus der Stadt, die eine Affäre mit der Bauerstochter beginnt.
Munter wird
hier die Geschlechteridentität gewechselt, ohne daß der Frage, ob die
Ich-Erzählerin nun gerade mit einem Mann oder mit einer Frau unglücklich ist,
allzu großes Gewicht zukäme. Franziska Gerstenberg schlüpft aus Neugierde und
Experimentierlust in verschiedene Erzählerfiguren, und deutlich ist zu sehen,
daß sich hier eine junge Autorin erprobt und Perspektiven testet. Wo andere
Debütanten gern ihre Muskeln spielen lassen, tastet sich Franziska Gerstenberg
vorsichtig voran, zart beinahe und doch zielgerichtet, kontrolliert und
reflektiert. So entgeht die Fünfundzwanzigjährige jener Falle, in die in den
letzten Jahren so viele junge deutsche Autoren mit ihren Erzählungsbänden
tappten. Denn allzuoft entstand durch die monoton gehandhabte Ich-Perspektive
der Eindruck vor allem autobiographisch geprägten Erzählens, der den vom
sogenannten "Fräuleinwunder" geprägten Jugendwahn des Literaturbetriebs bald in
den Generationsüberdruß münden ließ.
Die
Situation hat sich grundlegend geändert: Während vor drei, vier Jahren
Erstlingswerke wie Meisterwerke gehandelt und auch bezahlt wurden, erfolgt der
Einstieg in den Literaturbetrieb nun unter dramatisch verschlechterten
Bedingungen. Das liegt nicht nur an der schwierigen ökonomischen Lage der
Buchbranche, sondern hat sicherlich auch mit der Beliebigkeit zu tun, mit der
junge Autoren in die Verlagsprogramme gehievt wurden. Jetzt droht das Pendel zur
anderen Seite auszuschlagen, und die Gefahr ist groß, daß junge Talente wie
Franziska Gerstenberg der allgemeinen Debütantenmüdigkeit zum Opfer fallen.
Aber, so könnte man fragen, was wäre daran eigentlich so schlimm?
Um
Mißverständnissen vorzubeugen: Jugend ist keine literarkritische Kategorie, und
Junggenies wie Büchner oder Trakl sind zur Zeit nicht in Sicht. Aber in einer
Gesellschaft, die einerseits die Jugend mit ungeheurem Aufwand künstlich bis zur
Pensionsgrenze zu verlängern versucht und andererseits keine klare Vorstellung
mehr davon besitzt, was Kindheit bedeutet, die einerseits ihren Nachwuchs nicht
früh genug in einen oft gnadenlosen Erwerbs- und Verwertungsprozeß jagen kann
und andererseits das lebenslange Bürgerrecht auf Infantilität kodifiziert, die
einerseits kaum Fünfzigjährige aus dem Berufsleben zu verbannen trachtet und
andererseits gebannt die Memoiren knapp Dreißigjähriger verfolgt - kurzum, in
einer Gesellschaft, die zu den Komplexen Jugend und Alter ein so offenkundig bis
ins Mark gestörtes Verhältnis hat, muß sich die Literaturkritik - unabhängig von
allen Trends und Konjunkturen - das Interesse an jungen Autoren bewahren. Denn
das Beispiel Franziska Gerstenbergs zeigt, daß es Perspektiven auf unsere
Gesellschaft gibt, wie sie nur von jungen Autoren eingenommen werden können.
Für viele
Ältere im Land ist die Wiedervereinigung welthistorischer Glücksfall,
unvermeidliche Geschichtskorrektur oder wirtschaftspolitisches Desaster. Wie
auch immer die Wiedervereinigung empfunden werden mag, in jedem Fall markiert
sie eine oft unverhoffte, fast immer unerwartete Zäsur. Jana Hensel und jetzt
auch Peter Richter, drei und sechs Jahre älter als Franziska Gerstenberg, haben
in ihren literarischen Sachbüchern "Zonenkinder" und "Blühende Landschaften"
ebenjene Zäsur zum Thema gemacht: Die eine Hälfte ihres jungen Lebens
verbrachten sie in der DDR, die andere im wiedervereinigten Deutschland. Deshalb
ist ihnen, kaum dreißigjährig, die eigene Existenz bereits historisch geworden.
Franziska Gerstenberg siedelt ihre Erzählungen an Orten an, die weder dem
westlichen noch dem östlichen Teil des Landes eindeutig zugeordnet werden
können. Sie hat einen anderen Weg gewählt, und es mag sein, daß der
Altersunterschied von wenigen Jahren zu dieser Entscheidung nicht wenig
beigetragen hat.
Für die
Generation der kaum mehr als Zwanzigjährigen ist das wiedervereinigte
Deutschland der Normalfall. Sie blicken heute auf die DDR zurück, wie ein
Fünfundzwanzigjähriger 1960 auf das "Dritte Reich" zurückgeblickt haben mag. Sie
bilden die erste Generation, die einen von der früheren Teilung nahezu
unberührten Blick auf das heutige Deutschland haben kann. Gleichzeitig war diese
Generation jedoch völlig anderen Einflüssen ausgesetzt als ihre Vorgänger. Die
Ölkrise und die wachsenden ökologischen Probleme trugen in den siebziger Jahren
wesentlich dazu bei, daß die Grünen Züge einer überparteilichen Jugendbewegung
annehmen konnten. Wer 1980 zwanzig Jahre alt war, mußte seine gesamte
Teenagerzeit über das Wort vom Waldsterben wie einen basso continuo hören. Den
heute Zwanzigjährigen dröhnt der Schädel von der Rentenreform, der Altersarmut,
den ökonomischen Folgekosten der deutschen Einheit, Begriffen, die wie ein
Tinnitus im Ohr sitzen. Ganz zu schweigen vom 11. September.
Franziska
Gerstenbergs Erzählung "Glückskekse" erzählt von einem Urlaubsabenteuer zwischen
zwei Frauen, der sechzehnjährigen Marianna, die auf dem Urlauberbauernhof ihres
Vaters als Köchin und Zimmermädchen arbeiten muß, und der deutlich älteren
Erzählerin. Beide sind in einer gegenläufigen Fluchtbewegung begriffen. Die
Erzählerin flieht in die Abgeschiedenheit, Marianna sieht in der Urlauberin die
Chance, der dörflichen Enge und dem verhaßten autoritären Vater zu entfliehen.
Als die Dörfler von der Affäre erfahren, ist es nur noch eine Frage der Zeit,
bis auch der Vater dahinterkommt. Die Katastrophe scheint unausweichlich. Aber
sie kommt anders als gedacht: "Sie sah zum Bildschirm, öffnete und schloß den
Mund, ihre Zähne glänzten weiß. Irgendwo schlug eine Uhr, und plötzlich dachte
ich, Marianna ist häßlich, ein häßlicher Fisch, ihr Mund ging auf und zu.
Vielleicht lag es am flackernden Fernsehlicht, an den Menschen, die sechstausend
Kilometer von uns aus geborstenen Fenstern sprangen, vom Wind durch die Luft
getrieben wurden wie Fetzen von Zeitungspapier, oder daran, daß Marianna, als
sie nach langer Zeit sprach, nur ein einziges Wort sagte: Cool."
Danach zerrt
der Vater, verstört und außer sich, die Tochter aus dem Zimmer, Türen schlagen,
Stimmen überschlagen sich, und die Erzählerin muß es mit keinem Wort mehr
aussprechen, daß ihr erotisches Abenteuer nun vorüber ist: "Sie zeigten die
Aufnahmen in einer Endlosschleife, die professionellen und auch die
Amateurvideos, spielten dazu getragene Musik, ich drehte den Ton ab, blieb aber
sitzen. Vielleicht kochte Marianna das Abendessen, sie hatte von gebratener
Entenkeule gesprochen, obwohl das ein Sonntagsgericht war." Der letzte Satz der
Erzählung gilt einem Blick in den Himmel: "Immerhin hatte es aufgehört zu
regnen."
Von allen
Wörtern, die mit "Himmel" beginnen, interessiert Franziska Gerstenberg wohl
jenes am wenigsten, das mit "Richtung" endet. Der Himmel ist nicht mehr geteilt
über Leipzig, der Stadt irgendwo in Deutschland: Er ist grau, soweit das Auge
reicht. Grau, so weiß man nach der Lektüre dieses Buches, ist eine Farbe, die in
vielen Facetten zu schillern vermag.
Datum: 14.03.2004, 23:19 Uhr
Unerträgliche Leichtigkeit des Jungseins
In Franziska Gerstenbergs Debüt wird wenig gehandelt und viel geredet - meist jedoch aneinander vorbei.
Mascha Kurtz
Franziska Gerstenberg: Wie viel Vögel. Erzählungen. Schöffling & Co. 2004. 232 Seiten. 18,90 Euro. ISBN 3-89561-340-1
Gernot will kein Baby von Ulrike; Kristiane, Horn, Desirée und Marcel spielen "Tat oder Wahrheit" im Haus am Meer; Kirsten geht mit Mark schwimmen, um etwas über ihre frühere Freundin Leonie zu erfahren; Jorinde und Konz fahren nach Amsterdam, wo ihnen das Auto aufgebrochen wird und eine Hure ihnen zulächelt: Die junge Leipziger Autorin Franziska Gerstenberg erzählt in ihrem Debüt kurze Geschichten von Leuten, die noch nicht wissen, wer sie sind, welches Leben sie führen wollen und wie die Zukunft aussehen wird; Momentaufnahmen von teils alltäglichen, teils entscheidenden Ereignissen. Doch selbst das Entscheidende verbirgt sich bei Gerstenberg unter einer Schicht aus Alltäglichkeit: Gernots und Ulrikes Trennung geschieht nahezu nebenbei während eines Besuchs im Wildpark, wobei das Fressverhalten der Otter wesentlich ausführlicher geschildert wird als die Kluft, die sich zwischen dem Paar auf der anderen Seite des Gitters auftut: Alles, was Gerstenberg beschreibt, steht für das, was ungesagt bleibt. Das kann in Belanglosigkeit abrutschen; Gerstenberg kriegt nicht immer die Kurve. Dann klingt alles ungeheuer bedeutungsschwanger, wirken die kleinsten Gesten folgenschwer - aber dann passiert meist nichts, und beim Leser keimt der Verdacht, dass alles vielleicht einfach doch irgendwie nichts bedeutet hat.
Leipziger Institutsschreibe
Auch die Figuren sind kaum zu fassen; es fällt schwer, sich vorzustellen, dass sie über den Text hinaus weiterleben könnten. Die Autorin benutzt sie für die Dauer einer Erzählung, schiebt sie herum und packt sie wieder in den Schrank, bevor sie Konturen entwickelt haben. Junge Menschen, meist Anfang Zwanzig, für die noch jedes Missverständnis, jede Blamage, jeder Geschlechtsverkehr ein gewichtiges Erlebnis bedeutet. Sie scheinen alle derselben Clique anzugehören, so sehr gleichen sie sich in Sprache und Gewohnheiten.
Erzählt wird mal aus männlicher, mal aus weiblicher Perspektive; angenehm fällt auf, dass nicht alle Texte aus der Sicht eines erzählerischen Ich geschrieben sind. Wenn die 25-jährige Autorin in die Haut eines männlichen Erzählers zu schlüpfen versucht, wirkt das allerdings nicht immer glaubwürdig. Gerstenbergs Sprache ist dabei stets knapp, auch in den vielen Beschreibungen von alltäglichen Details. Ihre Dozenten am Leipziger Literaturinstitut haben ganze Arbeit geleistet. Neben Veröffentlichungen ihrer Kommilitoninnen betrachtet, scheint es tatsächlich, als bilde sich eine "Institutsschreibe" heraus, die vom jeweiligen Autor mit einer Prise persönlichen Stils ergänzt wird: Blitzlichter auf das private Leben von Leuten, die jenseits ihrer Gruppe in keine sozialen Zusammenhänge eingebunden sind. Eben die unerträgliche Leichtigkeit des Jungseins.
Papierdasein der Protagonisten
Kein Zweifel: Gerstenberg hat ihre Judith Hermann, ihre Ricarda Junge gründlich studiert. Die Rudel selbst gewählter Ersatzfamilien in urbaner Atmosphäre, die seltsam zufällig wirkenden Freundschaften gibt es auch bei ihr: auf einer Party, in einem Ferienhaus oder auf dem Campingplatz. Es wird viel geredet, wenig gehandelt. Dass sich ein Mädchen wegen einer Wette die roten Prachtlocken abschneidet, gerinnt zum stärksten Ausdruck des verschwommenen Wunsches, jemand Besonderes zu sein, etwas Bedeutungsvolles geschehen zu lassen. Noch wichtiger ist Gerstenberg aber die Paarbeziehung. Immer wieder Trennungen und die Unmöglichkeit, vom anderen verstanden zu werden. Doch ebenso wenig, wie die Figuren wirklich unter dem Abgrund zwischen sich und den anderen zu leiden scheinen, fühlt der Leser mit ihnen. Auch wenn man diesen Menschen wünschen würde, sie könnten die Kraft aufbringen, nicht alles mit sich geschehen zu lassen: Fast freut man sich für sie - denn etwas Schlimmeres wird ihnen in ihrem kurzen Papierdasein garantiert nicht zustoßen.
Berliner Zeitung
Donnerstag, 10. Juni 2004
Stilsichere Verpuppungen
Franziska Gerstenberg: Wie viel Vögel. Schöffling & Co, Frankfurt am Main 2004. 229 S., 18,90 Euro.
In ihrem Debüt erzählt die fünfundzwanzigjährige Franziska Gerstenberg von Männern und Frauen, die ganz in ihre eigenen Erlebniswelten eingesponnen sind. Routiniert und stilsicher beschreibt sie diese Verpuppungen. Wer sich in den Hüllen verbirgt, erfährt der Leser allerdings nicht. Zwar werden ab und zu Entpuppungsversuche mit viel Tamtam angekündigt - Schüsse fallen, Polizei ist unterwegs und zwei Türme stürzen ein - doch Falter flattern auch danach nicht durch die Zeilen. Da wird zum Beispiel von einer Frau erzählt, die sich in ein Haus am Meer geflüchtet hat und ihren Geliebten verliert, weil sie sich die langen Haare abschneidet. Bei einer anderen mischt sich die Weltgeschichte in ihre Zweisamkeit ein, die auch ohne dieses Ereignis keine Zukunft hatte.
Franziska Gerstenbergs Stärken und Schwächen liegen in ihrer Beobachtungsgabe. Ihre Figuren sind allesamt empfindsame Naturen, deren Blick stets bedeutungsvoll auf ihre Umwelt fällt. Über eine Frau, deren Leben nicht stimmig ist, heißt es etwa: "Nicht zum ersten Mal hatte ich das Gefühl, dass sie ihre Haare trug wie ein Kleidungsstück, sie saßen fremd und falsch auf ihrem Kopf". Die Intensität jedoch, mit der hier auf die Risse im Leben anderer geschaut wird, ist der Größe dieser Risse nicht angemessen. Es ist eine Schwere, die weder in der Psychologie der Figuren noch in der Szenerie der Erzählung selbst begründet liegt. So will alles mehr scheinen, als es ist. Und weil die Schwere herbei geheimnist wird, tastet sich der Leser vorsichtig durch dieses Buch, in jeder dieser Verpuppungen etwas vermutend, das plötzlich schlüpfen und ihn mit unerwarteter Gestalt erschrecken könnte. Glücklicherweise vermag am Ende das Lachen über einen Witz, mit dem der Erzählband schließt, die angespannte Erwartung zu lösen.
29. Juni 2004