6-3-2002

 

O METRO DE BERLIM FEZ 100 ANOS!

 

                                       

 

100 Jahre Berliner U-Bahn

Berlin.  Die Berliner U-Bahn wird 100 Jahre alt. Anlässlich des Geburtstages stellen Bundesverkehrsminister Kurt Bodewig (SPD) und Berlins Regierender Bürgermeister Klaus Wowereit (SPD) heute die so genannte "Ministerfahrt" nach. Mit dieser wurde am 15. Februar 1902 eine der ältesten U-Bahnen der Welt in Betrieb genommen. Nur die Metros in London, Paris und Budapest sind älter. Heute ist das Berliner U-Bahnnetz mit 400 Millionen Fahrgästen im Jahr und 152 Streckenkilometern das größte in Deutschland. Und es soll weiter ausgebaut werden, z. B. mit der "Kanzler"-Linie. Allerdings liegt dieser Plan aus Kostengründen vorerst auf Eis. 

Die Berliner U-Bahn gehört zu den ältesten der Welt

 

 

 


Sonntag, 17. Februar 2002     Berlin, 19:57 Uhr

Als an seinen Mitmenschen interessierter Schriftsteller hat man die U-Bahn gefälligst zu lieben. Warum sie das wirklich tun, erklären anlässlich des 100. Geburtstags der deutschen Untergrundzüge sieben Autoren...

Von Ulrich Woelk

Guten Tag, ich bin der Ulrich. Ich bin 41 Jahre alt und seit 7 Jahren freier Schriftsteller. Und damit ich nicht kriminell werde, bitte ich Sie um eine kleine Spende. Natürlich können Sie auch eines meiner Bücher kaufen, die ich aber nicht bei mir habe, weil sie zu schwer wären. Naturgemäß bin ich als Schriftsteller zu schwach, den ganzen Tag eine solche Last zu tragen - vergessen Sie nicht, dass ich von morgens bis abends hier in der U-Bahn unterwegs bin, um Sie auf meine Situation aufmerksam zu machen. Leider habe ich ja stets nur sehr wenig Zeit dazu, aber zwischen zwei Zeilen - Verzeihung: Stationen - lässt sich Gott sei Dank doch eine Menge sagen. Zum Beispiel, dass die U-Bahn bis vor kurzem der letzte Ort war, der ganz und gar dem geschriebenen Wort gehörte. Ein wunderbarer Ort mithin, ein Ort der stillen Imagination. Man stelle sich das einmal vor: Hunderte von zusammengewürfelten Menschen, die mehrheitlich lesen! Zeitschriften, Journale, Fachaufsätze und hier und da sogar Bücher! Ja ganze Romane sind schon in der U-Bahn gelesen worden. Dicke Romane, wie meine Kollegen und ich sie schon seit langem nicht mehr zu schreiben wagen, weil es heißt, solche Schwarten seien nicht mehr verkäuflich. Doch hier, in der U-Bahn, wurden sie noch aufgeschlagen - was für ein Anblick! Aber wie Sie sehen, ist es auch damit bald vorbei. Das letzte Reservat des geschriebenen Wortes, der heimliche Lesesaal der Nation ist bedroht, wenn es nicht schon um ihn geschehen ist. Denn auch hier beginnt man nun damit, Bildschirme zu installieren, über die bunte Bilder mit den immer gleichen Inhalten flimmern, um das Lesen endgültig aus der Welt zu schaffen. Ja, es ist wirklich ein Trauerspiel für den, der das Wort liebt und ihm sein ärmliches Leben verschrieben hat. Wie können Sie sich da also wundern, dass ich heute hier vor Ihnen stehe und um eine milde Gabe bitte. Es ist meine einzige Chance, um halbwegs anständig über die Runden zu kommen. Und deshalb möchte ich Sie jetzt bitten, auch wenn ich nun doch ein wenig zu lang geredet habe und wir bereits in den nächsten Bahnhof einfahren, möchte ich Sie nun also höflichst bitten ... Sie zum Beispiel ... oder Sie ... wären Sie eventuell so freundl... oder Sie vielleicht ... oder ...

Ulrich Woelk, 41, lebt in Berlin. Zuletzt erschien von ihm "Liebespaare" (Hoffman und Campe).

Von Günter Kunert

Während sie für die meisten ihrer Benutzer nichts weiter als ein großstädtisches Verkehrsmittel war, besaß die U-Bahn für mich fast eine mythologische Qualität. Als Kind zog es mich bei Ausflügen mit meinen Eltern stets in den letzten Waggon, an dessen Stirnseite man durch ein Fenster in den Tunnel schauen konnte. Faszinierend und aufregend, wenn der Zug anrollte und der hell erleuchtete Bahnhof immer kleiner wurde, schließlich zum Pünktchen schrumpfte, bis dieses hinter der nächsten Biegung ganz verschwunden war. Dennoch konnte ich mich nie von dem Fenster lösen, da hin und wieder matte Lampen vorbeiglitten, ein unterirdisches Reich, behaust von fantastischen Wesen.

Meine liebste Strecke jedoch führte direkt durch ein Wohnhaus. Denn hin und wieder stieg der Zug aus der Finsternis ans Tageslicht, und eine jener so verblüffenden Stellen, auf die ich schon wartete, war eben jenes Gebäude. Man ratterte lautstark in die Fassade hinein, als sei das selbstverständlich, um beim Zurückblicken die Kehrseite der Mietskaserne und den eckigen Torbogen, den man soeben durchquert hatte, mit Staunen verschwinden zu sehen.

Das zischende Öffnen und Schließen der Türen, wobei ich mich meist fürchtete, eingeklemmt zu werden, sobald der Wagen gut gefüllt und man als Letzter sich hineindrängelte. Unvergessen die Gerüche nach Kriegsende, Schwaden von stinkendem Knaster lagerten über den Köpfen, es stank nach Schweiß und sonstigen menschlichen Ausdünstungen, denen man nur zu gerne entfloh.

Meine abenteuerlichste, den Eingangssatz bestätigende Fahrt führte mich von Westberlin nach Westberlin unter Ostberlin hindurch. Nur matt erhellte Bahnhöfe, alle im Stadium des Verfalls, heruntergekommen, Aufenthalt schattenhafter Grenzwächter, halb verborgen hinter Trägern und Säulen. Solche Tour gemahnte an eine Hadesreise. Unheimliche Orte, lebensfeindlich, dem Leben entzogen. Untergründig und hintergründig zeigte hier die DDR worauf sie beruhte: auf verstaubter, militärisch bewachter Leere.

Günter Kunert wurde 1929 in Berlin geboren. Zuletzt erschien von ihm "Nachrichten aus Ambivalencia" (Wallstein).

Von Juli Zeh

U-Bahn-Fahren ist lustig, weshalb es auch keine E-Bahnen gibt. U-Bahn fährt man überall aus anderen Gründen. In Tokio zum Beispiel, weil es drinnen kühler ist als draußen. In London, weil das Anfahren fast so schön ist wie beim Fliegenden Teppich auf dem Rummelplatz und man dabei auch noch umsonst die Times der Sitznachbarn mitlesen kann. In München, um Schwarze Sheriffs zu sehen und darüber zu staunen, wie viel Geld manche Leute sich für ein fünfminütiges Vergnügen zu kassieren erfrechen. In Prag sinkt man auf steilen Rolltreppen dem Mittelpunkt der Erde entgegen, in Wien und Moskau sind manche Haltestellen wunderschön, in Paris kommt man eh nicht drum rum und in New York freut man sich, überhaupt mal sitzen zu dürfen. Von Warschau lässt sich lernen, wie eine so grimmige Metropole mit einer solchen Bimmelbahn auskommen kann.

Und in Berlin? Warum soll ich U-Bahn fahren in Berlin, ich, die immer zu Fuß geht - vorausgesetzt, das Auto ist kaputt? Um den Intelligenztest am Fahrscheinautomaten zu bestehen? Mir vorzustellen, wie meine Hunde aussähen, wenn ich sie tatsächlich in Kisten transportieren würde?

Ganz klar: In Berlin fährt man U-Bahn, um die Stadt nicht sehen zu müssen. Beherzt steige ich ein, haste mal 'n Euro, sollte das nicht fünfzig Cent heißen?, lauter nette Leute, alles fein sauber. Ich rücke mich bequem zurecht und warte auf Mattscheibe vor den Fenstern. Aber das Ding taucht nicht ab. Hab ich mich vertan? Heißt es Ü-Bahn, für Überblick? Brauchen sie das Ding nur, um unten drunter Platz für ihre Cafés zu haben? Aber was sich draußen ausbreitet, das muss der Neid ihm lassen, ist so schlecht nicht. Von oben sieht die Stadt richtig - gut aus. Welch eine Ü-Ber-Raschung! Das also habe ich in den letzten hundert Jahren verpasst. Herzlichen Glückwünsch, Ü-Bahn, denke ich, züm hündertjährigen Jübüläum!

Juli Zeh wurde 1974 geboren und lebt in Leipzig. Im vergangenen Jahr erschien ihr Debütroman "Adler und Engel" (Schöffling & Co).

Und ein berühmter Fotograf erzählt, welche Rolle ein ganz bestimmter Sitzplatz für seine Karriere gespielt hat

Von Tanja Dückers

Die Frau im verschlissenen Ledermantel, mit schwarzem Hut und korallenrotem Lippenstift fällt mir gleich auf. Als die U-Bahn sich in Bewegung setzt, zückt sie ein zerfleddertes Heft und beginnt, wild darin herumzuschreiben. Ich gehe noch einmal im Kopf meinen Auftritt durch. Zu einem der wie Pilze aus dem Boden schießenden Literatursalons bin ich eingeladen und will nicht nur Gedichte, sondern auch Chansons von mir geben. Hab' ich da nicht zu hochgestapelt? Die halbe Nacht habe ich vor Sergej, Calvin und Flavia, meinen besten Freunden, geprobt - nach anfänglicher Skepsis haben sie am Ende kräftig applaudiert. Aber wir hatten schon viel Rotwein getrunken, das wird ihr Urteilsvermögen sicher beeinträchtigt haben. Die Gedichte machen mir keine Sorgen; der Gesang, die selbstauferlegte Verpflichtung, ein Multitalent zu sein - wie nannte ein Freund kürzlich diese in Berlin grassierende Modekrankheit? Multitalentose! - bereitet mir trotz Aspirin-Kopfschmerzen.

Rosa-Luxemburg-Platz, ein Kontrolleurtrupp hechtet ins Abteil, ein paar Leute springen heraus, andere ziehen betont gelangweilt den Fahrschein hervor, klopfenden Herzens, denn sie sind schon unzählige Male schwarzgefahren; strikt nach Zufallsprinzip kaufen sie alle Jubeljahre mal ein Ticket. Die Frau mit dem schwarzen Hut guckt erschrocken. Dann steht sie mit einem Ruck auf, wobei das schmuddelige Heft mit den Korrekturen auf den Boden fällt. Ob das wohl selbstgeschriebene Gedichte sind?

"Es tuuut mir seeehr leeeid, miiir feeehlt das paaaasssende Kleeingeld, drum schenke ich Ihnen ein Liieed ..." Der Gesang ist etwas verhuscht, man hört, dass sie wohl irgendwann in ihren besseren Tagen eine Art musische Ausbildung genossen haben muss. Einige Fahrgäste schütteln den Kopf, andere lachen. Die Kontrolleure packen die halb elegante halb heruntergekommene Dame ohne viel Aufhebens an den Schultern, crazy people eben, doch sie singt weiter, zusammenhanglose Episoden, von Feuerzeugen und Herzbränden, von Vanilleeis und Gletscherzungen, Litschis mit Facettenaugen, Mondmänner und siebenfingrige Frauen ... sie singt und singt, während sie in ein Kabuff auf dem U-Bahnhof geführt wird. Dann ertönt das automatische Türenschließ-Signal, und da sitze ich wieder mit meiner Sorge, wie ich heute Abend 100 Leute in Stimmung bringen soll, ohne dass es nachher heißt: "Das war ja echt Rausschmeißer-Musik, die Sie da fabriziert haben..."

Tanja Dückers, 33, lebt in Berlin und Barcelona. Zuletzt erschien ihr Gedichtband "Luftpost" (Aufbau).

Von Wolfgang Tillmans

Ich habe 1995 ein Foto gemacht, das "U-Bahn-Sitz" heißt. Vor zwei Jahren hing es auch in der Ausstellung für den britischen Turnerpreis. Was mich an der Berliner U-Bahn faszinierte, war dieses blaurote Camouflage-Muster der einzelnen Sitze. Für mich ist das wieder einmal ein perfektes Beispiel dafür, wie die Form immer auch gesellschaftliche Bedeutung in sich trägt. Der Wunsch, Graffiti zu vermeiden führt zu einem funktionalen Camouflage-Muster auf Plastik. Kurz: Gesellschaft spielt sich an der Oberfläche wider. Die Deutschen sind besessen von der Idee der ständigen Neuerung, so entstanden in der Berliner U-Bahn riesige, menschenleere, gekachelte, vollgepisste, unterirdische Kästen. Die Londoner U-Bahn dagegen wurde nur nach den Bedürfnissen gebaut, sie sind genauso groß, wie viele Menschen auch durchgeschoben werden. Ich nenne das die Ästhetik der Benutzung, der Notwendigkeit, die ich interessant finde. In Deutschland gibt es eher eine Ästhetik der Optimierung und Maximierung. Da wird ständig überproduziert, und nach 20 Jahren sowieso wieder abgerissen.

Wolfgang Tillmans, 33, lebt in London. 2000 wurde der Fotograf mit dem renommierten Turnerpreis ausgezeichnet.

Von Malin Schwerdtfeger

Ich sehe ja auch keine Nachmittagstalkshows. Wozu soll ich also U-Bahn fahren?", sagt meine Freundin Jule. Natürlich hat sie Recht. Wie Talkshows sind U-Bahnen Orte der freien, unreflektierten Rede, der schlechten Zähne und des harten Lichts von oben. Aber meine Freundin Jule hat ein Auto. Ich habe keines, also fahre ich U-Bahn, seit zehn Jahren, und in diesen Jahren ist nichts besser geworden. Es kommt mir sogar vor, als sei alles schlimmer geworden; die Zähne schlechter, die Poren größer, die Hintern breiter und die Verbindung zwischen Sprachzentrum und Zunge kürzer. Das liegt vermutlich daran, dass die U-Bahn das einzige ist, das in all den Jahren so geblieben ist, wie es immer war. Ich werde älter, das Leben wird schöner, aber die U-Bahn bleibt immer gleich.

Und irgendwann ist der Kontrast zu all den Dingen, die schöner und besser geworden sind, einfach zu groß. Anfangs zieht man nach Berlin und freut sich. Man wird von Leuten, die Kittel oder Uniform tragen, schlecht behandelt - und freut sich. Man findet heraus, dass man mit dreckigen kleinen Kohlen keinen verstopften kleinen Ofen heizen kann - und freut sich. Man wird morgens mit nüchternem Magen Zeuge der öffentlichen Pansenspeisung der Kreuzberger Obdachlosenbegleithunde - und freut sich. Man bekommt nur die eine Sorte Backwerk in der Bäckerei, jene, die immer anders aussieht, und doch ist es immer der gute Rumkugelbasisteig mit verschiedenen Glasuren. Man bezahlt teuer dafür - und freut sich noch darüber. Man erzählt da, wo man herkommt, dass so Berlin eben ist; so verrückt und lustig und immer in Bewegung. Und noch während man das sagt, versagt einem die Stimme, und man beginnt, heimlich zu überlegen, ob nicht alles besser sein könnte. Und wenn man klug ist, fängt man an, sich alles ein wenig angenehmer zu machen. Man zieht in eine Gegend, in der die Hunde drinnen gefüttert werden. Man nimmt sich eine Wohnung mit ordentlicher Heizung. Man sucht sich eine halbwegs ordentliche Bäckerei. Aber wenn man kein Auto hat, fährt man eben immer noch U-Bahn. Ich fahre immer noch U-Bahn, und die U-Bahn ist sogar besser geworden, sauberer. Aber die Leute nicht. Und wer denkt, jetzt käme etwas wie "und trotzdem liebe ich Berlin", der irrt. Ich werde es nur denken. Und vielleicht leise vor mich hinmurmeln, hin und wieder, in der leeren U-Bahn.

Malin Schwerdtfeger, 1972 geboren, lebt in Berlin. Zuletzt erschien von ihr "Café Saratoga" (Kiepenheuer & Witsch).

Von Stefan Beuse

Als Mensch, der an seinen Mitbürgern interessiert ist - und als Schriftsteller sowieso - hat man U-Bahnen gefälligst zu lieben. Wenn ich Inspiration brauche, höre ich häufig von Kollegen, kauf ich mir einfach eine Tageskarte und fahre ein bisschen U-Bahn. Danach bin ich dann so - so voll von neuen Ideen. Ja, das wäre ich auch gern. Aber wenn ich U-Bahn fahre, bin ich immer nur voll von unbändigem Hass auf die Menschheit. Nirgendwo sonst lassen sich Niederkeit, Hässlichkeit und Verderbtheit so hautnah studieren wie in U-Bahnen, Großkaufhäusern, Fußgängerzonen oder auf Weihnachtsmärkten. Also überall dort, wo man auf engstem Raum einer großen Zahl an Volk ausgesetzt ist. Um mich dieser - in U-Bahnen meist besonders arglistig zusammengestellten - Komposition zu entziehen, bleibt mir nichts übrig als Zeitungen zu lesen, die ich sonst nicht mal anfassen würde. Einfach nur, um etwas vor dem Gesicht zu haben. Ich lese Berichte über Kinderschänder, Serienmörder und Talkshowmoderatoren, und an der nächsten Station steigt garantiert jemand zu, dem ich noch Schlimmeres zutraue. Ein Vorurteil habe ich in diesem Zusammenhang allerdings abbauen können: dass U-Bahnen dreckig sind. Zwar habe ich nachher immer schwarze Finger. Aber das kommt nicht vom U-Bahn fahren. Das kommt vom Zeitung lesen. Weshalb ich in Zukunft U-Bahnen nur noch mit einem Discman betreten werde, Hölderlins Hyperion im Ohr, gelesen von Rainer Unglaub. Als Gegengift, sozusagen. Die U-Bahn wird mir also gewissermaßen den Weg zur Weltliteratur öffnen. Und das ist ja auch schon was.

Stefan Beuse, 35, lebt in Hamburg. Im März erscheint von ihm "Die Nacht der Könige" (Piper).

Von Tim Staffel

Wir hecheln, sagt Lina, immer wieder rennen wir den Zügen hinterher. Seitdem der Hund verschwunden ist, macht ihr das Laufen keinen Spaß mehr, weil da keiner ist, der sie zieht, den sie hinter sich herziehen kann.

Ein frischer Duft umhüllt die beiden vor uns, als hätte das Paar den Abend noch vor sich. Er trägt einen edlen Kamelhaarmantel, sie schlichtschwarz mit Hund, der sich an ihn schmiegt. "Er scheint mich zu mögen, dabei kennen wir uns doch gar nicht." "Das ist der Instinkt." Er streichelt den Köter, ehe der sich zwischen ihren Beinen zu schaffen macht. Wir haben keinen Hund mehr. Unseren Hund habe ich in der U-Bahn vergessen, und er hat nicht zu uns zurückgefunden. Seitdem sind wir unter Tage. Die Leine, die Lina um den Hals trägt, erinnert uns an ihn, an unsere Suche.

Unter der Schuhsohle von dem feinen Mann, der die Frau nicht kennt, klebt Scheiße. Sie steigen zusammen aus. Wir wetten, dass sie ihn mit nach Hause nimmt, aber unter seiner Sohle hängt die Scheiße. Die wird er mit in ihre Wohnung schleppen, weil ihm der Instinkt fehlt. Er sieht nicht so aus, als würde er noch im Flur die Schuhe ausziehen. Während sie wischt und ihn vergewissert, dass alles halb so schlimm sei, steht er hilflos beschämt auf einer Socke herum. Ihr Köter wird mit dem Schwanz wedeln, zwischen seinen Beinen herumschmiegen. Sie werden dennoch mit den Gläsern anstoßen und versuchen, sich näher zu kommen, aber in den Köpfen hängt die Scheiße, die jeder für sich nicht loswird und jede bemühte Berührung ist voll davon, bis er sich entschließt, doch noch zu gehen.

Es ist der letzte Zug, und wir sind froh, dass wir nicht mehr singen müssen, weil wir heute schon den ganzen Tag gesungen haben, für gerade mal zwölf Euro. Wir sehen auf die beiden Mädchen, die höchstens siebzehn sind, zu denen sich jetzt so ein Fastschwarzaraber mit Basecap setzt und ohne sie zu kennen anquatscht. Ob sie Pilze wollen. "Echt, du hast Pilze?" Die beiden geraten schwer in Aufregung, aber sie haben ihr letztes Geld für Gras ausgegeben. Sie schlagen ihm vor, zu tauschen und lassen ihn an ihrem Gras riechen, aber das reicht nicht aus für einen Pilztausch. Die gehören doch ins Bett, meint Lina und grinst mich an, weil wir uns schon darauf freuen, endlich aus der U-Bahn raus, unter die Decke zu kommen, weil das heute das erste Mal ist, seitdem der Hund weg ist, dass wir uns anfassen werden.

Tim Staffel, 1965 geboren, lebt in Berlin. Zuletzt erschien von ihm der Roman "Heimweh" (Volk und Welt).