10-8-2003
Maries Reise, von Marie Pohl
DER TAGESSPIEGEL
18-08-2002
Rätselhafte Generation: Am Montag wird die neue Shell-Studie vorgestellt – über die Jugend von heute. Marie Pohl ist eine ungewöhnliche Expertin. Sie ist in dieser Sache einmal um die Welt gereist. Interview: Barbara Nolte; Foto: Bernd Hartung
Frau Pohl, wie geht
es Ihnen? |
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Wir möchten uns mit
Ihnen über Ihre Generation unterhalten, Frau Pohl. Am Montag wird die
Shell-Studie vorgestellt, die alle paar Jahre die Jugend in Deutschland
erforscht. Sie haben ein Buch über die 20-Jährigen auf der ganzen Welt
geschrieben: „Maries Reise“, das gerade erschienen ist. Sie haben acht Städte
bereist, unter anderem Buenos Aires, San Francisco, Hanoi.
Ich
mag das Wort Generation nicht. Wir sind doch heute nicht mehr so eng miteinander
verbunden wie unsere Eltern, die 68er. Ich kann nur für mich und meine Bekannten
reden.
Auf Ihrem
Buchdeckel schreiben Sie: „Ich suche: die interessantesten Personen meiner
Generation.“
Das ist auch ein Tick ironisch gedacht. Ich meine: Was ist das für eine
Generation, die man erst suchen gehen muss. Der Satz ist auch ein Kommentar zu
dieser Zeit, in der die Suche so eine große Rolle spielt, dieses: Wer sind wir,
wie definieren wir uns? Ich wollte nicht noch ein Generationenbuch schreiben,
sondern Geschichten schreiben über Leute, die so alt sind wie ich. Um auf den
Anfang zurückzukommen: Es ist Unsinn, dass unsere Generation mit der Welt nicht
klarkommt. Und ich würde auch nicht sagen, dass es bei uns keine Konventionen
mehr gibt.
In den
Zeitungsartikeln steht sinngemäß, dass Jugendliche heute derart hohe Ansprüche
an sich und ihr Leben haben, die sich nicht erfüllen lassen.
In New York habe ich erlebt, dass viele nicht genau wissen, was sie mit ihrem
Leben anfangen sollen. Sie sind fertig mit dem College, da waren sie von 18 bis
22 so richtig eingebettet. Sie haben sich benommen wie Kinder, weil es Lehrer
gab, die ihnen gesagt haben: Ihr müsst das und das tun – das haben sie genau
nicht gemacht. Nun sind sie in die Welt geschubst worden und denken: Oh Gott,
ich muss mich beweisen als Künstler, ich muss mich beweisen als Arzt, ich muss
mich beweisen als Anwalt! Die fühlen sich ziemlich unter Druck.
Früher haben Eltern
immer gewarnt: Werde nie Lehrer, dann wirst du arbeitslos. Wovor warnen sie
heute?
Ich habe das Gefühl, sie raten einem von allem ab: Werde nie Anwalt, alle wollen
Anwalt werden. Werde nie Journalistin oder Fotografin, weil die Medienwelt im
Moment total kaputt ist. Werde niemals Schauspielerin, niemals Musiker, niemals
Architekt…
Der Stress fängt
mit dem Collegeabschluss an?
In Amerika viel früher. Viele sind schon ab der neunten Klasse damit
beschäftigt, sich lauter Hobbys zuzulegen, die gut auf der Bewerbung aussehen,
die sie für irgendein Elite-College einschicken: Klavierspielen, Aids-Walk
organisieren. Dort fängt’s schon mit 16 an, dass man nicht mehr macht, worauf
man Bock hat.
Sie haben mit 16
den ersten Kurzfilm gedreht, mit 18 arbeiteten sie als Assistentin bei
renommierten Regisseuren, jetzt ist Ihr erstes Buch „Maries Reise“ erschienen.
Deutsch, Spanisch, Englisch können Sie perfekt. Ihr Lebenslauf liest sich auch
sehr…
…Moment, dass ich gut Englisch kann liegt daran, dass meine Eltern mit mir nach
New York gezogen sind, als ich 13 war. Den Kurzfilm habe ich in der Schule
gemacht, mich hat es gereizt, eine Geschichte zu erzählen. Nach dem Abitur bin
ich nach Spanien gezogen, weil ich Spanisch lernen wollte. Ich habe immer nur
gemacht, worauf ich Lust hatte, wirklich!
Dann sind Sie ein
sehr konstruktiver Mensch.
Ja, sehr. Ich bin aber auch manchmal orientierungslos, ich bin auf der Suche wie
viele aus meiner Generation: Wo will ich leben? Wie kann ich meine vielen
Interessen verbinden? Aber ich wusste immer: Ich will Geschichten erzählen, mit
Worten oder Bildern, ich will diese Reise machen. Vielleicht erwischt einen dann
die Orientierungslosigkeit nicht ganz so heftig.
Auf der ersten
Station Ihrer Reise, in Havanna, haben Sie sich gleich verliebt. Sie sind
trotzdem weitergereist…
Ja, für die Reise, für das Buch. Ich bin zwar damals weitergezogen, aber ich
habe die Liebe nicht aufgegeben.
Sie sind in jeder
Stadt einen Monat geblieben: Leute finden, kennen lernen, über sie schreiben.
Klingt stressig.
Ein Monat war o.k. Ich hatte mein Exposé erst dem „Spiegel“ geschickt. Die haben
gesagt: „Tolle Idee. Geht das nicht auch in acht Wochen?“ Ging natürlich nicht.
Mein Verlag und der „Stern“ haben sich zum Glück auf meine Bedingungen
eingelassen.
Ist immer alles
glatt gelaufen?
Nein, in Israel ist die große Panne passiert. Dazu muss man wissen, dass in jede
Stadt in der letzten Woche ein Fotograf kam, um meine Protagonisten zu
fotografieren. In Israel ist es passiert: Er kam – ich hatte keine Geschichte.
Das heißt, ich wollte über drei Kiffer schreiben, mit denen ich die meiste Zeit
verbracht hatte. Die fuhren in die Berge bei Jerusalem, um beim Sonnenaufgang
eine Tüte zu rauchen. Als der Fotograf das hörte, sagte er: Marie, das geht
nicht, ich brauche plakative Bilder, Soldaten oder so was – keine Kiffer. Zum
Glück habe ich am letzten Tag dieses Siedlermädchen gefunden, und ihre
Geschichte ist die beste Reportage des Buches geworden.
Der Leiter der
neuen Shell-Studie Klaus Hurrelmann hält die Mädchen heute für ehrgeizig: Sie
verfolgten einen klaren Lebensplan, der sich ganz nach ihren Bedürfnissen
ausrichtet. Erkennen Sie sich darin wieder?
Ich
kann nur sagen, dass ich ein Ziel habe, das ich bis 30 erreicht haben möchte.
Ich möchte nicht sagen was, ich bin da ein bisschen abergläubig.
Hurrelmann sagt sogar: „Bei vielen Mädchen kann man schon von Rollentausch
sprechen. Sie haben eine Mentalität, wie man sie früher nur von Männern kannte.“
Also ich lerne immer mehr Mädchen kennen, die mir sagen: Ich möchte gerne eine
Familie gründen, ich möchte gerne Mutter sein.
Nicht wahr!
Doch. Ich kenne wirklich viele Leute, die sagen, ich hab’ Bock darauf, ich will
einfach nur heiraten und meine Kinder großziehen. Die denken aber gleichzeitig,
so ein Lebensplan sei etwas Schlechtes. Die sagen mir: Wenn einer auf einer
Party fragt: Was ist Dein Job? Da kann ich doch nicht sagen: Hausfrau! Ich sage
denen dann immer: Mach’ das doch!
Dann hat der
Feminismus das Gegenteil erreicht, was er wollte.
Gut, dass Sie das ansprechen. Ich bin total gegen Feminismus.
Ja?
Ich finde, es ist mitterweile ein Punkt gekommen, wo das Gleichheitsideal alles
ist. Ich mag es, wenn Frauen weiblich und Männer männlich sind. In Deutschland
sterben die Gentlemen aus.
Auf Ihrer Reise müssen Sie doch erlebt haben, dass man es als Frau in Ländern,
in denen es keine starke Frauenbewegung gab, viel schwerer hat?
Sicher war es auf meiner Reise manchmal schwierig. Es ist in manchen Situationen
immer schwierig als Frau mit bestimmten Männern, besonders wenn man einen großen
Busen hat. Aber ich bezweifele stark, dass das jemals irgendeine Bewegung
wegkriegt.
In dem Bestseller
„Generation Golf“ konstituiert sich die Generation durch Fernsehsendungen und
Marken: Sehr viele Deutsche, die heute um die 30 sind, haben zum Beispiel
„Wetten, dass…?“ gesehen, hatten einen Füller von Geha oder Pelikan. Was ist das
Verbindende bei den heute 20-Jährigen?
Vielleicht das Reisen? Wir reisen heute anders, als unsere Eltern das getan
haben. Wir können leichter in anderen Ländern leben und arbeiten. Durch Internet
und Globalisierung sind wir in diesem Sinne vielleicht freier, weltoffener. Es
gibt internationale Stipendien, viele 20-Jährige sprechen zwei Sprachen sehr
gut, das öffnet ganz andere Türen.
Gibt es einen Film,
einen Star, der alle begeistert?
Lassen Sie mich kurz überlegen: „Pulp Fiction“. Und „Dirty Dancing“ – für die
Mädchen. Über „Dirty Dancing“ kann ich mich mit Mädchen aus der ganzen Welt
unterhalten. Ich liebe diesen Film. Und ich bin bereit, ihn vor allen Jungs zu
verteidigen, die mich dafür verdammen werden.
„Dirty Dancing“ ist
von 1987.
Ich „Dirty Dancing“ gesehen, als er gerade raus kam. Ich war damals acht.
Und bei Musik: Noch
immer Techno?
Für mich ist es HipHop und Reggae, obwohl ich zugeben muss, dass ich Oldies höre
und spanische Musik, Zigeunermusik. Vielleicht ist das ja das Prinzip unserer
Generation: Mischmasch – wir suchen uns überall etwas zusammen und machen etwas
Eigenes draus.
Haben Sie sich bei
Ihrer Reise irgendwo auf der Welt fremd gefühlt?
In Vietnam. Dort herrscht eine andere Welt. Diese Hitze! Jeans zu tragen, war
ein Albtraum. Ich habe mir einen Schlafanzug gekauft, den ich immer anhatte. Die
Sprache war eine Barriere, selbst die Leute, die Englisch sprachen, habe ich
nicht wirklich verstanden. Es ist ein anderes Denken, komplett. Auch die
Hauptfigur meiner Geschichte, Vy, führte ein ganz anderes Leben als ich. Seine
Eltern haben alles vorgeplant: Er wird später den Laden seines Vater übernehmen,
er wird das Mädchen heiraten, das ihm seine Eltern ausgesucht haben, er wird mit
ihr bei seinen Eltern leben. Ihn stört das nicht, er sucht sich seine kleinen
Fluchten, illegale Mopedrennen, an denen er teilnimmt.
Und Ihre Eltern?
Lassen mich machen. Das geht vielen meiner Freunde nicht anders.
Klingt
beneidenswert.
Nur: Man macht sich auf einmal selber den ganzen Druck. Wenn man mal drei Wochen
lang nur auf der Couch rumhängt, hat man ein schlechtes Gewissen.
Kinder, die nicht
richtig jung sind. Eltern, die nicht älter werden wollen. Die Unterschiede
zwischen den Generationen scheinen zu verschwinden: Mütter und Töchter tragen
oft dieselbe Kleidung und hören dieselbe Musik.
Bei der Musik stimmt das. Neulich hat meine Schwester HipHop angemacht, ein Lied
von Biggy, dem Gangster-Rapper, und plötzlich fand das mein Vater toll.
Ihr Vater Klaus
Pohl ist ein renommierter Dramatiker.
Ja, das gibt mir einen Ansporn, genauso renommiert oder noch besser zu werden
als er. Er ist ja auch Schauspieler. Ich würde gerne Schauspielerin werden.
Den
Generationenkonflikt lasst Ihr einfach ausfallen?
Es gibt ihn in vielen Familien nicht mehr. Viele bewundern ihre Eltern. Sie
denken: Wenn man es schafft, mal so zu leben wie sie, hat man einiges erreicht.
Eine Figur in Ihrem
Buch beklagt, dass es keine Dramen gab, dass Ihre Eltern immer für alles
Verständnis hatten.
Was meine Eltern betrifft, kann ich nur sagen, dass es trotz allem Verständnis
oft gekracht hat. Aber auf andere Art als bei meiner Mutter. Die war mit 20 im
Gefängnis. Sie hat in Ost-Berlin gelebt und gegen das Ende des Prager Frühlings
demonstriert. Das ist schon mal eine Aktion. Ihre Eltern fanden das bestimmt
nicht toll. Wenn ich rebellieren würde, würde ich das mit meinen Eltern bestimmt
auch noch absprechen.
Wird, wer so eine
sorgenfreie Kindheit hatte, auch zum glücklichen Menschen?
Ich glaube, das hängt von dem Menschen ab. Ich bin glücklich. Aber ich kenne
auch Leute, die mit 20 ziemlich kaputt sind, die haben sich selbst
kaputtgemacht, ja kaputtgedacht. Vielleicht, weil sie keine wirklichen Probleme
haben, machen sie alles zum Problem: Dass sie einen Vaterkomplex haben oder
einen Mutterkomplex. Alles wird heute zum Komplex: Dicksein, Dünnsein, die
Männer, die sie haben oder nicht haben.
Hatten Sie den
Eindruck, dass 20-Jährige anderswo auf der Welt mehr Talent zum Glücklichsein
haben?
In Finnland hatte ich wenigstens das Gefühl, dass sie wissen, wie man glücklich
sein kann. Die tanzen auf ihren Partys so wild, sind von der Energie ergriffen
und lachen bis zum Umfallen. Deren Haltung ist: Die Party ist das, was du aus
ihr machst. Im Gegensatz zu Deutschland, wo du irgendwo hinkommst und erwartest,
dass du was geboten kriegst. Finnland ist gleichzeitig ein trauriges Land, es
hat eine sehr hohe Selbstmordrate. Die Finnen sind merkwürdige Menschen.
Am meisten Distanz
schienen Sie zum jungen Internet-Millionär aus dem San-Francisco-Kapitel zu
haben.
Der hatte einen Komplex, einen richtigen Millionärskomplex.
Was ist das?
Das viele Geld hat ihm zu schaffen gemacht. Und das hat er mir in die Schuhe
geschoben! Es gab bei unserem Essen Momente, in denen war er sehr freundlich.
Dann schien es, als ob sich plötzlich sein Gewissen meldete und sagte: Du sollst
dich nicht mit solchen Leuten treffen, die wollen nichts Gutes, die wollen nur
böse über dich schreiben. Er fand diese ganze Idee, über einen 20-jährigen
Millionär zu schreiben, völlig uninteressant. Er fand auch Geld völlig
uninteressant.
Ein Millionär, dem
Geld egal ist – haben Sie es geglaubt?
Sein Vater war Anwalt, er hatte schon von zu Hause aus Geld. Nur einem Millionär
kann Geld egal sein.
Finden Sie, dass
Ihrer Generation Geld wichtig ist?
Wir reagieren ja nur. Ist es nicht normal, dass man sich in einer Gesellschaft,
in der man nur mit Geld überleben kann, Gedanken macht, wie man es verdient?
Und wie ist es mit
Politik? Es heißt, dass das politische Interesse der jungen Menschen immer
weiter abnimmt.
Bei den Politikern! Ja, klar! Wir sind auf Politik-Diät, in diesem Sinne werden
wir immer dünner.
Kennen Sie
Katherina Reiche?
Nein. Wer ist das?
Sie ist eine junge
Frau, die Edmund Stoiber aufgestellt hat, damit junge Frauen wie Sie die CDU
wählen.
Ich fühle mich von keinem Politiker repräsentiert. Überhaupt nicht. Gar nicht.
Im Gegenteil. Wer kümmert sich denn um die ganzen Umweltprobleme?
Die Grünen?
Ich finde, dass sich die Grünen in ihrer Umweltpolitik leider überhaupt nicht
durchsetzen können. Wenn jetzt Oktober wäre, wenn die Wahl vorbei wäre, würde
ich noch andere Sachen über die Grünen sagen, sie sind mir ein bisschen
unsympathisch. Aber ich fürchte, dass sie bei der Wahl das geringste Übel sind.
Warum engagieren
Sie sich nicht?
Ich schreibe. Eine Freundin von mir wollte sich mal engagieren, und da ist sie
auf ein Anti-Globalisierungstreffen gegangen. Da waren lauter chaotische Leute
mit total verschiedenen Anliegen: Mütter mit ihren Kindern, junge Arbeitslose,
irgendwelche Hippies, Punks. Sie hatte den Eindruck, es hat nichts gegeben, was
die Leute verbunden hat, außer: Sie sind gegen das, was heute ist…
Noch mal zur
Shell-Studie. Der wissenschaftliche Leiter Hurrelmann sagt, dass junge Menschen
sich politisch nur engagieren, wenn sie selbst was davon haben, zum Beispiel für
niedrigere Studiengebühren. Was ist Ihnen persönlich wichtig?
Ich finde, Marihuana sollte legalisiert werden.
Ihre Generation,
heißt es, nimmt Designer-Drogen.
Wir nehmen alles Mögliche. Ich habe das erste Mal Gras geraucht, als ich 13 war,
und meine ersten große Drogenerlebnisse hatte ich mit 16: auf LSD ins Museum of
Natural History gehen und zwischen den Dinosaurierskeletten hindurchklettern,
nackt im Central Park baden gehen…
Dann stimmt, was
immer gesagt wird: Ihre Generation macht alles immer früher.
Es sieht so aus, dass unsere Generation immer früher immer älter sein will. Und
dann denkt man mit 20: Scheiße, vielleicht ist es doch cool, jung zu sein.
Marie Pohl
"Maries Reise",
348 Seiten, 16
Abbildungen, geb., Euro 14,90 ISBN 3-8077-0169-9
23-06-2002
Ein Berliner Mädchen reist um die Welt
Von Julia Siepmann
Das Hotel "Fenno" sieht aus wie ein Pappkarton und liegt in Kallio. Kallio ist für Helsinki ungefähr das, was Neukölln für Berlin ist: ein Arbeiterbezirk, in dem wegen der billigen Mieten zwischendrin auch mal ein Künstler oder Student lebt.
Im Hotel "Fenno" wohnte vor zwei Jahren die 20-jährige Berlinerin Marie Pohl und teilte sich mit einer Gruppe Russen eine Gemeinschaftsküche. Eine Pizza aufbacken traute Marie sich nicht, stattdessen aß sie ihren Joghurt allein vor dem Gemeinschaftsfernseher. In dieser Szenerie, in der sich Gleichaltrige eher ungern im Urlaub wiederfinden wollen, sitzt die zierliche Blondine am Ende ihrer Weltreise. Sieben Monate war sie da schon unterwegs, hatte Havanna, Buenos Aires, San Francisco, Hanoi, Tiflis und Jerusalem gesehen.
Ihre Erlebnisse hat sie nach ihrer Rückkehr in ihrer Kreuzberger Wohnung aufgeschrieben, ein spannender und gut beobachteter Reisebericht ist es geworden, der jetzt, zwei Jahre nach der Mammuttour, als Buch mit dem Titel "Maries Reise" erscheint.
Genau genommen begann die Weltreise noch viel früher als im Januar 2000 - in Maries Kopf. Ihre Lieblingsstädte standen seit dem Abitur fest, aber in ihrer alten Wohnung in Prenzlauer Berg machte sie sich Gedanken über "eine gedankliche Balustrade, die mich durch die Metropolen hindurchführt". Vielleicht sollte sie überall die schönste Wohnung suchen? Sie entschied sich für die lebendigere Alternative, "die interessantesten Leute meines Alters" ins Visier zu nehmen, "weil ich wissen wollte, wie die ihr Leben aufbauen". Marie schrieb ein 15-seitiges Exposé, in dem genau zu lesen war, welche phantasierte Figur sie in jeder der acht Großstädte, inklusive Berlin, suchte: den vietnamesischen Koch in Hanoi, die Zigarrendreherin in Havanna, den schönsten georgischen Jungen, den 20-jährigen U-Bahn-Arbeiter in Buenos Aires, das Zirkusmädchen in Helsinki und "den College-Studenten in San Francisco, der davon besessen ist, amerikanischer Präsident zu werden".
Die originelle Idee fand einen Verlag, und durch den Vorschuss wurde der Tochter des Dramatikers Klaus Pohl ein endloses Jahr Kellnern in Berliner Kneipen erspart. Als das blockdicke Ticket bezahlt war, und Marie mit 600 Mark monatlich rechnen konnte, brach sie auf. Im zweiten Kapitel ihres Erstlings beschreibt die nun zum Aufschreiben Entsandte, wie sie kurz vor Reiseantritt am Flughafen ihren Vater trifft: "Er fragt mich, ob ich weiß, wo ich in Havanna als Erstes hingehen will. Ich zeige ihm den Brief. Ein Bekannter aus Berlin hat ihn mir mitgegeben, ich soll ihn seinen Freunden bringen. Da ist mein Vater beruhigt und sagt: "Wenn du eine Adresse hast, kennst du bald die ganze Stadt."
Marie war wirklich gut vorbereitet. Irgendwo klingeln konnte sie in jeder Stadt. Selbst in Buenos Aires hatte die junge Touristin aus Deutschland einen Zettel mit einem Namen und einer Telefonnummer in der Tasche. Eine Adresse von ihrem Hausarzt in Berlin. Der Gastvater, ein älterer Professor, nimmt das neugierige Mädchen mit auf eine Milonga, so werden in Argentinien die Tangoabende genannt. Marie fällt unter den Paaren die Tänzerin Sabrina auf, eine rassige Schönheit, die sich mit ihrem Partner in nachlässigem Arrastrando, jenem gleitenden Schleifen, über die Tanzfläche schiebt - eine neue Freundin und eine Figur in ihrem Buch sind gefunden.
Dass ihre Reise doch ganz anders als geplant verlaufen ist, hatte Marie, auf die die altväterliche Beschreibung "für ihr Alter sehr weit" wohl zutrifft, schon vorher geahnt. "Oft werden Erlebnisse, die mit dem Ziel einer Reise nichts mehr zu tun haben, zum eigentlichen Höhepunkt", sagt sie klug. In San Francisco fand sie anstelle des ambitionierten Studenten einen 20-jährigen Internet-Millionär, "der den MP3-Player Winamp entwickelt hatte und mir ziemlich unsympathisch war". Und der vietnamesische Koch interessierte sie spätestens dann nicht mehr, "als mir im Flugzeug mein Sitznachbar von illegalen Mopedrennen in Hanoi erzählte". Bei ihrer Recherche vor Ort geriet sie zunächst an einen Polizisten, der sie vor heroinsüchtigen Jungs, chinesischen Messern und tragischen Todesfällen warnte, und ihr den Tipp gab, sich "lieber die Pagoden anzugucken". Gefunden hat die sture Marie ihn dann doch, ihren Vy, der "nachts auf der wackeligen Honda "Dream" seiner Mutter durch die Stadt raste und tatsächlich süchtig war, obwohl er es nicht zugab".
Hört sich interessant an, war aber für ein deutsches Fräulein bestimmt kein ungefährlicher Ausflug? "Stimmt schon", sagt Marie, lächelt lange und lässt dabei die Lücke zwischen ihren Vorderzähnen aufblitzen. Vielleicht ist sie ja in Gedanken schon wieder bei der Tiefkühlpizza und den Weißrussen in Helsinki.
Marie Pohl: Maries
Reise
Rogner und Bernhard 2002
"Frage nie jemanden nach deinem Weg, denn es könnte
sonst sein, dass du dich nicht verirrst." Rabbi Nachman
Die
zwanzigjährige Marie Pohl, aufgewachsen in Hamburg, Berlin, Zürich, Köln, New
York und Madrid, hat einen Plan. Sie möchte eine Reise um die Welt machen, um
Leute ihrer Generation aufzusuchen und kennenzulernen: "Ich habe mich
entschieden, bevor ich studiere, bevor mich alle mit Sie ansprechen, bevor sich
das Fräulein Marie auf seinen auserwählten Weg macht, möchte ich meine
Generation in ihrer Anfangs-Aufbau-Zeit finden und porträtieren. Meine
Zeit fasziniert mich, und ich will mehr über ihre Menschen erfahren."
Da Marie Pohl die Reise nicht selber finanzieren kann, verfasst sie ein Exposè,
das sie an unterschiedliche Verlage und Zeitschriften schickt.
Von
Rogner & Bernhard bekommt sie schließlich das Flugticket sowie 1000 DM pro
Reisestation. So macht sich Marie auf den Weg, um die interessantesten Personen
ihrer Generation zu suchen.
In
Berlin, Havanna, Buenos Aires, San Francisco, Hanoi, Jerusalem, Tbilissi und
Helsinki.
Es
wird eine eigenwillige und mutige Reise. Neun Monate ist Marie Pohl unterwegs,
jeweils einen Monat verbringt sie an den ausgewählten Orten.
Sie lebt, liebt, tanzt und sammelt Geschichten.
Und sie nimmt den Leser mit auf ihre Reise, lässt ihn teilhaben an lustigen und traurigen Erlebnissen, an Teenachmittagen, Motorradrennen und Abschiedsparties, an Begegnungen mit Carletto, dem unglücklichen Matrosen, einer israelischen Siedlerin, oder einem Computermillionär. Alles schildert sie auf eine erfrischend ehrliche, humorvolle und ungezwungene Art und Weise, dass man dieses Buch, hält man es erst einmal in Händen, gar nicht mehr zur Seite legen möchte. Wunderbar!
19-08-2002
So wenig Spaß kann Reisen machen: Überall steht am Zielflughafen die adrette Dame mit dem Schild in der Hand, der Transferbus zum Hotel ist eindeutig gekennzeichnet, der Veranstalter übernimmt die Rückbestätigung des Heimflugs. Wer es auf diese Unart haben will, der lernt dann auch nur Urlauber kennen, die ebenfalls finden, der Einheimische wolle einem nur ans Geld. Dass es ganz anders geht, beweist uns ausgerechnet die Vertreterin einer als verwöhnt verschrienen Generation. Marie Pohl war 20, als sie den Entschluss fasste, überall auf der Welt nach anderen 20-Jährigen zu suchen und von ihnen zu lernen, wie man sein Leben aufbaut. Geldmangel vermochte sie nicht zu schrecken: Marie verkaufte ihre Idee an Rogner & Bernhard, der Verlag stellte 1 000 Mark pro Station zur Verfügung, acht Weltstädte von Havanna über Hanoi bis Helsinki konnten so für jeweils einen Monat besucht werden.
Marie Pohl, Jahrgang 1979, stellt sich noch keine aus der Erfahrung gefasste Meinung in den Weg - und das ist ein großes Glück, weil sie dem gleichaltrigen Computermillionär, der früh genug an AOL verkauft hat, ebenso unvoreingenommen gegenübertritt wie der israelischen Siedlerin, die bei Ramallah wohnt und wohl nie ihren Freund in Holland wird besuchen können. Pohl isst schleimige Schlangensuppe in Vietnam und guckt nächtelang den Tangotänzern von Buenos Aires zu, sie findet einen Matrosen, der jedem Schiff den Untergang bringt und stellt fest, dass im leisen Finnland sogar Besoffene lautlos taumeln.
Sie sieht immer ganz leise und lange zu und findet so mit der Zeit wunderschöne, verblüffend klug erzählte Geschichten. Fast aber hätte der Rest der Welt umsonst auf sie gewartet: Auf Kuba, der ersten Station, hat sich Marie Pohl verliebt, und so reist sie nie ohne die Sehnsucht, irgendwann wieder zurückzukehren. (cab.)
Marie Pohl: Maries Reise. Rogner & Bernhard bei Zweitausendeins, Hamburg 2002. 346 S., 14,90 Euro.
31-08-2002
Jana Sittnick
Marie Pohl würde sich nicht als Schriftstellerin bezeichnen, dafür sei es wohl noch zu früh, nach einem Buch, und in die Popliteratur passe sie schon gar nicht. Sie halte sich, was Vorlieben und Vorbilder betrifft, lieber an "die Alten", meint die 23-Jährige, "an Heine oder Steinbeck". Marie Pohl aus Kreuzberg hat mit zwanzig eine Weltreise gemacht und anschließend ein Buch geschrieben, das vor kurzem herausgekommen ist und von anderen Zwanzigjährigen erzählt.
"Maries Reise" ist Reisereportage, Tagebuch und Erlebnisprosa. Die Autorin begegnet auf ihrer Suche nach Gleichaltrigen unterschiedlichen Menschen an verschiedenen Orten: Da ist Vy aus Vietnam, der aus einer reichen Familie kommt und sich die Zeit mit Mopedrennen nachts durch Hanoi vertreibt. Da ist Sabrina, die in Buenos Aires jede Nacht Tango tanzt, um ihren Geliebten zurückzuerobern, oder Anton, der Geschichtsexperte mit Schnauzbart, der jeden Abend eine andere Studentenvereinsfeier in Helsinki besucht.
Pohl hat in acht Städten - in Berlin, Havanna, Buenos Aires, San Francisco, Hanoi, Tbilissi, Jerusalem und Helsinki - Gleichaltrige gesucht und sie nach ihrem Leben, Träumen und Sehnsüchten befragt. Nach ihrer achtmonatigen Reise hat sie ihr "Feldmaterial" - Tagebuchnotizen und Interviewbänder - ausgewertet und zu Geschichten geformt. Eineinhalb Jahre später legt sie mit ihrem Erstling "Maries Reise" eine charmante Dokuprosa vor, die den Rhythmus des Erlebten in Text übersetzt, und auch vor der Privatheit der Autorin, vor ihrer Verliebtheit, ihrer Sehnsucht und ihrer Einsamkeit nicht Halt macht. "Jedes Kapitel ist anders", sagt Marie Pohl, "weil es meine jeweilige Stimmung widerspiegelt." Pohl irritiert es deshalb, wenn Leute sagen, die Havanna-Geschichte sei schöner als die aus Helsinki. Man finde immer das, was einen gerade beschäftigt, und man sollte sich einlassen und die Geschichten akzeptieren, die kommen. "Man muss den Zufall zulassen", sagt sie "aber man muss sich auch organisieren." In einer Stadt ankommen, die richtigen Leute finden und interviewen, das war für Marie Pohl auch harte Arbeit. "Ich hab mich immer gleich volle Kanne reingestürzt", sagt sie, "ich wollte ja was wissen."
Die Autorin sitzt an einem heißen Augusttag im mädchenhaft roten Kleid, mit Pferdeschwanz und Badelatschen, im Vorgarten eines Kreuzberger Cafés, trinkt Apfelschorle und spielt mit ihrer Schachtel "Prince Denmark"-Zigaretten. "Schreiben und reisen wollte ich schon immer", sagt sie. Und sie wusste auch, wie sie beides miteinander verbinden konnte. Sie stellte den Verlagen ihr Exposé mit der smarten Buchidee vor, und erklärte, sie wolle verreisen, um die Geschichten ihrer Generation am anderen Ende der Welt zu finden. Das Magazin "Stern" und der Verlag Rogner und Bernhard finanzierten Pohls Reise mit 500 Euro pro Stadt, in der sie je einen Monat lang lebte.
Die gebürtige Hamburgerin, die in New York zur Schule ging, in Madrid Spanisch lernte und in Berlin für Filmproduktionen arbeitete, sitzt schon am nächsten Projekt, über das sie noch nichts verraten will. Ab Herbst wird sie Arabistik studieren. "Berlin ist nicht meine Heimat", sagt Pohl, die es weltläufig mag, "eher eine Station, an der ich länger bleibe." Bald packt sie wohl wieder ihre Koffer.
Marie Pohl, "Maries Reise", Rogner und Bernhard, Berlin 2002, 14,90 Euro.
2003-01-14
Freie Kammerspiele Magdeburg
Eine Reise um die Welt. Die 23jährige Autorin Marie Pohl ist am Freitag, 17. Januar, 22 Uhr, zu Gast im "nachtcafé angelesen" und stellt ihren Roman "Maries Reise" vor. "Was ist das für eine Zeit, dachte ich, diese Anfangs-Aufbau-Zeit im Leben eines Menschen? Ich fange an, mein Leben aufzubauen, und ich frage mich: ,Was bauen denn die anderen Zwanzigjährigen so? Runde Häuser? Eckige? Schwarze? Weisse oder bunte?'". Marie Pohl ist 1979 geboren, hat in Deutschland, in Amerika und in Madrid gelebt. Berlin, Havanna, Buenos Aires, San Francisco, Hanoi, Jerusalem, Tbilissi, Helsinki sind die Stationen von "Maries Reise". Im Jahr 2000 bereist die damals 20jährige innerhalb von neun Monaten diese Städte, um die interessantesten Personen ihrer Generation kennen zu lernen. Weil sie die Reise nicht selbst finanzieren kann, verfasst sie ein Exposé, das sie an Zeitschriften und Verlage schickt. Für den Verlag Rogner & Bernhard schreibt sie als Leseprobe einen Pilot-Text über junge Leute in Berlin - und bekommt die Flugtickets bezahlt plus 1000 DM pro Reisestation. Es wird eine eigenwillige und mutige Reise. Marie Pohl lebt, liebt, tanzt und sammelt Geschichten. Von Carletto, dem unglücklichen Matrosen, dem jedes Schiff untergeht, wenn er den Fuß darauf setzt. Von einem wortkargen Computermultimillionär in San Francisco, der den ersten MP3-Player Winamp erfunden und für 70 Millionen Dollar an AOL verkauft hat. Von der besten Tangotänzerin in Buenos Aires. Über verbotene und gefährliche Motorradrennen in Hanoi. Über eine israelische Siedlerin in der Nähe von Ramallah. Von einem Kubaner, der eine Kubanerin liebt, aber eine Schwedin heiratet, damit er Kuba verlassen kann ... "Maries Reise" ist ein Reise-Roman, der in erster Linie Geschichten erzählt und mit seiner "suchenden" Hauptfigur auch eine Generation und ihre Zeit beschreiben möchte.
von: nachtcafé
angelesen
E-mail:
ticket@freiekammerspiele.de