24-10-2002

 

Silvia Szymanski

(1958 -     )

 

 

*1958 in Merkstein bei Aachen/NRW, lebt und arbeitet in Herzogenrath-Herbach bei Aachen/NRW

Stationen u.a.: Sängerin in verschiedenen Bands. Studium Germanistik und Kunst. Nach Studiumabbruch verschiedene Jobs.

Arbeitsgebiete: Erzählung, Roman

Veröffentlichungen (Auswahl): Chemische Reinigung, Roman (1998, Reclam). Agnes Sobierajski, Roman (2000, Hoffmann und Campe). Morgen Land - Neueste deutsche Literatur (2000, S. Fischer TB). Kein Sex mit Mike, Erz. (2000, Hoffmann und Campe). 652 km nach Berlin, Roman (2002, Hoffmann und Campe).

 

 

 

Porträt
Reise um die Welt in sieben Sätzen
Von Roland Mischke

Silvia Szymanski: 652 km nach Berlin, Roman, 208 S., Hoffmann und Campe, Hamburg 2002, EUR 21,90

 
9. Aug. 2002 Ihr Zimmer ist 18 Quadratmeter groß. Der einzige Rückzugsraum für Silvia Szymanski, die späte Debütantin, die vor drei Jahren als 40-Jährige ihr erstes Buch vorlegte, dem schnell weitere folgten. Das schlichte Mutterhaus steht auf einem Hügel, eine ungeteerte Straße führt hinauf. Grenzland, Euroregio-Provinz. Da vorne Aachen, dahinter Belgien, weiter nördlich Holland. Dann England, danach Amerika. Dort sind jüngst Texte der Autorin in Literaturmagazinen erschienen. A new german writing star. Obscene, bold, unbelievable.

Die Autorin hat einen schlaksigen Gang und ist schüchtern. Schlank, lange Haare, in der Mitte gescheitelt. Hohe Stirn, hohe Wangen, schmaler Mund. Wenn sie lächelt, legt sie den Kopf leicht schräg. Ihre Augen sind riesig. Im Gesicht ganz feine Falten wie zarte Risse, die Haut blass, weiß und durchsichtig wie Raureif. Der Kopf vom Nacken her leicht gerötet. Der gesamte Auftritt fahrig, aber stets mit verschwimmendem Lächeln, das andeutet: Wenn ihr wüsstet.

Am Anfang: die Neue Deutsche Welle

Wir wissen, dass Silvia Szymanski über Sex schreibt, über Gefühle und Verlangen, alle denkbaren Stimmungen und Stellungen. Gekonnt. Ihre Geschichten sind sprachlich derart aufbereitet, dass sie in den besten Momenten funktionieren wie guter Pop. Szymanski kann mit sieben Sätzen die Welt erklären. „Erst die Kindheit: Unschuld, heile Welt und Träume. Die Pubertät: Abenteuer, Schwierigkeiten, Entdeckung der Sexualität. Dann Mann und Frau: Männliche und weibliche Psychologie. Dann kommt das Geld ins Spiel, Macht, Politik: Der Charakter ändert sich und wird verdorben. Am Ende: Selbstzerstörung. Man macht Fehler, versaut sein eignes Leben. Man sitzt in einem Raum und wartet auf den Tod.“

„Anfang der achtziger Jahre fing ich an, erste Geschichten zu schreiben“, erzählt Szymanski. „Dazu hat mich Anais Nin inspiriert. Aber ich traute mich nicht, die Texte einem Verlag zu geben. Ich brauchte noch einige Jahre Musik, um meine Schüchternheit zu überwinden.“ Ihr Freund, ein Bassist, macht sie zur Frontfrau von „Silvie and the Awacs“. Sie liefert Liedzeilen. Neue Deutsche Welle. Dadidada. Schnell gibt es einen Plattenvertrag, die erste Platte wird eingespielt. Dann stellen die Bandmitglieder fest: Silvia kann nicht singen.

Rock'n'Roll gegen die Schüchternheit

Aber schreiben. Sie nimmt am Literaturwettbewerb einer Frauenzeitschrift teil. Ein Achtungserfolg. „Da habe ich meine alten Texte wieder rausgeholt und für mein erstes Buch 'Chemische Reinigung' aufbereitet“, erinnert sie sich. Noch wichtiger ist die Erfahrung: „Schüchternheit verflüchtigt sich beim Rock'n'Roll.“ Szymanski singt heute noch, inzwischen mit einer anderen Band. „Tortuga Jazz“ probt im Pfarrgemeindehaus. Ihre Stimme ist immer noch gewöhnungsbedürftig.

Ihr Freund Fritz Knizia, 47, der Bandleader, ist ihre Konstante, seitdem sie 15 war. Hätten beide geheiratet, wäre die Silberne Hochzeit längst fällig gewesen. Vor 10 Jahren erlitt der Freund einen Herzinfarkt. „Ein Schuss vor den Bug“, sagt er. „Seitdem esse ich viel Rohkost und Obst und lebe gesünder.“ Später, beim Spaziergang über die Felder, zieht er als Jogger vorbei. Szymanski winkt ihm zu. „Manchmal spielen wir im Wald Tarzan und Jane“, lacht sie. „Oder wir suchen uns ein Bett im Kornfeld.“ Wieder das verschwimmende Lächeln. Szymanski kokettiert, treibt ein Spielchen.

Bei Tristesse bitte schütteln

„Schreibt die Silvia jetzt Pornobücher?“, ist ihre Mutter schon gefragt worden. Als Szymanski in der Aachener Domsingschule „die Stellen“ vorlas, stand ein Kardinal auf und warf ihr Blasphemie vor. „Erst machte mich der Monsignore rapplig, dann war ich nahe der Kichergrenze. Zum Glück war das Publikum auf meiner Seite.“ Dennoch entschloss sie sich nach dem Vorfall zum Paradigmenwechsel. Sie habe über Sex alles geschrieben, was sie wisse, so Szymanski in einem Interview. Ihr viertes Buch, der Roman „625 km nach Berlin“, handelt davon, dass sie gut ohne die Großstadt und ohne Sex auskommt.

Haben Produktmanager ihres Verlags am Image gekratzt? Schwächelt sie wegen der empörten Reaktionen? „Nein, ich wollte einen neuen Ton versuchen, den idyllischen Roman. Mich beschäftigen Kindheitserinnerungen. Was bleibt davon? Was wirft man weg? Deshalb gibt es auch die Parodie eines Happy-Ends. Das habe ich dann aber nicht ganz durchgehalten und schnell noch einen depressiven Traum dahinter genagelt.“

Im Buch, an dem sie jetzt schreibt, geht es wieder um Sex. „Teile davon handeln schließlich in der Karibik.“ Auch Szymanski selbst zieht es dorthin: „Immer in die Südkaribik, St. Vincent, Grenada. Mein Freund würde gern dort leben, aber ich nicht.“ Ihre Welt ist 18 Quadratmeter groß. Der Freund wohnt mit Puppen, Gitarre, CD-Sammlung und Fernseher im Nebenzimmer. Auf das Fensterbord der Toilette haben sie die gemeinsam gesammelten Schneekugeln aufgereiht. Ein paar Mal schütteln, und schon wird der triste gekachelte Ort zum Märchenklo.

Ein Leben hinter der Theke

Szymanski war zwei Jahre Studentin, Germanistik und Kunst, danach Spülerin, Raumpflegerin, Babysitter, Kindermädchen, Aktmodell in der Fachhochschule Aachen, Serviererin. „Zehn Jahre hinter der Theke“, resümiert sie resigniert. Da lernt man Leute und Geschichten kennen. „Ja, das schon, aber ich wollte immer nur weg.“ Seitdem sie nur noch mit ihrem „Compi“ arbeitet, erscheint ihr das Leben beinah luxuriös. Sie holt sich den Laptop ins Klappbett, Arbeitsbeginn gegen 10, Ende gegen 13 Uhr. „Manchmal schreibe ich auch noch am Nachmittag.“

Silvia Szymanskis Prosa gleicht dem erdgebundenen Reisen. Gut für Leser mit Flugangst. Abgehoben wird nur in die Imagination. Die Welt des Kleinbürgertums ist arg eng, deshalb muss das Schreiben für eine Ausweitung der Grenzen sorgen. War das nicht immer ein Grund für die Entstehung draufgängerischer Literatur? Da kann die Babysitterin endlich Männer sitten, wie ihr Alter Ego Agnes Sobierajski. „Wieso gehorcht er mir nicht? Genauso wie die kleinen Kinder“, sinniert sie, die mit ihrem Geliebten Mustafa die Sau rauslassen will.

Brutal sind seine Annäherungen, wecken aber ihre Gier. Sie lässt sich von ihm erniedrigen, erlebt dabei aber einen sexuellen Kick wie nie zuvor. Eine Amour fou mit bitterem Beigeschmack, aber auch mit Magie. „Wenn ich so weiter mache“, sagt sich Agnes an einer Stelle, „dann kann das Leben sich selber überlassen werden, und ich komme in meinem Leben schließlich gar nicht mehr vor.“

 

Rezension: Belletristik
Heldentum? Feige Flucht?

 27.07.2001, Nr. 172 / Seite 42

Silvia Szymanski: "Agnes Sobierajski". Roman. Verlag Hoffman und Campe, Hamburg 2000. 240 S., geb., 34,90 DM.

 
27. Juli 2001 Wenn es in Silvia Szymanskis Büchern hinter den offensichtlichen Handlungen um etwas Allgemeineres geht, dann immer gleich um das Leben, das heutige Leben in den Worten derer, die durch es hindurch müssen. Eröffnet uns dann Agnes Sobierajski, die Ich-Erzählerin und Titelheldin von Silvia Szymanskis neuem Roman, schon auf der zweiten Seite, das Leben sei "ein Roman, und zwar ein guter! Man ist nur Banause!", so stellt sich eine gewisse Erwartung ein. Nach der Lektüre aber muß man leider feststellen, daß die Autorin im Erzählen das Leben gegen eine Räuberpistole vertauscht hat.

Dabei fängt alles sehr vielversprechend an, bevor die banale deutsche Alltagswelt der westdeutschen Provinz mit dem abenteuerlichen Leben der balkanisierten Welt draußen vor der Tür konfrontiert wird. Die erste Welt kennen wir bereits aus Szymanskis früheren Büchern "Chemische Reinigung" und "Kein Sex mit Mike", und bei dem Talent der Autorin, ihrer Erzählerin eine unverwechselbare Sprache und Wahrnehmung zu verleihen, hätte diese Welt sicher wieder den Hintergrund für einen guten Roman aus den Niederungen der Poprepublik Deutschland ergeben. Doch weil der Autorin das nicht genügt, weil sie mehr will, bleibt am Ende nicht nur Agnes unbefriedigt, sondern auch der Leser.

Diese Agnes kennt ihre Heimatstadt von innen wie von außen, denn sie ist professioneller Babysitter. Ihren Job erlebt sie vor allem als ungewollten Einbruch des Allzumenschlichen in ihre geistige Intimsphäre. Entwaffnet von der unbekümmerten Offenheit der Kinder rennt sie in das offene Messer der Wirklichkeit. Die Begegnungen mit den sich gegenseitig bedingenden Neurosen von Kindern und Eltern - und Agnes' innere Kommentare - stellen die erzählerischen Höhepunkte des Romans dar.

Leider werden sie schon bald an den Rand gedrängt, denn Agnes lernt Mustafa kennen, den fremdländischen Bilderbuchmacho mit dem jungenhaften Charme, dem sie in kürzester Zeit hilflos verfällt. Obwohl Mustafa deutlich macht, daß es ihm nur um schnellen Sex geht, richtet sich Agnes mit Beharrlichkeit und Unterwerfung in seinem Leben ein. Anfänglich gibt es noch ein paar Querelen, sie hat Angst vor Aids, er mag keine Kondome, schließlich macht man den Test und er kriegt seinen Willen. Was als aufregende multikulturelle Affäre begann, verwandelt sich ziemlich schnell in eine banale Beziehungskiste. Doch war es das, worüber Silvia Szymanski schreiben wollte?

Denn während die Beziehung alltäglich wird, übernimmt eine neue und dunkle Bedrohung die Regie. Mustafa, so erfahren wir hauptsächlich aus seinen eigenen Anspielungen, ist ein aus der Heimat Vertriebener, und die ungenannten Feinde, die ihm bis in sein deutsches Asyl nachstellen, verhindern das Happy-End zu zweit. Ob das allerdings wahr ist und worum es wirklich geht, erfährt weder Agnes noch der Leser. Dessen Vermutungen pendeln irgendwo zwischen einem fremden Geheimdienst, der den heroischen Dissidenten im Ausland zum Schweigen bringen will, den Mitgliedern eines verfeindeten Familienclans, deren Ehre Mustafa geschändet hat, oder den bezahlten Schlägern eines Drogenringes, die das Geld für den letzten Deal eintreiben wollen. Nicht ganz von der Hand zu weisen ist allerdings auch die am wenigsten romantische Deutung: Die Gefahr ist eine Erfindung Mustafas, um sich so leichter aus der Affäre Agnes ziehen zu können. Dafür spricht die Tatsache, daß er am Ende verschwunden ist - und mit ihm Agnes' Familienerbe.

Bis zu diesem Zeitpunkt hat der Leser schon mehrfach den Drang verspürt, die Protagonistin aus ihrer Verfallenheit herauszuschütteln, die sie jede geistige und sexuelle Demütigung durch ihren Geliebten gleichmütig ertragen läßt. Auch wenn Silvia Szymanski sich alle Mühe gibt, die Faszination ihrer Heldin für das verbotene Andere und für die Unterwerfung überzeugend darzustellen, bleiben Zweifel an der Figur, wenn man sie nicht lediglich als komplementäres Klischee zu Mustafa lesen möchte, wofür sie aber zu viel Eigenleben besitzt.

Unabhängig von der Plausibilität der Geschichte bleibt der Leser am Ende mit der unbeantworteten Frage nach der tieferen Botschaft des Romans zurück. Durch die Hintertür ist dieser zu einer zweifelhaften Parabel über männliche Ausländer in Deutschland geworden. Frauen geraten nicht in das Blickfeld der Titelheldin, während ihr an jeder Ecke dunkelhäutige schnurrbärtige Männer nachsehen und Gaststudenten sie praktisch von der Straße weg verführen wollen. Zusammen mit den Erniedrigungen und dem abschließenden Verrat durch Mustafa ergibt dies alles ein Bild, das auf frappierende Weise dem altbekannten mütterlichen Rat vor dem "bösen fremden Mann" ähnelt.

SEBASTIAN DOMSCH

 

Silvia Szymanski: Kein Sex mit Mike. Erotische Geschichten.
Campe, Hamburg 1999

http://www.strapazin.ch/magazin/heft58/wort.htm

In Silvia Szymanskis zweitem Buch gibt es genau 23 erotische Geschichten. Genial sind drei Stories, darunter die titelgebende. Vier Sterne erhalten sieben Texte, im Niemandsland des Ordentlichen bewegt sich der Rest, wobei da allerdings ein paar doofe, prätentiöse Sachen und auch ein bisschen viel wiederholte Motive herumwuseln. Bei der ersten Ejakulation steht auch gleich ein Druckfehler, was jedoch nicht symptomatisch für das Buch ist. Noch nie (ausser in gewisser Fachliteratur natürlich!) hab ich jedenfalls von sovielen Erektionen in einem Buch gelesen. Die Erzählerin ist ja das reinste Sexmonster! Sind Frauen wirklich so? Ich bin schockiert! Wenn ich das früher gewusst hätte!! Jetzt ist es zu spät!!!

 
 
 
 

 

Und noch zwei Lieblingsstellen: "Rolf und Petra machen es bei Weissflog in der Garage! Wir gehen hin, gucken!" und: "Wenn Opa und sie sich küssen, sehen sie aus wie menschenfressende Märchen-Riesen."
Schwach allerdings, dass der Verlag es nicht als nötig erachtet, für die Zeichnung auf Vorder- und Rückseite des Buchs einen Autoren anzugeben. In einem Comic-Art-Magazin ziemt es sich, darauf hinzuweisen, dass es sich beim Künstler um den ollen John Willie, Master of Bondage, handelt, dessen Werk leider nur noch verspermt in Privatbibliotheken zugänglich ist. Oder?

 


 

26-3-2002

Jeder ist ein Migrant

Lasst uns über Omma Finkenwerder reden: Silvia Szymanski arbeitet weiter an ihrer Ästhetik der Provinz - kaum Sex im Roman "652 km nach Berlin"
"652 km nach Berlin". Hoffmann und Campe, Hamburg 2002, 208 Seiten, 21,90 €

Nr. 6710 vom 26.3.2002, Seite 17, 202 Zeilen (Kommentar),

Winterschlussverkauf bei Silvia Szymanski: "652 km nach Berlin", das neue Buch der heimlichen Königin des Provinzromans, lockt mit einer eingepappten Best-of-CD: Zehn Tracks mit Ausschnitten aus Szymanskis Geschichten, eingebettet in Easy-Listening-Klänge ihrer Band Tortuga Jazz; und das alles ohne Aufpreis.

Ihr Versprechen hat Silvia Szymanski dabei aber nicht so ganz gehalten. Kein Sex, so hatte sie vor Jahresfrist das jetzt erschienene Buch angekündigt. Sie habe alles gesagt, was sie über Sexualität wisse, hatte Szymanski in Interviews hinzugefügt, beim nächsten Mal werde sie lieber über ihre "Omma" schreiben. Das stimmt zwar. Fast alle Texte der Bonus-CD stammen aber aus "Agnies Sobierajski", dem letzten Roman, und weil Autorin und Band das Ganze hübsch abgründig umgesetzt haben, kommen Liebhaber der zwischen Poesie und Pornografie oszillierenden Prosa Szymanskis doch noch einmal voll auf ihre Kosten.

"652 km nach Berlin", der neue Roman, zeichnet sich demgegenüber, wie der Verlag auf seiner Homepage ankündigte, tatsächlich durch "eine gewisse Dezenz" aus: Zwei, drei Mal, man merkt es, schrammt die Erzählerin an Hoheliedern auf Liebestechniken, Körpersäfte und Genitalformen nur knapp vorbei, und nur einmal wird sie ganz konkret: Amir, der Liebhaber, schlägt Sophia Sowa, die Erzählerin, da sanft mit einer kleinen Peitsche und führt ihr Kugeln in die Vagina ein, während sie die Finger zärtlich in seinen After wühlt.

Man könnte der Autorin also, wieder einmal, Pornografie vorwerfen; und man könnte ihr, einmal mehr, zugute halten, welch scheue Sehnsucht solche Sentenzen atmen. Geschenkt. Denn tatsächlich hat die Szene vor allem erzähltechnische Bedeutung. Sie ist nicht nur eine Reminiszenz an die vergangenen, die "Jugendwerke" der Autorin, sondern sie markiert einen entscheidenden Wendepunkt in der Prosa Szymanskis: Liebesgeschichten und Liebesakte, bisher das Zentrum des erzählerischen Kosmos der 44-Jährigen, rücken an den Rand. Dinge, Passanten und Landschaften, die bisher das Setting ausmachten, stehen dafür im Zentrum.

Auf zwei verschiedenen Handlungsebenen erzählt Silvia Szymanski dabei tatsächlich von ihrer "Omma". Oma Finkenwerder, die lange tot sein muss, heißt so, weil sie einige Jahre in Finkenwerder lebte. Finkenwerder, früher ein berühmt-berüchtigtes Schmugglereldorado, das ist heute ein versinkendes Dorf, an der deutsch-belgischen Grenze; nur wenige, meist unbewohnte Häuser stehen noch, der Rest wurde längst vom Braunkohletagebau geschluckt. Immer wieder mal verirren sich Sophia Sowa und ihr Freund Amir aus der Kreisstadt in den Geisterort; sei es, weil sie ein Haus ausräumen, um Trödel für den Flohmarkt abzustauben; sei es, weil Amir sich vor rachsüchtigen Verwandten in einer der Ruinen versteckt. Sophia im Alltag, wie sie Bus fährt, einkauft, im Café sitzt, fernsieht oder eben ihre Zeit mit dem Geliebten verbringt, das ist dabei die eine, die gegenwärtige und zentrale Ebene des Romans. Auf der anderen, zwischenmontierten, versucht Sophia sich an einer Vergegenwärtigung ihrer Jugend, und in diesen Rückblenden, Erinnerungsfetzen und Traumsequenzen spielt die "Omma" naturgemäß natürlich ebenfalls eine gewichtige Rolle.

Hier wie dort tritt die alte Dame auf der Handlungsebene im Grunde genommen nicht in Erscheinung, ist als Projektion und Reminiszenz aber allzeit präsent. Oma Finkenwerder ist der Fluchtpunkt, und das verbindende Glied der beiden Erzählstränge insofern, als sie ganz verschiedene und doch verwandte Migrationsbiografien erzählen. Hier der muslimisch geprägte Flüchtling Amir, den familiäre Verpflichtungen und Erwartungen zermürben. Dort die nur scheinbar durch und durch deutsche Sophia, die immerzu und allerorten auf Zeugnisse ihrer polnischstämmigen Familiengeschichte stößt. Auch und gerade in der tiefsten Provinz, im regionalsten Euregio, will das sagen, hat jeder seine Migrationsbiografie, es kommt nur darauf an, wie weit nach hinten man schaut. Eine Binsenweisheit, durchaus. Eine Binsenweisheit aber, der Silvia Szymanski eine ganz ungewohnte Dynamik verleiht. Migranten der zweiten, dritten, vierten, x-ten Generation dienen ihr nicht nur zur Staffage, sondern sie sind die Helden der Geschichte. Und sie sind ein wesentliches Element der Ästhetik der Provinz, die diese Autorin entwirft.

Diese Ästhetik, nicht ihr tabuloser Umgang mit Sexualität, macht Silvia Szymanski zu der ganz besonderen Stimme in der jüngeren deutschen Literatur, als die sie immer wieder mal gern bezeichnet wird. Mit offenen Augen und im besten Sinne staunend entführt sie in eine Welt, die von den Wohlstandsparzellen der Besserverdienenden und Medienschaffenden so weit entfernt ist wie Aachen von New York; in die Welt derer, die den Anschluss längst verpasst haben oder ihn mit Sicherheit demnächst verpassen werden: Sozialjunkies, Migranten, Rentner und Modernisierungsverlierer, deren große Abenteuer sich in Linienbussen, Freibädern und Urban-Filialen abspielen. 652 Kilometer von Berlin entfernt, arbeitet Silvia Szymanski sprachlich, in der Figurenzeichnung, in Bildern, Landschaften und sogar im Design einzelner Gegenstände an einem, an ihrem Sittenbild des Kleinstadtlebens. Ihr Zugang ist dabei, so verlockend es auch sein könnte, nicht sozialkritisch, sondern rein ästhetischer Natur: So kitschig, überdreht, arm und plüschig es auch sein mag - was Silvia Szymanski sieht, wird dadurch, wie sie es sieht, zu etwas ganz Besonderem, zu etwas Schönem.

Dass die Autorin ihrem Roman ein Hörbuch beilegt und diesen Doppelpack zum Preis von einem verkauft, mag nach Ramsch riechen. Der Qualität des Projekts tut das keinen Abbruch. Im Fall von Silvia Szymanski ist so eine Verkaufspolitik schlicht konsequent.

ULRICH NOLLER,  Rezension

 

SWR2 Buch-Tipp
am Montag, 04. Dezember 2000, 16.55 bis 17.00 Uhr, SWR2

Silvia Szymanski
» Agnes Sobierajski «,

Hoffmann & Campe Verlag, DM 34,90

Rezension von Julia Schröder

Agnes Sobierajski, die Titelheldin des neuen Romans von Silvia Szymanski, ist im Schwimmbad. Und schon kreuzt das Verhängnis auf: Ein Junge mit dicht behaarten Beinen und schattiger Oberlippe planscht herum und denkt lange nach, dann macht er „einen krummen Köpper vom Einer“. Nicht mehr lange, und er wird sie unter einem Vorwand ansprechen, und sie werden in einer fremden Wohnung miteinander schlafen. Er nennt sich Mustafa. Agnes wird sich trotz allem hoffnungslos in ihn verlieben.

Mustafa ist nicht zu Hause in dieser abständigen Ecke von Deutschland, bei der es sich um die Gegend jenseits von Aachen handeln dürfte, wo Silvia Szymanski lebt. Aber Agnes fühlt sich auch nicht sonderlich Zuhause in dieser Welt, die erfüllt ist von Kindergeplapper, denn Agnes verdient ihr Geld mit gewerblichem Babysitten. Und so kommen ihr die kleinen Fluchten mit Mustafas Körper in Mustafas Bett gerade recht. Dieser dunkle Junge scheint bedroht von einem dunklen Geheimnis. Er schützt eine andere Freundin vor, um sich Agnes vom Leib zu halten, er will Schluss machen, solange es noch schön ist, er verschwindet gelegentlich einfach.

Sie bleibt ihm auf der Pelle, obwohl sie Angst hat, vor ihm und um ihn und überhaupt. Sie will ihn ganz. Dafür lässt sie sich auf praktisch alles ein. Schließlich verkauft Agnes ihren Familienschmuck, weil Mustafa angeblich viel Geld braucht, um sich zu retten. Er verschwindet, wie die Katzen der Familie verschwunden sind. „Manche blieben weg für immer“, heißt es am Ende, „aber manche kamen auch zurück.“

Angst vor dem Trivialschema jedenfalls hat Silvia Szymanski nicht. Muss sie auch nicht haben, denn als vor zwei Jahren ihr Romandebüt „Chemische Reinigung“ erschien, wurde die damals auch schon Vierzigjährige flugs in die schmucke Riege der neuen deutschen Jungautoren eingeordnet, der „Enkel“ von Grass und Co., und in diesen Kreisen zählt nicht die kunstvolle Gestaltung, sondern die wahre Empfindung, die authentische Wiedergabe eines Lebensgefühls.

Da profitierte Szymanski ganz ordentlich von ihrer etwas aus dem Rahmen fallenden Biografie als Sängerin und Songschreiberin einer Postpunkband. Das wird in der niederrheinischen Tiefebene nicht ganz so ungefragt hingenommen wie etwa in Berlin. Aus dem Widerspruch zwischen dem Wunsch nach künstlerischer Selbstverwirklichung und dem Zwang, sich finanziell mit irgendwelchen Jobs über Wasser zu halten, entsprang denn auch manch schöne Pointe.

Silvia, wie die Autorin selbst, hieß die Hauptfigur im ersten Roman. Jetzt signalisiert der Name Agnes Sobierajski eine etwas größere Distanz zum biografisch Vorgegebenen. Das neue Buch will erkennbar eine romantaugliche Geschichte erzählen. Das ist zwar ehrenwert - schließlich hätte Szymanski ja einfach die Masche der unverstandenen Muse von Merkstein weiterstricken können -, wirkt sich aber nicht unbedingt positiv aus. So lose die Verbindung zwischen Agnes und Mustafa ist, so löchrig ist die Motivation der Handlung; immer wieder dienen Mustafas unaufgeklärtes Geheimnis und Agnes’ wenig begründete Angst dazu, Wendungen herbeizuführen.

Trotzdem entwickelt diese Liebesgeschichte mit Abschweifungen in die Familien- und die Welthistorie einen Sog, dem man sich gar nicht entziehen möchte. Das hat mit dem halb naiven, halb abgeklärten Tonfall zu tun, für den Silvia Szymanski mittlerweile bekannt ist, mit ihrer Begabung fürs Harte wie fürs Zarte, die sie auch in ihrem Erzählband mit dem programmatischen Titel „Kein Sex mit Mike“ bewiesen hat. Es gibt wenige Autoren deutscher Sprache, die so eindeutig die Dinge beim Namen nennen können und dabei so deutlich werden lassen, dass immer etwas dahintersteckt, wenn scheinbar nur die Körper kommunizieren.

Und es hat zu tun mit dem Kontrast zwischen dem dämmrigen, nach Liebe riechenden Niemandsland in Mustafas Zimmer und den Gegenden, durch die Agnes vagabundiert, Supermärkte, Spielplätze, Schwimmbäder und andere Orte der Trostlosigkeit - eine Reise, deren Plan die Babysittervermittlung diktiert. Wohnungen, angefüllt mit kaputtem Spielzeug und defekten Träumen, Wohnungen voller Klagelaute, Wohnungen voller kleiner Mädchen und Jungs mit ihren großen Ansprüchen. Es gibt auch nur wenige Autoren, die über Kinder und ihre Abgründe so unverstellt schreiben können.

Es wäre Silvia Szymanski zu wünschen, dass sie sich aus der literarischen Raucherecke, in der die fröhlich drauflos erzählenden Enkel, die ach so bösen Fräuleins, die altklugen Milchbubis und andere Zurückgebliebene in fruchtloser Selbstzufriedenheit herumlümmeln, wirklich heraustraut. Dann könnte es mit ihr richtig interessant werden.

 

   

 

Auzsug aus

"652 km nach Berlin"

 

   

 

 

Die Sonne brannte. Der trockene Rasen stach durch mein Frotteetuch, eine Ameise ätzte mir ihr Pipi in die Poren; verständlich, ich war ja auch gefährlich achtlos gegenüber ihr und ihren Leuten.
Ich lag im Schwimmbad Streifenfeld und hatte auch noch andre Gründe, von der Welt wieder verschwinden zu wollen.
»Welt«, das ist ja nur ein Deckname. Ihrer wahren Identität kommt man nur schwer auf die Spur, und ich bin von Dummheit benommen. Halb blind, wie eine Glasscheibe, die immer wieder beschlägt, bewege ich mich in der Fortsetzungsgeschichte, in die uns unsere Ahnenreihe gespuckt hat, und es gibt kein Geld fürs Mitmachen, im Gegenteil, man muß noch zahlen.
Manche Leute freuen sich, im Film zu sein.
Andere wären lieber aus dem Schneider.
»Vierzig ist ein angenehmes Alter«, hörte ich den Mann auf der Decke rechts neben mir zu seinem Kollegen sagen. »Die Anpassung ist vollzogen. Es war gut, das Kind zu haben. Es ist jetzt zehn. Wenn es aus dem Haus ist, schaff ich mir 'nen Hund an.«
Er meinte das nicht so. Hätte ich ihn darauf angesprochen, hätte er es bestimmt relativiert.
»Bleim wir noch en bißchen? Hol ich noch en Fläschjen Bier«, sagte der Mann zu seinem Freund und watschelte zum Büdchen.
Ich hatte eine Frauenzeitschrift dabei und machte den Psychotest darin, dann glaubte ich ihn halb und kriegte schlechte Laune. Aber alle Charaktertypen, in die sie die Leute sortierten, bestanden aus schlechten Eigenschaften, egal, was man angekreuzt hatte.
Ich dachte an die hohen Meereswellen heute nacht im Traum, vor denen alle fliehen mußten.

Auf der Decke links versuchte eine ältere Frau, ihre Bekannte in ein Gespräch zu verwickeln.
»Daß so viele Kinder heut im Schwimmbad sind!« sagte sie. »Ach, ich weiß, es gab bestimmt heut Ferien. Die sind in diesem Jahr sehr früh.«
Der andern fiel dazu nichts ein. Die Rednerin wartete, dann konnte sie nicht länger schweigen.
»Ich hatte mich schon die ganze Zeit gewundert, daß so viele Kinder draußen sind! « wiederholte sie nachdrücklich. »Es ist anscheinend wirklich Ferienanfang! Der soll in diesem Jahr sehr früh sein!« Auch bei diesem Anlauf stieß sie nicht auf Resonanz.

Ich habe Fotos gesehen von einem zoologischen Museum, mit Schränken voller präparierter Affen und Schubladen voller toter Papageien. Ich hab geträumt, wie Leute einen lebenden Hahn in rote Farbe tauchten, um ihr Wappentier aus ihm zu machen.
Im Traum schrie ich sie an. Doch manchmal denk ich auch: Bald ist's vorbei. Steh's einfach kommentarlos durch.
Meine Oma Finkenrath dachte so zum Schluß. Aber für mich ist das nicht das Richtige.

Der Mann von der Nebendecke kam zurück, mit Bier und Zeitung. Er sprach von »Greueln«.
»Man kann da nicht mehr wegschauen!« sagte er. Er hatte sich mit der Mehrheit der Leute auf einen Blick eingeschossen und schaute dafür von andren Sachen weg.
»Die jungen Leute wollen nicht mehr arbeiten. Sie liegen lieber andern auf der Tasche«, kam es kiebig von den älteren Frauen zu mir rüber.
»Ich halte es da mit der Bibel: Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen«, sprach die andre fromm.
Ich merkte, wie ich begann, die beiden zu verfluchen.
»Ich geh 'ne Runde schwümmen«, sprach die eine. Viel Vergnügen und sauf ab, flüsterte ich und rieb mir die Hände wie eine Stubenfliege.
»Ich bleib hier und iß mich noch ön Brötchen«, sprach die andere Madame .
Auf daß es dir im Hals steckenbleibe.
Zum Glück trotzten die beiden meinen Verwünschungen und überlebten; ich hatte ja auch keinen Bock, wegen ihnen für den Rest meines Lebens mit Schuldgefühlen rumzulaufen.

 

   
 

Auszug aus

"Chemische Reinigung"

 

   

 

Ich arbeite in einer chemischen Reinigung. Da muß ich Preisschildchen an Kleider heften. Ich finde Arbeiten schrecklich.
Katharina, genannt Kätchen, gerufen und angeschrien Kätchen, ist meine Kollegin. Sie ist genauso so alt wie ich, aber völlig anders ausgefallen, obwohl man uns auf ganz ähnlich Weise hergestellt hat. Sie hat ungenaue, mollige Konturen und ein Kartoffelgesicht. Sie ist geistig eingeschränkt. Sie sagt:
"Ej, Silvia, ich mach jetzt ne Diät!", und zählt mir auf, was sie innerhalb dieser Diät alles gegessen hat. Es nimmt gar kein Ende.

"...Aber nach dem Abendbrot hab ich dann gar nichts mehr gegessen. Nur noch eine Tafel Schokolade. Aber das macht nichts, das war keine richtige. Das war eine, weißt du, so zärtlich, so bitterlich."
Sie erzählt mir eine wirre, traurige Geschichte von Bernhard Brink, dem Schlagersänger, der sie auf die Bühne geholt hat, damit sie mit ihm sang, und von einem Typen, der sie in sein Auto geholt hat, damit sie ihm einen bläst. Aber sie kann es nicht richtig erzählen, es geht alles durcheinander, Bernhard Brink, der Typ, das Auto, die Bühne... . Wie löchrig ihr Bild von der Wirklichkeit ist. Sie erlebt nur Bruchstücke. Es ergibt keinen Sinn. Alles stößt ihr zu, sie nimmt es hin. Sie wird ausgenutzt, das nennt man Leben. Sie lacht mich freundlich an.

Weber ist der Freund meiner Chefin. Jeden Morgen läßt er sich von Kätchen die Bildzeitung holen. Dann legt er seinen schweren Bauch auf die Theke und liest die ganze Zeitung. Sogar das Kreuzworträtsel löst er. Er hat behaarte Hände und schöne, glitzernde Augen.
Wie mag das aussehen, wenn sie es miteinander machen? Chef und Chefin aufeinander. Seine haarigen Hoden unter dem dicken, harten Bauch, und auf der anderen Seite sein Hintern, aus dem er auch A-A macht... und sie so in ihrem losen Fleisch, und ihrer Haut, mit ihrem seltsam ausgeleierten Mund.-
Ist doch egal, wie es aussieht. Die Menschen fühlen was dabei, das ist doch gut.

Kätchen sagt:
"Ej Silvia, ich hab mir drei neue Tieschörtse gekauft! Eins mit so... die Blauen, wo immer im Fernsehn, weißt du?"
Vielleicht meint sie die Schlümpfe.
"Die Schlümpfe? …h... ej, boh, guck mal die Frau da hinten, die ist aber dick, ne? Ich bin nicht dick. Hier, fühl mal! Alles nur Fett, ne? Ich bin nicht dick, ne?"
Sie trollt sich, die Bildzeitung zu der alten Frau über der Reinigung bringen. Als sie zurückkommt, riecht sie nach Kaffee, und hat Kuchenkrümel in den immer nassen Mundwinkeln.
"Na?" fragt sie, und legt den Kopf schief, und lächelt wie ein Kind. "Gestern war ich spazierengegangen."
"Ich auch," sag ich.
"Du auch?" fragt sie, begeistert, daß wir was gemeinsam haben. "War schön gestern, ne? Spazieren und zurück. Ej, der Uwe, von meiner Schwester das Kind, der ist jetzt 3 Jahre. Schönes Alter für ein Kind, ne?"
Sie schaut mir erwartungsvoll in die Augen.
"Gestern war schön im Fernsehn," sagt sie. "Otkar Wollis. Den Tatort, weißt du? Der Hund auf den Mann los, ej! Und nachher, wo die da alle in der Kirche lagen, mit die Tücher. Das war ALLES mit Tücher! Das war ... ich kann gar nicht sagen, wie. Schön."

Das Chefbaby, Enkelkind meiner Chefin, wird hereingerollt. Apathisch und mißtrauisch äugt es herum. Chef und Chefin machen das übliche Affentheater um es. Das Kind reagiert nie darauf. Es lächelt nicht, knatscht nicht, guckt nicht, wenn man guckmal sagt. "Es ist nur zu faul dazu," sagt die Chefin. Es ist auch zu faul zum Gehen. Das kann es immer noch nicht. Es fällt immer um mit seinem Gehlern-Gestell.
"Weil es so kräftig ist!" sagt die Chefin. "Schauen Sie mal, was der für ein breites Kreuz hat!" Die Chefin ist stolz. "Das ist ein ganz schöner Brocken!"

Frau Berduschek, die Büglerin in der Chemischen Reinigung,ist besessen von ihren Kindern.
"Ich bin mal gespannt, was mein Ralf diesmal in Deutsch für eine Note kriegt!" sagt sie.
"Mal rechnen: Letztes Mal hatte er eine 5, davor eine 4. Im Mündlichen steht er zwischen 2 und 3. Wird das eine 3 oder 4?" Sie sieht mich fragend an. "Also eine 5 im Diktat, dann eine 4, die Arbeit war 4 plus. Die letzte war 2, das ist 9, 13, 15 durch 4: Da dürften die ihm eigentlich keine 5 geben. Ne? Ich weiß jetzt wohl nicht, wie die das Mündliche berücksichtigen. Da steht er 4. Aber eine 5 dürfte es trotzdem diesmal nicht werden."
In Wirklichkeit geht das noch viel länger so. Letzten Monat quälte sie mich mit der Telefonrechnung. Wir haben nämlich gleichzeitig Telefon gekriegt, und sie wollte immer wissen, ob ich schon meine Telefonrechnung hätte.
"Ich bin mal gespannt," sagte sie, "was ich für diesen Monat zahlen muß! Haben Sie ihre Telefonrechnung schon gekriegt? Da müßte ja eigentlich auch die Grundgebühr mit drauf sein. Und natürlich die für den Monat. Aber ich weiß jetzt nicht, ob die das getrennt abrechnen. Oder ob die das vorher oder nachher abrechnen? Bekannte von uns mußten letzten Monat 200 Mark zahlen. Da waren wohl viele Ferngespräche dabei. WIR führen ja fast nur Ortsgespräche. Na, ICH bin mal gespannt!"
Sie grinste, wie auf alles gefaßt. Jeden Morgen dieses Thema, sie machte mich ganz verrückt damit. Ich warf "Da haben Sie recht!" und "Na klar!" in jede Lücke, die sie ließ, um einen Punkt zu machen, und mit der Quälerei aufzuhören. Doch das bestätigte sie nur und ermunterte sie, weiterzumachen.

Meine neue Kollegin Frau Müller sagt, eine Frau in ihrem Alter könne keine roten Jersey-Hosen mehr tragen. Sie hat Angst, allein in ein Cafe zu gehen. Sie sagt, ein kleiner Hitler wäre da gut. Frau Müller setzt sich jetzt dafür ein, daß ich eine ernsthafte Berufsausbildung beginne, und wenn es nur Verkäuferin ist. Sie erzählt mir, wie schlimm es bei anderen Leuten in der Wohnung aussieht, und wie unmöglich die anderen Leute auch selber aussehen...:
"Und da hab ich auf ihre Hände geguckt, und da hatte sie sooo dicken Dreck unter den Fingernägeln! Und das Klo - wenn ich mich auf dieses Klo setzen müßte, bekäme ich die Gelbsucht!"
Die Büglerin Frau Berduschek weiß dazu eine Geschichte von Gelbsuchten, und von da kommt man auf Krebs, Plastikdärme und Geburten. Frau Berduschek:
"Das dritte Kind, das habe ich so schnell gekriegt, da hatte mein Mann seine Zigarette noch nicht zu Ende geraucht, da war es schon da! Ich sag immer: Zum Zahnarzt Gehen ist das Schlimmste! Kinder kriegen könnt' ich laufend. Aber zum Zahnarzt? Ne! Da bin ich ganz ehrlich drin. Da leg ich mich lieber in den Kreißsaal."

Die Sonne scheint laut und brüllt, und die Stadt ist voller Mofas mit geilen Jungen drauf. Gerade kam so ein Junge auf 'nem Mofa bei der chemischen Reinigung um die Ecke gesaust, er hatte sich seine Shorts runtergezogen und lächelte stolz über sein steifes Glied, das sich der Sonne entgegenreckte. Er schaute grinsend um sich und erwartete Reaktionen, wenn nicht Applaus. Die Leute schüttelten mit den Köpfen und regten sich auf.

Da kommt meine Chefin wieder vom Einkaufen. Ungeschlacht jagt ihr großer Hund um sie herum, dann geht er toben zwischen den frisch gereinigten Sachen, und schmiert seinen Geifer dran. Kätchen haßt ihn deshalb, sie muß seinen Schleim immer überall wegmachen. Die Chefin will ihn selbst gern wieder verkaufen, aber sie wird ihn nicht los, weil er zu teuer ist, ein schicksalhafter Umstand, gegen den sie völlig machtlos ist. Chefin:
"Wir wollen sicher sein, daß er in gute Hände kommt. Aber umsonst abgeben können wir ihn nicht!"
Alle meine Kolleginnen pflichten ihr bei: Umsonst geht gar nichts.

Heute versanken wir in wüsten Kleiderhaufen. Die Stangen bogen sich, und die Säcke krachten. Ganz Merkstein läßt seine von Karnevalskotze beschmierten Sachen chemisch reinigen.
Herr Weber stand wuchtig und unbeweglich hinter der Theke und machte keinen Finger krumm.
Dann ist die ganze Kleiderstange zusammengebrochen. Alle Klamotten lagen im Staub. Das war mir eine finstere Genugtuung.

*

Der Heilige Abend war wieder warm wie Pipi.
Die Menschen schwitzten in ihren dicken Mänteln und knöpften sie nicht zu, so daß sie ein sehr unordentliches Bild abgaben. Die Regale mit den Weihnachtsschnitzereien waren durchwühlt, und beinah leer.
Ich hatte Angst. Aber ich würde es tun.
Ich würde jetzt zu Kochs reingehen und die Ohrringe aus dem Schaufenster kaufen.
"Na, Silvia, was machst du denn noch so?"
Ich hatte diesen Satz schon über meinem Kopf hängen gespürt, seit ich in Kochs Drogerie reingekommen war. Ich wußte, daß er auf mich fallen würde. Frau Kochs wollte eine Antwort darauf von mir, zum Weitererzählen. Ich fing aus Verlegenheit an, wirklich zu sagen, was ich mache. Also Arbeiten in der chemischen Reinigung, aber eigentlich Musik in einer Punkband, aber auch Schreiben, und überlegen, ob ich doch studieren soll, und was. Eins klang wie eine Entschudigung für das andere.
Frau Kochs Tochter Birgit war meine beste Freundin gewesen, von 13 bis 16. Ich durfte manchmal bei ihr in Merkstein übernachten. Ich wohnte damals bei meinen Eltern auf dem Dorf, und das pisselige Merkstein war für mich eine Stadt.
Autos waren wahnsinnig laut, und Betrunkene schrien wie ich es noch nie gehört hatte. Es war mir peinlich, daß alle in der Wohnung mitkriegten, daß ich aufs Klo ging, und Pipi machte, und wie oft.
Morgens saßen Herr und Frau Kochs in Morgenmänteln am Frühstückstisch. So etwas hatte ich noch nie gesehen, in Morgenmänteln! Es gab Strammen Max. Dann sind wir zwei Stunden mit dem Mercedes gefahren, und dann mußte ich kotzen.
Frau Kochs sagte: "Oje, du Arme. Wir halten da hinten an der Brücke an. Da ist ein Geländer."
Ich verstand, daß sie meinte, ich solle auf das Geländer kotzen. Ich fand das seltsam, tat das aber brav. Ich kannte mich ja nicht aus in der großen Welt. Ich selber hätte es sinnvoller gefunden, von der Brücke runter zu kotzen. Aber wenn sie es so haben wollte.
Sie lachte sich kringelig, und ich begriff. Ich fand das Lachen nett von ihr. Ich hab die Szene überlebt. Aber ich finde das Leben sehr, sehr anstrengend.


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Es ist für mich oft solch ein Eiertanz, ein Spießrutenlauf. Die anderen scheinen so sicher zu gehn, auf Eiern, trotz Spießen. Kann man lernen, sagen sie. Aber so war das nicht gemeint.

*

Ich muß jetzt erzählen, wie ich schuldig wurde am Tode zweier armer Kerle.
Hansi und Mausi waren mir aufgezwungen worden. Keiner hatte die beiden Wellensittiche gewollt, weil der eine von ihnen den Flügel gebrochen hatte, und nur durch die Luft auf die heiße Herdplatte trudeln oder hinter den Kohleofen fallen konnte. Es roch schmerzhaft nach verbrannten Hornfüßchen, wenn er es wieder getan hatte.
Wenn sie mich mit der Futtertüte kommen sahen, schrien meine Vögel aufgeregt und flatterten herum wie Teenager bei einem Rockkonzert, wenn ihr Star auf die Bühne kommt.
Aber wenn dann ihr Futter im Käfig lag, rührten sie es nicht an. Sie quetschten sich ängstlich an die Stäbe und äugten aus den Winkeln schüchtern zu den Körnern hin. Oder taten, als sähen sie sie gar nicht, pfiffen gleichgültig, guckten aus dem Fenster, und schaukelten auf der Schaukel. Es dauerte sehr lange, bis der erste sich ein Korn holte, verstohlen, hastig wie ein Dieb.
Ich hab versucht, Zugang zu ihnen zu finden. Ihnen zu vermitteln, daß sie mir leid taten und ich an ihrem Scheißleben nicht schuld war. Ich überlegte oft, ob ich sie nicht freilassen sollte, ein Rausch, und dann frißt sie die Katze oder der Geier.
Aber wir blieben uns fremd. Ich verstehe nichts von Vögeln. Irgendwann vegetierten sie nur noch nebenher. Kriegten Futter, sauber gemacht, das war's. Das war zu wenig. Eines Tages, als mein Freund Kurt und ich heimkamen, sahen wir, daß der Körperbehinderte sich in der Blumengießkanne ertränkt hatte. Ein paar Tage später lag der andre tot im Käfig.

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Rosi, die Frau, die unter mir wohnt, heizt wie der Teufel. Sie macht unser Wasser in den Leitungen warm, und unsere Wände sind so heiß, bald fängt die Tapete an, zu brennen, und der Boden sackt durch, und ich falle in Rosis Wohnung, und muß mein Leben lang Likör trinken und fernsehgucken.
Ich will auch so ein Schlafzimmer im Kontroll-Look wie Rosi, mit Schaltern und Knöpfen am Bett, um alles zu verstellen! Eine Küche wie Schweinebraten. Alt, deutsch, echt, Eiche. Nein. Ich hab nur Quatsch gemacht. Ich bin besoffen. Aber immerhin toll, daß mir nicht schlecht davon wird.
Mir ist mal schlecht davon geworden, vor zwei Jahren, auf einer Fete.
Ich hatte das noch am selben Abend für immer verdrängen wollen, aber mir wurde es doch am nächsten Tag wiedererzählt: daß ich zum Klo getorkelt wäre, und daneben gekotzt und nicht mal dran gedacht hätte, das aufzuwischen.
Ich hab immer gedacht, das Jüngste Gericht käme erst nach dem körperlichen Tod. Die Scham, die Schande. Aber Gott wartet nicht so lange. Gott quält und quält. Ich habe mir seitdem fast zweitausend Jahre lang die Zähne geputzt, aber ich spüre den Makel. Er bohrt ein Loch in alles. Er stellt alles in Frage.
Ich bin der Fliegende Holländer der Kotze.

Ich ging am "Imbiß Futterkrippe" vorbei, und der alte versoffene Hugo winkte mit seinem Krückstock von der anderen Straßenseite, er hatte sich eine Fritte gekauft.
"Eh, was macht der Kurt noch? Hat er noch seine Band?" rief er zu mir rüber.
Ja, das sind so die Geschichten, die man in meiner Heimat Merkstein erlebt. Und das sind noch die Highlights.

Inder Nacht zuckten meine Füße dann erst, und dann lösten sie sich von mir und gingen jeder in eine andre Ecke zappeln. Das geschieht manchmal mit meinen Gliedmaßen nachts. Es macht mir jedesmal Angst, aber etwas Schlimmes ist dabei noch nie passiert. Man sieht es nicht. Das Herz schlägt dabei schnell, wie ein Trommelwirbel bei einer Zirkusattraktion.
Wenn man dann aufsteht und zur Toilette geht, kommt man sich vor wie ein surrealistisches Kunstwerk, mit dem Kopf unter den Armen, den Fingern neben den Ohren, und den Füßen in einer fernen Galaxie. Man erwartet, daß ein abgeschnittener Kopf einen anglotzt, wenn man den Klodeckel aufmacht. Oder daß man, in Scheiben geschnitten, zerfällt wie ein Ei im Schneider. Aber das passiert nicht.

Am Morgen warfen meine Nachbarn wieder ihre Mördersägen an. Meine Füße fingen wieder mit dem Schwitzen an. Sie waren noch dran, oder wieder dran.

Unten auf der Straße bereitete der Junge von nebenan eine Knaller-Attacke auf mich vor. Seine Mutter hörte Heino, in Heavy-Metal-Lautstärke, bei offenem Fenster.
Aus der Wohnung gegenüber schaute ein alter Mann den kleinen Kindern zu beim Spielen, mit todernstem, grauen Gesicht.

Rosi bläkte mit einer Frau, die vor ihrem immer offenen Fenster stehengeblieben war. Sie erzählte ironisch aufgemotzte Sachen von Dieter. Sie spielt immer alles so hoch.
Aber es stimmt, ich hatte es auch gehört. In der Nacht war Dieter, ihr Mann, kurz nach mir aus der Kneipe heimgekommen, und schon auf der Straße hatte er "Pünzjen! Pünzjen!" nach ihr gerufen. Er war so zärtlich und so glücklich vom Saufen, obwohl er krank ist und jeden Tag in einer Fabrik arbeiten muß.
Dann warf er seine neue Stereoanlage an und drehte alle Knöpfe auf.
"You can ring my be-he-hell, ring my bell," sang Anita Ward.
Erst wollte ich wirklich bei ihm klingeln gehen, aber dann dachte ich, der macht das doch bestimmt nicht lang so laut. Nur bis sein Schnitzel halbwegs auftaut und er mit letzter Kraft versucht, das Ding zu essen. Und so war es auch. Aber bis dahin hatte er viel Spaß mit seinem Stereo, und drehte den Lautstärkeregler bis zum Anschlag, wenn die Synthie-Drums mit ihrem "Wuh! Wuh!" einsetzten, das ihn faszinierte. "Wuh! Wuh!" Ich hörte ihn tanzen und mitjaulen. Der verrückte Mensch.

*

Gestern abend kam ein Auto langsam an mich herangerollt und hielt mit mir Schritt. Sein Fahrer steckte den Kopf aus dem Fenster und rief mich leise:
"Hallo, willst du mitfahrn? Komm doch näher. Komm, steig ein."
Sein Auto war neu und sauber. Aber ich dachte, das ist bestimmt ein Triebverbrecher, der da drin sitzt, nachher bist du tot. Man weiß nicht, was noch nachher kommt, und so bleibt man lieber vorsichtig am Leben, das man kennt.
Also sagte ich dem Mann ab.
Ich ging nach Hause und konnte natürlich nicht schlafen.
Ich wünschte mir, das Telefon klingelte, er wär dran und würde schwer atmen. Solche Männer haben Mut. Aber natürlich werden sie abgewiesen.
Sie irren weiter in ihren lüsternen Autos durch die Nacht, unbefriedigt, ruhelos, allein. Niemand steigt zu ihnen ein. Sie müssen sich an einer Tankstelle ein Heftchen kaufen und sich darüber ergießen.-
Aus den dem Sommerabend geöffneten Fenstern in meiner Straße hörte ich die Fernseher in den Wohnungen reden. Die Leute davor konzentrierten sich auf das Wesentliche, das als Licht in ihre Wohnzimmer geschüttet wurde. Die Fernseher wurden ihre Programme los an die Hirne. Da gingen sie dann weiter und vermischten sich mit uralten genetischen Informationen zu einem dicken, nebligen Wahn.
Das gelbe Licht der untergehenden Merksteiner Sonne linste noch einmal scheel über den Tellerrand und wälzte sich dann faul ganz auf die andre Seite.
Eine paranoide Amsel warnte unablässig vor Gefahren.
Von den fernen Feldern brüllte eine Kuh vor Schmerzen, vor Geilheit.
Kuh, es ist schwer. Ich weiß, ich ziehe solche Männer an wie den im Auto grade. Sie sitzen auf Bänken, an denen ich an warmen Tagen vorbeispaziere, und machen sich die Hosen auf, wenn sie mich sehen. Sie streicheln sich und schauen mich dabei an. Ich tue, als sähe ich es nicht, aber das ist doch absurd: Achtlos vorbeigehen an Reihen von Männern, die mir mit ihren Erektionen salutieren.
Es gab in Merkstein einen Mann, der zog sich eine Eselsmaske an, und er kletterte nachts an den Häusern hoch, und brach in die Wohnungen ein, in denen eine Frau allein war. Ihm war es egal, wie die Frauen aussahen, und wie alt sie waren. Er brach einfach überall ein. Ich finde das gut, was der Mann da gemacht hat. Ich finde das gut.
Ich schaltete das Radio ein.
"Heute passiert's! Heute passiert's! Heut zeig ich ihr, was ich kann!" sang Peter Rubin drohend und wild in "Musik zum Träumen", WDR 4. Aber wann ist das denn: 'Heute', Peter? Das war schon. Du hast es verpaßt. Howard Carpendale war geknickter und bescheidener.
"Ich geb mir selbst ne Party, eine einsame Party. Und ich trinke mein Glas leer. Und ich träum, daß es schön wär, würde heut nacht aus der Party allein eine Party zu zwein."
Ich machte meine Wasserfall-Lampe an. Es sind die Viktoria-Fälle drauf, glaube ich. Drauf gemalt, und dahinter bewegt sich was, eine Folie mit Wellen. Je heißer die Birne wird, umso schneller bewegt sich die Folie, und der Fall schwillt an und sprudelt, jedoch alles nur innerhalb des Lampenschirms, es ist alles nur Illusion.

Vielleicht kommt nach dem Tod erst die richtige Zeit für mich, in der die Leichen übereinander herfallen wie Krokodile, und sich gegenseitig voller Ernst und Abgrund vergewaltigen.-

Rumpelstilzchen kann nicht aufhören, seinen Namen zu nennen, und zu tanzen, um sein Haus, sein heißes, kleines Haus. Und Schlampi hört nicht auf, zu spielen. Im dunklen Wald, wo Schlampi haust, spielt sie mit Ideen wie mit Puppen, die sie auszieht, und nackt aufeinanderlegt.

Ich will meinen Kopf ablegen wie einen Helm. Dann werden die Jungen mit ihm Fußball spielen. Sie werden ihre Schwänze in den Mund meines Totenschädels stecken, und ich werde nicht beißen; ich bin lieb bis an mein finsteres Ende.

*

Ich hab ihn nicht mehr wiedergesehen, den Mann mit dem Auto, mit dem ich nicht weggefahren bin. Das Leben hatte keinen Bock mehr. Es fand, es sei genug.
Das macht es mit vielen Sachen so. Sie fangen an, laufen schief, werden schwach, bleiben dahingestellt. Es ist nicht so, wie ich es mir als Kind vorgestellt habe. Es wurde immer zu viel Reklame für das Leben gemacht.
Und jetzt weiß keiner mehr, wie's wirklich ist.

*

Eigentlich möchte ich immer nur so bleiben wie ich jetzt hier liege, hier im Gras. Doch das geht nicht. Ich müßte Angst haben, daß ich sterbe. Weil ich so kein Geld verdienen würde. Aber man stirbt auch, wenn man Geld verdient.
Die Adler würden mir die Leber aus dem Bauch picken.
Nichts gegen Adler.
Nichts gegen Leber.
Aber Leben? Was ist damit? Was soll damit sein?
Wo ich heute mit dem Fahrrad war, das ist der westlichste Teil von Deutschland, der Selfkant. Es gibt da ein Tiergehege mit Löwen, genannt die "Löwen-Safari". Auf dieser Safari hat einmal ein Indianerhäuptling gearbeitet. Sie haben in der Zeitung über ihn berichtet. Er wollte zurück zu seinem Stamm, wenn er genug Geld verdient hätte. Doch jetzt ist er tot.
Er ist von einem Auto überfahren worden.

*

Der Forsythienstrauß blüht in stiller Pracht in der blauen Vase.
Zwei alte Männer gehen an der chemischen Reinigung vorbei und reden ganz laut:
"Eine Fistel am Steißbein ?"
Dann sind sie weg.